15

 

Wir hatten zwölf Tänze und fünf, sechs oder sieben Paare. Dann spielten wir eine Runde Jag den Schuh und beendeten den Tag mit Sandwiches und Törtchen … Ich darf nicht unerwähnt lassen, dass die Kleinen sich herausputzten wie üblich und Weihnachtslieder sangen.

Fanny Austen Knight, Christmas Eve, 1808

 

Am Weihnachtsmorgen stand Olivia auf und nahm ein gemütliches Frühstück in ihrem Zimmer zu sich, während Becky die Kinder allein badete und anzog, als Entschuldigung dafür, dass sie am Abend zuvor einfach verschwunden war. Olivia fragte sich, wo ihre Mutter wohl den Tag verbrachte, und hob ihre Teetasse in einem stillen Weihnachtsgruß.

Wieder betrachtete sie das dunkelblaue Kleid, das an ihrer Tür hing. Sie würde es tragen, beschloss sie, und stand auf, um sich anzuziehen. Das Kleid passte ihr gut, obwohl sie schlanker als Mrs Howe war. Sie nahm an, dass die Frau vor ihrer Schwangerschaft mit Alexander dünner gewesen war. Um dem Kleid eine persönliche Note zu geben, legte Olivia ihre neue Spitzenpelerine – ein Weihnachtsgeschenk von Mrs Moore – als Kragen an.

Als sie ins Kinderzimmer trat, mühte sich Becky gerade mit Audreys Haar ab, also bürstete und frisierte Olivia es selbst. Audrey trug einen neuen pelzgefütterten Mantel über einem bedruckten Musselinkleid. Andrew hatte seine lange Sonntagshose, eine Weste und eine neue grüne Jacke an.

Olivia begleitete die Kinder ins Frühstückszimmer hinunter, wo sie sich vor dem Kirchgang zu den Erwachsenen gesellen sollten.

Nach der Rangelei am Vorabend war Olivia erleichtert, dass Felix offensichtlich fehlte. Auch Miss Harrington war nicht anwesend, obwohl sie mehrere Tage in Brightwell Court bleiben sollte.

Auf der Anrichte stand eine Weihnachtsschachtel für jedes Kind. Als Audrey ihre öffnete, wurden ihre Augen beinahe so groß wie die Münzen darin. »Zwei Guineas!«

»Wir sind reich!«, rief Andrew und hielt seine Münzen in die Höhe.

»Alexander hat seine Schachtel auch bekommen«, erklärte Judith. »Aber da er versucht hat, die Münzen zu essen, werde ich sie für ihn aufheben, bis er älter ist.«

Lord Bradley legte beiden Kindern eine Hand auf den Kopf und fügte mit warmer Stimme hinzu: »Das Geld ist von Lord und Lady Brightwell. Sie haben es extra für euch bereitgelegt, bevor sie abgereist sind.«

»Ach … Weihnachten in Rom«, seufzte Judith. Dann drehte sie sich zu Olivia um, die an der Tür wartete, die Mäntel der Kinder im Arm. Sie musterte ihre Gestalt von Kopf bis Fuß. »Sie sehen heute sehr gut aus, Miss Keene«, sagte sie.

Verlegen lächelte Olivia und machte einen Knicks.

Auch Lord Bradley betrachtete sie eingehend, doch seine Miene war undurchdringlich. Olivia war erleichtert, dass Mrs Howe ihrem Cousin und dem anwesenden Osborn nicht verkündete, dass Olivia ein abgelegtes Kleid von ihr trug.

Felix stolperte mit zerzaustem Haar und einer Andeutung von rötlichen Stoppeln am Kinn ins Zimmer. Dem jungen Mann hatte der Alkoholgenuss am Vorabend nicht gut getan. Olivia kannte die Anzeichen – die grünlich-blasse Gesichtsfarbe, den hohläugigen Blick. Sie bemerkte auch sein dunkel angelaufenes Augenlid, was sie ebenfalls aufs Trinken zurückführen konnte, indirekt zumindest.

Judith Howe begrüßte ihren Bruder fröhlich. »Guten Morgen, Felix. Mrs Moore hat Früchtekuchen gemacht, dein Lieblingsessen.«

»Ich will nichts weiter als Kaffee.«

»Was ist mit deinem Auge passiert?«, wollte Lord Bradley wissen.

»Ach«, Felix warf Olivia einen unmerklichen Seitenblick zu, »ich … äh … ich bin im Dunklen gegen ein unerwartetes Hindernis gestoßen.«

Er goss sich mit nicht gerade ruhigen Händen eine Tasse Kaffee ein. »Nach Kaffee, ein paar zusätzlichen Stunden Schlaf, einem Bad und einer Rasur werde ich wieder ganz der Alte sein. Ich werde es leider nicht schaffen, mit in die Kirche zu kommen, fürchte ich.« Er rührte den Zucker in seinem Kaffee um. »Ich würde an eurer Stelle auch nicht auf Miss Harrington warten. Ihrem Vater zufolge betreten ihre kleinen Füße an den seltensten Tagen den Boden vor zwölf Uhr.«

Als das Frühstück beendet war, fuhren Mrs Howe, Lord Bradley und die Kinder mit der Kutsche die kurze Entfernung die Ausfahrt hoch und an der hohen Mauer entlang, die Brightwell Court von St. Mary’s trennte. Froh, dass sie den Gottesdienst besuchen durfte, ging Olivia zu Fuß neben Doris her, zusammen mit einer Handvoll von Dienern, deren Pflichten für diese Zeit ruhen konnten.

Von der Eingangshalle der Kirche aus folgte Olivia Dory nach oben zur Galerie, um ihren Platz bei den anderen Dienern einzunehmen. Sie hatte noch nie auf einer Galerie gesessen. Zu Hause saßen sie und ihre Mutter immer im Hauptraum der Kapelle, zusammen mit der kleinen Gruppe der Kirchenmitglieder, die sonntags den Gottesdienst besuchten. Ihr Vater gehörte nicht dazu.

Doris klopfte ihr aufs Knie und sie ließen sich für den Gottesdienst nieder. Auf der Galerie herrschte ein Gefühl der Kameradschaft. Die Diener aus verschiedenen Häusern, die sich nur gelegentlich am Sonntag und sonst kaum einmal sahen, begrüßten sich gegenseitig mit stillem Lächeln. Unter manchen Hausmädchen und Stallknechten wurde auch gezwinkert, und es gab da und dort freundliche Stöße in die Rippen. Olivia merkte schnell, dass Doris nur zur Kirche ging, um mit Dienern zu flirten, denen sie sonst nicht begegnen würde. Dieses Mädchen war wirklich wild auf Männer.

Unter ihnen, in der zweiten Kirchenbank von vorne, sah Olivia Lord Bradley zwischen Audrey und Andrew stehen. Neben Audrey stand Judith in schwarzem Mantel und schwarzem Hut mit einem Halbschleier aus hauchdünner silberner Spitze. Alexander war zu jung, um sich in der Kirche ruhig zu verhalten, man hatte ihn zu Hause bei Miss Peale gelassen. Olivia fragte sich, wie es Andrew gelingen würde, so lange still zu bleiben. Er sah völlig anders aus als sonst, wie er dort in seinem Sonntagsmantel herumzappelte, die braunen Haare glatt gekämmt. Audrey dagegen stand ruhig und anmutig da mit ihrer Haube, dem Kleid und den Handschuhen. Lord Bradley hielt sie an der Hand. Sie wirkten wie eine Familie – Ehemann, Frau und Kinder. Würden sie das eines Tages tatsächlich werden, wenn Judiths Trauerzeit zu Ende war?

Mr Tugwell hielt eine erstaunlich kurze Predigt. Er sagte, nur der Gedanke an das prächtige Fest, das ihn erwartete, könne seine Zunge an einem so herrlichen Tag zum Schweigen bringen. Er erinnerte die Gemeinde daran, dass seine gute Schwester und er wieder den jährlichen Tag des offenen Hauses abhielten und dass alle eingeladen seien, zu einem Essen vom Büffet vorbeizuschauen.

Am Ende des Gottesdienstes stand Olivia auf und warf erneut einen Blick auf Lord Bradley und die Howes hinunter, die sich erhoben, ihre Sachen sammelten und ihren Nachbarn zulächelten. Lord Bradley schüttelte dem Mann hinter ihm über die Kirchenbank hinweg die Hand. Als sich der Mann umdrehte, zuckte Olivia zusammen. Das Profil des Mannes kam ihr bekannt vor. Sie war ihm schon einmal begegnet. Der Mann schaute zur Galerie hinauf und Olivia wandte schnell den Kopf und hoffte, dass die Haube ihr Gesicht verdecken würde. Sie wollte nicht erkannt werden – sie durfte nicht erkannt werden. Wer war der Mann? Sie wollte noch einmal einen Blick auf ihn werfen, traute es sich jedoch nicht. War es jemand aus ihrer Gegend? Jemand aus Withington, der hier Verwandte oder Freunde besuchte? Es war jemand, der Lord Bradley kannte … Olivias Herz pochte heftig und sie hoffte, der Mann würde ihnen nicht nach Brightwell Court folgen, um dort das Weihnachtsessen mit der Familie einzunehmen.

Olivia gab vor, etwas in ihrem Pompadour zu suchen, und winkte Doris, vorauszugehen. So gelang es ihr, die Galerie als Letzte zu verlassen. Wie sie gehofft hatte, war der vertraut wirkende Herr – wie fast alle anderen – bereits weg.

An der Tür tauschte Mr Tugwell gute Wünsche oder Weihnachtsgrüße mit den letzten Mitgliedern seiner Gemeinde aus, während sie nach und nach ins Freie traten. Miss Tugwell stand dicht neben ihm und verteilte kleine Beutel, die mit Stoffstreifen zugebunden waren. Wie großzügig. Sie bemerkte, dass Miss Tugwell jede Person musterte, während sie das Geschenk überreichte. Als sie Olivias neues Kleid in Augenschein nahm, flüsterte sie: »Sie brauchen keinen Weizen, nehme ich an, Miss Keene?«

Olivia dachte an Mr Croome, deshalb nickte sie und streckte ihre Hand aus.

Augusta Tugwell beachtete sie nicht. »Was für ein törichter Gedanke in diesen Zeiten. Wenn ich bedenke, was Weizen kostet!«

Mr Tugwell schaute zu ihnen herüber. Sein Blick wanderte von Olivias ausgestreckter Hand zu dem Beutel, den seine Schwester umklammert hielt. »Schwester, Miss Keene wartet auf ihr Geschenk.« Er lächelte Olivia an, während Augusta Tugwell nur die Nase rümpfte und ihr den Beutel überließ.

Ornament

 

Edward kam es töricht vor, wie nervös er darauf wartete, dass seine jungen Verwandten ihre Geschenke öffneten. Er hoffte auf jeden Fall, Miss Keene hätte recht und Audrey würde das Puppenhaus gefallen, auch wenn sie kein kleines Mädchen mehr war.

»Erwartet nicht zu viel«, sagte er. »Das sind nur Sachen, die ich in der Schreinerwerkstatt gebastelt habe. Nichts Neues aus den Londoner Läden, fürchte ich.«

Miss Harrington saß in perfekter Haltung im Sessel neben seinem. Sie wirkte erfrischt und elegant in ihrem primelgelben Kleid mit dem weißen, in den Ausschnitt gesteckten Tuch. Felix hatte es sich entspannt auf dem Sofa bequem gemacht. Sein Blick war auf jeden Fall klarer und er wirkte gepflegter als am Morgen. Judith hatte sich ans andere Ende des Sofas gesetzt, sie hatte den kleinen Alexander vor sich. Er konnte schon allein sitzen, aber so hatte er seine Mama in der Nähe, damit sie ihn auffangen konnte, falls er umkippte.

Judith legte Edwards verpacktes Geschenk vor den kleinen Jungen hin, aber Alexander schien sich mehr für die silbernen Spangen an den Schuhen seiner Mutter zu interessieren. Judith riss das feste Papier für ihn auf und es kam ein Sortiment von Bauklötzen zum Vorschein, in die jeweils ein Buchstabe, eine Zahl und ein Tier eingeschnitzt waren.

»Schau, Alexander. Dein Cousin Edward hat so schöne Bauklötze für dich gemacht.« Sie hielt einen in die Höhe. »Was für ein entzückender Fuchs, Edward. Ich bin beeindruckt. Schau, Alexander, F für Fuchs. Und dieser hier ist mit einem E und einer sehr hübschen Ente.«

Edward starrte auf die Klötze, als Judith sie anpries, immer noch genauso verblüfft, wie er es gewesen war, als sie paarweise wieder in der Werkstatt aufgetaucht waren. Er hatte einfach Zahlen und Buchstaben hinein geschnitzt. Aber jetzt trugen sie dazu noch detaillierte Bilder von Tieren.

Hatte Miss Keene die Klötze verziert, wie sie auch die Kissen und Gardinen so geschickt angefertigt hatte? Wenn ja, hatte sie nie ein Wort darüber verloren. Irgendwie konnte er sich Miss Keene nicht mit einem Schnitzmesser vorstellen. Aber wer sonst hätte es sein können?

»Haben Sie die wirklich selbst gemacht?«, fragte Miss Harrington.

Edward zögerte. »Beim Schnitzen hatte ich Hilfe.«

Felix hob die Hände. »Mich brauchst du nicht anzuschauen.«

»Ein anonymer Weihnachtswichtel«, sagte Edward trocken.

Ohne auf eine Aufforderung zu warten, riss Andrew das Papier von seinem länglichen Päckchen. »Du liebe Zeit!«, rief er und imitierte dabei seinen Onkel Felix.

»Andrew, das ist kein gutes Benehmen«, ermahnte ihn Judith.

Aber der Junge achtete nicht auf sie. »Ein brandneuer Cricketschläger! Und ein Ball ist auch dabei.« Er hob den Ball, als wolle er ihm einen tüchtigen Schlag versetzen.

Edward hielt ihn schnell an seinen kleinen Armen fest. »Das ist ein Geschenk für draußen, junger Mann.«

»Och, aber es ist Winter!«

»Wir ziehen uns morgen warm an und probieren den Schläger aus, in Ordnung?«

Verdrießlich bohrte Andrew seine Schuhspitze in den Teppich. »In Ordnung …«

»Bin ich jetzt an der Reihe?«, fragte Audrey leise und blickte schüchtern zu ihrem Cousin hoch.

Edward nickte. Er spürte, wie seine Handflächen feucht wurden, als er beobachtete, wie Audrey vorsichtig begann, an dem Tuch zu ziehen, das ihr Geschenk bedeckte.

»Ich fürchte, ich hatte nicht genug Papier, um es einzupacken.«

Langsam zog Audrey das Tuch zu sich.

»Zieh einfach einmal kräftig, Audrey!«, schlug Andrew vor. »Soll ich dir helfen?«

»Lass deine Schwester in Ruhe, Andrew«, ermahnte ihn Judith.

Bitte, schenk, dass es ihr gefällt, dachte Edward. Fast wünschte er sich, die gebildete, elegante Sybil Harrington wäre nicht anwesend, um Zeuge seines Versagens zu werden, falls es sich als solches entpuppte.

Audreys Augen wurden groß und ihr Blick beinahe ungläubig, als sie das Haus betrachtete, das ihr fast bis an die Schultern reichte. »Es ist Brightwell Court«, flüsterte sie atemlos. Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu.

Ihm sank das Herz. Es gefällt ihr nicht.

»Ist es wirklich für mich?«, fragte sie.

»Ja, obwohl du schon zu alt für Puppen bist. Ich werde nicht gekränkt sein, wenn –«

»Seht nur!«, rief Audrey. Sie kniete vor den offenen Stockwerken, den vielen Zimmern und der herrlichen Treppe, die es sogar auch gab. »Da ist das Empfangszimmer, in dem wir gerade sind. Und dort oben ist das Kinderzimmer!«

Edward spürte die auf sich gerichteten Blicke und stellte fest, dass ihn sowohl Judith als auch Miss Harrington mit fassungslosem Staunen anstarrten.

»Wie lang hast du gebraucht, um das zu bauen?«, wollte Judith wissen.

Er wischte ihre Ehrfurcht mit einer Handbewegung beiseite. »Ach, ich habe einige Monate daran gearbeitet, immer wieder ein Stück, wenn ich Zeit dafür hatte.«

Audrey schaute zu ihrer Stiefmutter hoch. »Sieh doch, da ist genau das Sofa, auf dem du sitzt. Es hat sogar ein Polsterkissen!«

Judiths helle Augenbrauen hoben sich, als sie den Blick von dem Miniaturmöbelstück zu Edward wandern ließ. »Wenn du mir erzählst, du hättest das auch gemacht, dann glaube ich dir nicht.«

»Ich hatte Hilfe bei den Näharbeiten und der Ausstattung.«

»War das wieder der Weihnachtswichtel?«, erkundigte sich Miss Harrington mit hochgezogener dunkler Braue.

Er hielt es für weiser, keine Namen zu nennen.

Audrey sah ihn mit großen Augen an. »Ich habe diese Miniaturlandschaft selbst gemalt und hatte keine Ahnung, wofür sie war!«

Nachdem sie einige Minuten lang weitere Details bewundert hatte, stellte sich Audrey vor Edward und knickste anmutig. »Ich danke dir, Cousin Edward. Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.«

Judith wirkte leicht gekränkt, öffnete die rosafarbenen Lippen und schloss sie wieder.

Edward hatte nicht die Absicht gehabt, jemand anderen zu übertrumpfen. Er hatte diesen Kindern, den Sprösslingen seines Freundes, der diese Welt verlassen hatte, nur eine Freude machen wollen. Verdienten sie nicht eine besondere Freude an diesem Tag?

Er verbeugte sich auf vornehmste Weise vor Audrey, nahm dann ihre Hand und drückte sie. »Sehr gern geschehen, liebe Audrey.«

Als er den Kopf wieder hob, hatte sich Judiths Miene in nachdenkliche Anerkennung verwandelt. Miss Harrington sah zwischen ihm und Judith hin und her und wirkte alles andere als erfreut.

Als die Kinder anfingen, mit dem Puppenhaus zu spielen, wandte sich Felix an Edward und fragte: »Erinnerst du dich noch an das Floß, das du einmal gebaut hast, Edward?«

»Oh nein, nicht schon wieder diese alte Geschichte.«

Ein schadenfrohes Funkeln leuchtete in Felix' grünen Augen auf. »Wissen Sie, Miss Harrington, dieser großartige Noah hier hat uns ein feines Floß gebaut, als wir Kinder waren. Groß genug, damit wir beide darauf Platz hatten, und dieser Terrier – wie hieß er noch?«

»Das weiß ich nicht mehr.«

»Auf jeden Fall haben wir das Floß in der Nähe der Brücke von Brightwell ins Wasser gelassen, und die Strömung trug uns schnell davon. Erst als wir die Kirche passierten, dort wo der Fluss breiter wird, wurde Edward bewusst, dass er weder an ein Ruder noch an ein Paddel gedacht hatte!«

Verlegen lachte Edward in sich hinein und schüttelte den Kopf.

»Aber das Floß war seetauglich, das gebe ich zu«, fuhr Felix fort. »Es trug uns die ganze Strecke bis zur Mühle in Arlington und hätte uns noch weiter getragen, wenn Edward nicht einen tief liegenden Ast gepackt und uns in den Mühlengraben gezogen hätte.« Er beäugte seinen Cousin. »Behaupte nur nicht, du wüsstest das nicht mehr.«

»Ich erinnere mich, dass der Müller nicht sonderlich erfreut war. Das weiß ich noch.«

»Was ist wohl aus dem Floß geworden, frage ich mich«, sagte Felix. »Ich hoffe, Andrew stolpert nicht darüber, oder wir sehen diesen wilden Piraten eines Tages nie wieder.«

»Keine Sorge. Ich bin sicher, dass das alte Ding dasselbe Schicksal erlitten hat wie die meisten anderen Sachen, die ich damals gebaut habe. Mutter hat sie still und leise beiseite geschafft, als ich in Oxford war.«

»Das kann doch nicht wahr sein! So ein Kunstwerk! Nach diesem Ausflug bin ich allerdings ziemlich sicher, dass du keine Karriere im Schiffsbau machen wirst.«

»Das würde ich auch nicht wollen.«

Felix lehnte sich zurück. »Du brauchst auch gar keinen Beruf. Nur ich bin derjenige, der einen Weg finden muss, um sich eine Existenz zu sichern.«

»Das sagen Sie so, als müssten Sie die Erde bearbeiten, um Ihr Brot zu verdienen, oder etwas in der Art«, sagte Miss Harrington freundlich. »Mit einem Abschluss vom Balliol College wird es bestimmt nicht dazu kommen.«

»Nein«, antwortete er. »Ich kann mir Felix Bradley, der als Freisasse das Land bewirtschaftet, nicht vorstellen.«

»Ich auch nicht«, stimmte Judith zu.

»Womit wollen Sie sich beschäftigen?«, fragte Miss Harrington. »Haben Sie sich schon entschieden?«

»Nein, noch nicht. Ich habe kein Interesse an der Kirche. Ich verabscheue den Gedanken, in einem Krieg zu kämpfen. Ich hab keinen Kopf für Juristisches …«

»Komm schon«, sagte Edward. »Du bist genauso schlau wie viele andere und hast in absehbarer Zeit deinen Abschluss. Es muss doch etwas geben, das dich interessiert.«

»Ich interessiere mich für sehr viele Dinge. Aber nichts davon bringt ein großes Einkommen. Ich vermute, ich habe mein Herz daran gehängt, ein Gentleman zu sein, genau wie mein Vater und schon sein Vater vor ihm.«

»Und warum sollte das nicht möglich sein?«, fragte Judith unbekümmert.

»Weil, wie du sehr genau weißt, Jude, Vater uns kaum mehr als Schulden hinterlassen hat. Unser Onkel ist sehr großzügig, aber ich kann nicht von ihm erwarten, dass er auch für meine Frau und Kinder sorgt.«

»Deine Frau und Kinder?« Erschrocken richtete Judith sich auf. »Du liebe Güte, Felix, bist du verlobt? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass du bald heiraten willst.«

Ihr Bruder errötete heftig. »Nein. Ich bin nicht verlobt. Ich habe noch keine Pläne. Nur … Hoffnungen.«

Er lächelte Miss Harrington fast schüchtern an. »Ich hatte bis jetzt noch nicht das große Glück, die vollkommene Frau zu treffen, so wie Edward.«

Miss Harringtons zartes Gesicht färbte sich rosa. Edward fühlte sich unbehaglich.

Felix klopfte Edward auf die Schulter und fügte kühn hinzu: »Aber Edward wird nicht der einzige Bradley sein, der vorteilhaft heiratet, das schwöre ich bei meiner Seele!«

Ornament

 

Olivia schlich sich davon, um den Beutel Weizen vor Croomes Tür zu legen. Als sie sich zum Gehen wandte, sah sie ihn tief gebeugt am anderen Ende der Lichtung, wo er einen Eibenkranz auf den Boden legte. Sie fragte sich, was er da wohl machte, doch da sie sein Temperament kannte, beschloss sie, ihn nicht zu stören.

Als sie ins Kinderzimmer zurückkehrte, traf sie dort überraschend auf Lord Bradley, der neben Alexander und seinen neuen Klötzen auf dem Sofa saß.

Er schaute auf, als sie den Raum betrat. »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie nicht nur nähen, sondern auch schnitzen können, Miss Keene. Sie haben unzählige Talente.«

Sie zog die Stirn kraus, und nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sonst niemand im Kinderzimmer war, flüsterte sie: »Ich fürchte, Sie überschätzen mich, Mylord. Ich habe nichts geschnitzt. Ich dachte, das hätten Sie gemacht.«

»Ich habe einfache Zahlen und Buchstaben in die Klötze geschnitzt. Und jetzt sind auch noch Tiere darauf. Auf diesem Klotz H ist ein ziemlich detaillierter Hund abgebildet.« Er nahm wahllos einen anderen Holzklotz vom Stapel. »Und auf dem mit V sieht man eine Art Vogel.« Er streckte ihr den Klotz hin. »Was erkennen Sie darin?«

Olivia trat näher, nahm das Holzstück aus seiner ausgestreckten Hand und betrachtete die kunstfertige Schnitzerei. Für sie sah der Vogel sehr nach einem Rebhuhn aus.

Der Gedanke an Tiere rief ihr den alten Wildhüter ins Gedächtnis. »Meinen Sie vielleicht, Mr Croome …«

»Das würde mich außerordentlich überraschen.«

Olivia nickte. Sie empfand das Gleiche.

Lord Bradley stand auf und räusperte sich. »Nun gut, vielen Dank noch einmal für Ihre Unterstützung.« Er zog eine gefaltete Banknote hervor und hielt sie ihr hin. »Hier ist eine Kleinigkeit für Ihre Mühe.«

Sie hätte dankbar sein sollen, doch stattdessen fühlte sie sich merkwürdig ernüchtert darüber, dass ihr Geld für etwas angeboten wurde, was ein Ausdruck von Freundschaft gewesen war. Es war eine Erinnerung daran, in welchem Verhältnis sie zueinander standen – sie war nichts weiter als eine von vielen Bediensteten in seinem Haushalt.

»Nein, danke«, antwortete sie und wandte sich ab.

Am Nachmittag half Olivia den Kindern, Weihnachtsschachteln für die Diener zu füllen, die sie am morgigen Stephanstag verteilen würden. Dann brachte sie Audrey und Andrew in den Speisesaal, wo sich die Familie schon um vier Uhr zum Weihnachtsessen versammelte.

Nach dem Mahl wurde die Dienerschaft hereingebeten und eingeladen, sich zur Feier von Weihnachten zuzuprosten. Wie seltsam es war, zusammen mit Mrs Moore, Doris, Johnny und den anderen als geladene Gäste im Speisesaal zu stehen. Croome war nicht unter ihnen. Es schien ihn auch niemand zu vermissen.

Audrey und Andrew sangen noch einmal Weihnachtslieder, diesmal ohne Begleitung. Während des Gesangs spürte Olivia Johnnys Augen auf sich, aber sie schaute nicht in seine Richtung. Sie warf Doris einen Blick zu, die ihr zublinzelte. Olivia bemerkte, dass Martha den Kindern mit Tränen in den Augen lauschte.

Als sie fertig waren, griffen die Diener in ihre Jackentaschen und die Dienerinnen in ihre Schürzentaschen und die Kinder sammelten die angebotenen Münzen ein. Mrs Moore, der Olivias Verwirrung vermutlich aufgefallen war, beugte sich zu ihr und erklärte flüsternd, dass dieses Geld später den Armen gegeben würde. Olivia wünschte, sie hätte das gewusst. Sie hätte eine ihrer letzten Münzen, die immer noch in der kleinen Börse steckten, mit heruntergebracht. Olivia hoffte, dass ihrer Mutter das Geld nicht fehlte. Fehlte sie ihrer Mutter?

Dies war das erste Weihnachtsfest, das sie getrennt voneinander verbracht hatten, aber Olivia fürchtete, dass dies nur der Anfang vieler einsamer Weihnachtsfeste wäre.

Wo war ihre Mutter?

Olivia hob das Glas zum Mund. Sie hatte für Wein nichts übrig, aber sie hoffte, dass sie auf diese Weise das Zittern ihrer Lippen verbergen könnte.

Das Schweigen der Miss Keene
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