19

 

Ohne den Schutz ihrer eigenen Familie war die Gouvernante sexuellen Annäherungen ausgesetzt.

Kathryn Hughes, The Victorian Governess

 

An ihrem nächsten Halbtag spazierte Olivia über den frischen Schnee auf dem Waldweg. Es war nicht genug Schnee gefallen, damit die Kinder damit spielen konnten, sondern es lagen nur eine pulvrige Schicht auf dem Boden und ein dicker weißer Belag auf Ästen, Büschen und Beeren. Grasbüschel und rote und gelbe Blätter schauten unter der weißen Glasur hervor. Sie erinnerten Olivia an einen mit Zuckerguss überzogenen Kuchen aus getrockneten Früchten und Nüssen.

Olivia folgte dem Waldweg weiter – in die entgegengesetzte Richtung von Croomes Hütte. Angezogen vom plätschernden Flüstern fließenden Wassers verließ sie dann den Pfad und ging dem Geräusch nach. Sie sah zwei Wasseramseln am Flussufer, die ihre Köpfe in typischer Weise auf und ab bewegten und ins Wasser tauchten. Eine Waldschnepfe, aufgestört durch ihr Erscheinen, durchpflügte die Luft mit hektischen Flügelschlägen und schwirrte davon.

Olivia wischte den Schnee von einem umgefallenen Baumstamm in der Nähe des Flussufers und setzte sich. Wie friedlich es war. Sie legte den Kopf in den Nacken und genoss die ungewöhnlich warme Sonne, die den Schnee leider bald zum Schmelzen bringen würde.

Während sie dort saß, wurde Olivia bewusst, dass sie das Ende ihrer dreimonatigen Probezeit erreicht hatte. Lord Bradley würde ihr jetzt erlauben zu gehen, hatte sein Vater gesagt. Der Gedanke, diesen Ort zu verlassen, brachte jedoch keine Erleichterung, sondern eher Unsicherheit mit sich. Allmächtiger Gott, zeig mir, was ich tun soll … Sie hätte gern nachgeforscht, wo ihre Mutter war und wie es ihr ging, doch Dorothea Keene hatte Olivia angefleht, nicht zurückzukommen – hatte darauf bestanden, dass sie nach ihr suchen würde, sobald es sicher war. Aber warum war sie nie aufgetaucht? War ihr etwas zugestoßen oder hatte sie sich fern gehalten, um den Wachtmeister – oder Simon Keene – nicht auf Olivias Spur zu bringen?

Ein weiterer Gedanke überfiel sie. Würde Lord Bradley ihr überhaupt erlauben, länger zu bleiben? Plötzlich hoffte sie sehr darauf. Zumindest hätte sie dann einen Ort, an dem sie leben könnte, während sie wartete, oder bis sie eine andere Anstellung finden würde.

Edward marschierte durch den Wald, sein Gewehr locker in der Hand. Er hatte den Wald weitläufig auf der Suche nach Wildhunden und Wilderern durchstreift und kehrte jetzt zurück, um an seinem Lieblingsplatz am Fluss eine Pause einzulegen. Als er den Kopf in den Nacken legte und durch das kahle Geäst blickte, entdeckte er weit oben am Himmel eine einsame Gans. Er fragte sich, wie das Tier von seinem Schwarm getrennt worden war. Wo wollte es hin? Würde es seinen Weg finden? Umgeben von Schnee und Stille löste der Anblick des Vogels ein schmerzhaftes Gefühl der Einsamkeit bei Edward aus.

Er spürte eine Bewegung in der Nähe. Seine Muskeln spannten sich an und er richtete seine Konzentration wieder auf den Wald. Laub knisterte und eine Waldschnepfe flatterte auf, wobei sie Schnee verstreute. Sicher gab es so dicht am Haus keine Wildhunde.

Dann trat Miss Keene am gegenüber liegenden Ufer in sein Blickfeld. Sie summte leise vor sich hin und setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm in der Nähe des Flusses. Eine Weile lang hielt sie einfach nur ihr Gesicht in die Sonne, die Augen geschlossen, ihr ovales Gesicht eingerahmt von dunklen Locken. Sie war nicht so elegant wie Miss Harrington oder Judith, allerdings fehlten ihr im Gegensatz zu ihnen sowohl Schminksachen als auch edle Kleider und eine Zofe. Trotzdem war Miss Keene schön und besaß – wie Judith mehrmals angedeutet hatte – eine stille Würde, eine damenhafte Anmut. Edward fragte sich erneut, welcher Art das Interesse seines Vaters an dieser Frau war.

Olivia streckte ihre Beine vor sich aus und Edward erhaschte einen kurzen Blick auf einen Strumpf und einen wohlgeformten Knöchel. Er wandte die Augen ab. Es war nicht seine Art, einen heimlichen Blick auf das Bein einer Frau zu werfen. Dies sagte er sich selbst, einmal und ein weiteres Mal.

Schnee begann in dicken Flocken zu fallen. Sie tanzten und schwebten durch die Luft wie Blüten eines Vogelkirschbaums. Er richtete den Blick wieder auf Miss Keene. Sie öffnete den Mund und streckte ihre rosa Zunge aus, um wie ein kleines Mädchen Schneeflocken zu fangen. Er ertappte sich dabei, wie er lächelte. Am liebsten hätte er platschend den flachen Fluss durchquert, um bei ihr zu sein. Er hätte gern ein Lächeln und noch so vieles mehr mit ihr geteilt. Doch zwischen ihnen standen ganz andere Hindernisse als der eiskalte Fluss. Ich bin ein Narr, tadelte er sich selbst. Es wäre ihr zutiefst unangenehm, wenn sie mich sehen würde und wüsste, dass ich sie beobachtet habe.

Er blieb, wo er war, und rief sich in Erinnerung, dass sein Vater die feste Absicht hatte, alles wie bisher weiterzuführen. Er wäre der nächste Earl von Brightwell und würde seinem Stand entsprechend heiraten.

Miss Keene blieb noch einen Moment sitzen, dann erhob sie sich vom Baumstamm. Sie wandte sich vom Fluss ab und streifte sich mit behandschuhten Händen den Schnee von der Hinterseite. Edward beschloss, sich ebenfalls auf den Heimweg zu machen. Vielleicht würde er sie ja an der Brücke von Brightwell einholen.

Olivia war überrascht, Johnny Ross auf der hölzernen Bank am obersten Punkt der Anhöhe sitzen zu sehen. Sie öffnete den Mund, um ihn zu ermahnen, erinnerte sich jedoch im letzten Moment, dass sie eine Stumme spielte, und presste schnell die Lippen aufeinander.

Er hob den Kopf, stand auf und kam den Pfad heruntergestürmt. »Ich hab Sie überrascht, nicht wahr?« Er lachte und legte seine Hände unter ihre Ellbogen. »Ich hoffe schon seit Tagen, Sie mal allein zu erwischen.«

Olivia schüttelte den Kopf, schob sanft seine Hände weg und stapfte weiter den schneebedeckten Hügel hinauf. Sie waren so dicht am Herrenhaus. Wenn jemand sie hier draußen zusammen sah, würde man annehmen, sie und Johnny wären … Und wenn Lord Bradley sie sah, würde Johnny seine Stellung verlieren.

»Ach, kommen Sie schon«, bedrängte er sie und verfiel in leichten Trab, um sie einzuholen. »Setzen Sie sich wenigstens eine Weile lang mit mir auf die Bank. Ich hab den Schnee abgewischt.«

Er fasste sie am Arm und zog sie neben sich auf die Bank. Sie rutschte an den Rand und atmete tief durch. Sie wollte seine Gefühle nicht verletzen, ihn jedoch auch nicht ermutigen.

»Livie, Sie wissen doch, dass ich verrückt nach Ihnen bin, nicht wahr? Wollen Sie mir kein Zeichen Ihrer Zuneigung geben?«

Ach, wie frustrierend das war! Wie konnte sie ihm ihre Gefühle erklären, ohne zu sprechen? Einfach nur den Kopf zu schütteln, erschien ihr so unzureichend.

Johnny nahm ihr Zögern zum Anlass, sie durch Taten zu überzeugen. Er fasste sie ungeschickt an den Schultern und beugte sich vor, um sie zu küssen.

Als Olivia das Gesicht abwandte, erhaschte sie einen Blick auf Lord Bradley, der auf dem Pfad stand, und das sofortige Gefühl der Beschämung verwandelte sich in Irritation, als sie seine arrogante Haltung bemerkte. Einen Moment lang war sie versucht, den Kopf zu drehen und Johnny zu küssen, damit der hochmütige Herr sah, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern ließ. Aber sie wusste, dass es unfair wäre, Johnny auf diese Weise zu benutzen. Sekundenlang hielt sie Lord Bradleys kaltem Blick über Johnnys Schulter hinweg stand. Sie wollte nicht als Erste die Augen senken. Sie hatte nichts getan, dessen sie sich schämen müsste.

Johnny zog sie dichter an sich und murmelte: »Komm schon, Livie, nur ein Kuss. Du musst kein Wort sagen …« Sein vom Rasieren stoppliges Kinn streifte ihre Wange, als er sein Gesicht näher an sie heranschob.

Mit dem letzten Rest Selbstbeherrschung schaffte Olivia es, den Mund zu halten. Sie versuchte, sich aus seiner Umarmung zu lösen, doch der Stallknecht war kräftig. Würde Lord Bradley einfach nur dastehen? War er denn kein Gentleman?

Sie dachte: Ich darf kein Wort sagen, was? Ich bin aber drauf und dran, es zu tun! Olivia wand sich in Johnnys Armen und öffnete ihren Mund, um sich sehr deutlich über das schlechte Benehmen beider Männer zu äußern.

Ein Schuss zerriss die Luft. Johnny sprang auf die Füße, wodurch Olivia von der Bank rutschte und zu Boden fiel. Sein Gesicht verlor alle Farbe, als er sich ruckartig umdrehte und Lord Bradley nur wenige Meter entfernt stehen sah, das Gewehr in der Hand.

Mit finsterem Gesicht schritt Lord Bradley zielbewusst auf sie zu. »Zurück zum Stall, Ross«, befahl er, während er sich über Olivia beugte und eine Hand ausstreckte, um ihr beim Aufstehen zu helfen. Sie ignorierte es und kämpfte sich allein auf die Füße. Ihre Wangen brannten vor Empörung.

Johnny blieb kurz stehen und murmelte ein schwaches: »Tut mir leid, Miss« in ihre Richtung, ohne ihrem Blick zu begegnen. Dann beeilte er sich, den Pfad entlangzulaufen und aus ihrem Blickfeld zu verschwinden.

Sobald er außer Hörweite war, zischte Olivia: »Das hätten Sie nicht tun müssen. Ich wäre auch allein mit ihm fertig geworden.«

»Es sah nicht danach aus.«

»Vielleicht hat Ihr Eindruck Sie getäuscht. Vielleicht tut es mir leid, dass Sie uns gestört haben.« Sie sah, wie er zauderte und die Kiefer fest zusammenbiss.

Er antwortete in kaltem Ton: »Dann müssen Sie mein Verhalten entschuldigen. Wenn Sie und Ihr Liebhaber privat zusammenkommen möchten, dann empfehle ich Ihnen, sich einen weniger öffentlichen Treffpunkt zu suchen. Wenn Hodges Zeuge dieser kleinen Szene geworden wäre, würde Ross in diesem Moment seine Sachen packen. In der Zwischenzeit sollten Sie zum Haus zurückkehren. Es ist nicht sicher für Sie, allein im Wald draußen zu sein.«

»Ich bin vollkommen in Sicherheit.«

»In der Nähe von Barnsley sind Wildhunde gesehen worden, Miss Keene. Niemand kann garantieren, dass sie nicht auch hier auftauchen.«

»Sie wollen mir nur Angst einjagen.«

»Sie sollten tatsächlich Angst haben. Sie haben dieses Mal Ihren Stock nicht dabei.«

Sie starrte ihn an, verblüfft über diese Anspielung auf ihre erste Begegnung. Er hatte sie also doch von der Jagd erkannt. Gut. Vielleicht würde er sich auch erinnern, wie grob er und seine Freunde sie behandelt hatten.

»Ich weiß Ihre Sorge zu schätzen«, gab sie kühl zurück. »Aber ich bin sicher, Sie haben Wichtigeres zu tun, als mich zu beschützen.«

»Da haben Sie recht. Deshalb – ich wiederhole mich – sollten Sie zum Haus zurückkehren. Auf der Stelle.«

»Mein Spaziergang ist noch nicht zu Ende.«

»Dann spazieren Sie nach Herzenslust in Sichtweite des Hauses.«

»Ich werde dort spazieren, wo es mir gefällt.«

»Sie vergessen, wer Sie sind.«

»Und Sie vergessen Ihr Versprechen, dass ich meinen Halbtag so verbringen darf, wie ich es möchte. Und Ihre Pflicht als Gentleman, mich wie ein menschliches Wesen zu behandeln.«

»Obzwar ein Eindringling.«

»Sie werden mir nie erlauben, meinen Fehler zu vergessen, nicht wahr? Vergeben und vergessen gibt es nicht in Ihrem Wortschatz. Ich habe mich mancherlei Dinge schuldig gemacht, aber ich sage Ihnen ein für alle Mal: Ich bin weder eine Spionin noch eine Diebin. Törichterweise habe ich Ihr Land unerlaubt betreten, ja, aber lieber bin ich ein Eindringling als eine arrogante, gefühllose und unhöfliche Person wie Sie!«

Sie kehrte ihm den Rücken zu, um nicht zuzulassen, dass er ihre Tränen sah.

»Miss Keene!«, wies er sie zurecht.

Sie spürte seinen bohrenden Blick im Rücken, weigerte sich jedoch, sich umzudrehen.

Er hob die Stimme. »Miss Keene!«

Sie blickte ihn über die Schulter an. »Ich bin nicht taub, Sir«, schnaubte sie. »Nur stumm.« Und damit hob sie ihre Röcke und rannte den Pfad hinunter, tiefer in den Wald hinein, wobei sie ihr Schluchzen unterdrückte.

Edward sah ihr nach und bemerkte mit einem prickelnden Gefühl der Kälte, dass sie ihn zum ersten Mal nicht mit seinem Ehrentitel angesprochen hatte.

Mit einem tiefen Seufzer setzte er sich auf die Bank und vergrub das Gesicht in beiden Händen. Ihre Worte hallten in seinem Kopf wider und sein Inneres brannte.

In einem Punkt hat sie unrecht, dachte er. Ich bin nicht gefühllos. Ich fühle. Ich fühle sehr viel.

Als Edward sie mit Ross gesehen hatte, war er ärgerlich gewesen – aber er wusste, dass dieses Gefühl wenig mit der Tatsache zu tun hatte, dass Liebesbeziehungen zwischen Dienstboten nicht geduldet wurden. Hodges hatte in der Vergangenheit so einige amouröse Diener und Dienstmädchen entlassen.

In Wirklichkeit war er von rasender Eifersucht erfüllt gewesen, so unlogisch das auch war. Eifersüchtig … weil jemand einem zweiten Kindermädchen den Hof machte? Er hatte sich nie zuvor zu einem der Dienstmädchen hingezogen gefühlt, nicht einmal für eine leichte Liebelei, wie Felix sie pflegte. Ach, wie sind die Helden gefallen.2

Als Ross sich vorgebeugt hatte, um Miss Keene zu küssen, war es Edward siedend heiß geworden. Er wusste, er sollte sich umdrehen und leise weggehen – und den Stallknecht Hodges überlassen.

Aber ich weigere mich, mich schuldig zu fühlen, dachte er. Hat sie mich nicht auch belauscht?

Doch statt Ross' Kuss zu erwidern, hatte Miss Keene den Kopf weggedreht. Das Aufblitzen ihrer Augen über Ross' Schulter verriet ihm, dass sie ihn dort gesehen hatte und nicht erfreut war. Trotzdem hatte er mit Erleichterung beobachtet, dass sie dem Kuss des Mannes ausgewichen war.

Bedauern erfüllte ihn jetzt, als er sich ihr Streitgespräch noch einmal in Erinnerung rief. Was tue ich nur? Er saß da und versuchte, seine aufgewühlten Gedanken und Gefühle zu ordnen. Er wusste, dass er kein Recht hatte, sie länger hierzubehalten, und dass es keinen anständigen Weg gab, ihr Schweigen zu garantieren. Er sollte sie gehenlassen.

In mehr als einer Hinsicht.

Er hörte einen schrillen Schrei in der Ferne und wusste sofort, wem die Stimme gehörte. Er sprang auf, griff nach seiner Waffe und stürmte den Pfad hinunter.

»Weg! Weg mit euch! Hilfe … Lord Bradley!«

Ihre panischen Schreie beschleunigten seine Schritte. Äste knackten, als er sich einen Weg durchs Unterholz bahnte, um in ihre Nähe zu gelangen. Bellende und knurrende Geräusche erreichten ihn und versetzten ihn in Angst. Wildhunde … Er rannte weiter und versuchte beim Laufen sein Gewehr zu laden.

Als er um die Kurve kam, erfasste er die Szene augenblicklich. Es waren drei Hunde. Einer war drauf und dran, sich im nächsten Moment auf sie zu stürzen. Edward schlug das Patronenlager zu und hob die Flinte. Zu spät … Der Hund befand sich schon in der Luft, die Zähne gefletscht. Der Moment verlangsamte sich zu einem Albtraum. Er sah ein Aufblitzen, hörte einen scharfen Knall und die flammenden Augen des Hundes verblichen zu einer grauen Leere, als der Köter leblos auf dem Boden auftraf.

Doch Edward hatte noch nicht geschossen.

Er wandte den Kopf und sah Croome mitten im Geäst stehen, den Arm ausgestreckt und ruhig, während es aus der Vogelflinte noch rauchte. Bevor Edward reagieren konnte, duckte sich der zweite Hund zum Angriff. Mit einem Knall fuhr sein eigener Schuss durch den Hund, als er sprang. Olivia kreischte, als er vor ihren Füßen zu Boden prallte. Bevor Edward nachladen konnte, stieß sich der dritte Hund ab, vergrub seine Zähne in Olivias Röcken und riss heftig daran. Die Füße wurden ihr unter dem Körper weggezogen und ihr Kopf traf beim Fallen hart auf dem Boden auf. Edward sah, wie Croome wieder die Flinte hob und ihre Augen trafen sich. Croome schoss nicht. Warum schoss der Mann nicht? Aus Angst, sein eigener Schuss könnte fehlgehen und Miss Keene treffen, stürmte Edward vor und versetzte dem Hund einen Schlag mit dem Gewehrkolben. Er stieß einen Schrei aus und schlug ein weiteres Mal zu. Schließlich lockerte der Hund seinen Biss und verzog sich. Croomes Schuss jagte ihm im Wald nach.

Edward rannte zu Olivia, die still und reglos dalag.

»Miss Keene? Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Miss Keene?«

Sie zeigte keine Reaktion. Er drückte seine bebenden Finger an ihren Hals und konnte einen Puls ausmachen. Sanft drehte er sie an einer Schulter, um ihren Hinterkopf zu untersuchen. Ein scharfkantiger Stein lag unter ihr, blutverschmiert.

Als er den Kopf hob, fiel sein Blick auf einen der beiden toten Hunde. Die ausdruckslosen Augen des Hundes waren wässrig. Seine Zunge war geschwollen. Schaumiger Geifer sammelte sich unter seinem Maul. Edwards Herz pochte dröhnend und ihm wurde eiskalt. Er betete darum, dass der entwichene Köter nur in ihre Röcke gebissen hatte, nicht in ihr Fleisch. Er riss sich die Jacke vom Leib, faltete sie zu einem Bündel und schob sie ihr als Polster unter den Kopf, als er ihn sanft zurücklegte. Am Rande seines Bewusstseins nahm er wahr, dass Croome die Kadaver aus dem Weg zog. Edward kroch zu Miss Keenes Füßen und hob ihre Röcke gerade so weit, wie es nötig war. Er zuckte zusammen. Ein kleines Stück unter dem Knie tröpfelte Blut rot durch den Strumpf. Oh Gott, nein …

Er erinnerte sich nur zu gut an die Geschichten seines Vaters, wie die Tollwut in seiner Jugendzeit in London gewütet hatte. Nutztiere und Menschen waren zu Hunderten gestorben und Jungen konnten sich fünf Schilling mit jedem Hund verdienen, den sie töteten. Die Angriffe tollwütiger Hunde und Füchse waren in den letzten Jahren nicht mehr so häufig gewesen, aber die Krankheit – und die Furcht davor – hatte England nie verlassen.

Edward schob den Strumpf nach unten und betrachtete die Wunde. Der Biss schien nicht tief zu sein; der dicke Stoff ihrer Röcke hatte das Biest zweifellos gehindert, richtig zuzupacken. Er warf ihren Schuh zur Seite, riss hastig den Strumpf von ihrem Bein, wickelte ihn oben um den Unterschenkel und zog ihn möglichst fest zusammen. Croome tauchte wieder auf und überwachte sein Vorgehen mit wortloser Zustimmung. Der alte Mann zog sein Jagdmesser aus der Scheide, entkorkte seinen Flachmann, schüttete etwas von dem Brandy über das Messer und reichte ihm die Flasche. Edward bespritzte die Wunde mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Croome hielt ihm das Messer hin, aber als Edward zögerte, ließ sich der Alte ächzend auf die Knie nieder und schnitt die verwundete Stelle kurzerhand auf. Olivia stöhnte, kam jedoch nicht zu Bewusstsein. Als die Blutung sich verstärkte, spülte sie Edward mit weiterem Brandy weg. Er wusste nicht, ob all das helfen würde, aber was hätte er sonst tun sollen? Erneut begegnete er Croomes Blick aus den tiefen Augenhöhlen, unter wilden grauen Augenbrauen. Der stets finstere Gesichtsausdruck des Mannes machte ihm keine Hoffnung.

Edward nahm Olivia auf seine Arme und trug sie so schnell er konnte den Pfad hinauf. Croome folgte ihm nicht. Als er den Rasen am Haus erreichte, sah er Talbot und Johnny, die mit einem neuen Pferd beschäftigt waren.

»Talbot!«, brüllte er. »Schicken Sie Ross auf Ihrem schnellsten Pferd zu Dr. Sutton. Miss Keene ist verletzt worden.«

»Verletzt?«, fragte Johnny mit besorgtem Blick.

»Tollwütige Hunde«, stieß Edward hervor.

Der junge Mann wurde blass und konnte es nicht eilig genug haben, sich auf den Weg zu machen.

Das Schweigen der Miss Keene
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