11

 

Sollte es jemand passieren, dass er den Schuh beim Weitergeben fallen lässt, muss er ein Pfand zahlen.

Mrs Child, The Girl’s Own Book

 

Später an diesem Nachmittag saß Olivia neben Audrey, die laut aus Peter der Große vorlas. Olivia las still mit und deutete manchmal mit der Fingerspitze auf ein Wort, das das Mädchen ausgelassen oder falsch ausgesprochen hatte. Wenn Audrey die Bedeutung eines Wortes nicht kannte, half Olivia ihr, die Definition in einem der Bände von Johnsons Wörterbuch zu finden.

Mit einem lauten Knall wurde die Kinderzimmertür gegen die Wand geschlagen und alle schraken zusammen. Andrew ließ seinen Kreisel fallen und rief: »Onkel Felix!«

Audrey kreischte auf und sprang vom Sofa hoch; das Buch war vergessen. Beide Kinder rannten zu dem Mann an der Tür.

»Hallo, ihr Knöchelbeißer«, scherzte Felix Bradley. Er klopfte auf seine Taschen und zog für jeden ein Pfefferminzbonbon hervor. »Süßigkeiten für die Süßen!« Er suchte Olivias Blick und hielt ihn fest. Den Dank der Kinder wehrte er mit einer Hand ab. »Ich weiß, dass meine Besuche euch nicht das Geringste bedeuten würden, wenn ich nicht etwas für euch dabei hätte.«

Wieder schaute er zu Olivia hinüber. »Womit plagt euch eure neue Kinderfrau?« Er schlenderte zum Sofa und griff nach dem Buch. »Oh weh, an dieses erinnere ich mich. Furchtbar langweilig.« Er grinste über ihren strafenden Blick. »Ich schwöre es, das war es wirklich. Und jetzt – wer macht mit bei einer Runde Jag den Schuh

Sein Vorschlag wurde mit Freudengeschrei begrüßt und die Kinder räumten schnell die Spielsachen vom abgenutzten runden Teppich vor dem Kinderzimmerkamin. Olivia erhob sich, um das große hölzerne Schaukelpferd beiseite zu räumen, aber Felix Bradley eilte ihr zur Hilfe, trat nah an sie heran und sagte leise: »Erlauben Sie mir, liebliche Livie. Und das ist schwer auszusprechen, glauben Sie mir, liebliche Livie, ich habe es den ganzen Weg nach oben geübt.«

Sie schüttelte den Kopf über seine Albernheit, konnte jedoch ein Grinsen nicht unterdrücken.

Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr und als sie einen Blick zur Tür warf, war dort eine zweite Gestalt zu sehen. Lord Bradley stand mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen da. Er blickte zwischen Felix und ihr hin und her, offenbar verärgert darüber, dass sein Cousin so dicht bei ihr stand. Innerlich ging Olivia in die Verteidigung – schließlich hatte sie diese Nähe nicht gesucht. Trotzdem trat sie verlegen einen Schritt zur Seite.

»Felix, ich bin überrascht, dich hier zu sehen.«

»Tatsächlich? Im Kinderzimmer oder grundsätzlich?«

»Beides vermutlich. Dein Semester endet erst in einigen Wochen.«

»Das stimmt. Kurz vor Weihnachten. Ich bin nur zu Besuch hier. Du hast nichts dagegen, hoffe ich?«

Lord Bradley musterte ihn nachdenklich, bevor er leicht die Schultern hob und eine bewusst gleichgültige Miene aufsetzte.

»Komm, Cousin Edward, spiel doch mit uns«, bedrängte ihn Audrey. »Wir sind nicht genug Personen für ein richtiges Spiel. Und Miss Peale sagt, sie ist zu alt, um sich auf den Boden zu setzen.«

»Was für ein Spiel machen wir denn?«, fragte er, den Blick auf Felix geheftet.

»Jag den Schuh«, antwortete Andrew. »Livie hat das noch nie gespielt, kannst du dir das vorstellen?«

Lord Bradley täuschte großes Erstaunen vor. »Nein, kann ich nicht.«

»Miss Livie, Sie müssen in der Mitte stehen und versuchen zu erraten, wer von uns den Schuh hat«, erklärte Audrey. »Wir werden einen von meinen Puppenschuhen verwenden, denn einen echten Schuh würde man bei so wenigen Mitspielern sofort entdecken.«

Andrew schaute ernst zu ihr hoch. »Sie müssen sagen: ›Schuster, Schuster, flick den Schuh. Tu es schnell, ich komm im Nu.‹ Aber weil Sie nicht sprechen können, werden wir es für Sie sagen.«

Olivia nickte zustimmend.

»Wer mit dem Schuh erwischt wird, muss der Jäger sein und ein Pfand zahlen«, erklärte Audrey. »Man muss ein Lied singen oder tanzen oder ein Geheimnis erzählen oder ein Kunststück aufführen.«

»Und wenn eine den Schuh beim Weitergeben fallen lässt«, fügte Andrew hinzu, »muss sie auch ein Pfand zahlen.«

»Warum sagst du ›sie‹?«, wollte Audrey wissen. »Ich werde ihn nicht fallen lassen.«

»Das machst du immer.«

»Nein, das stimmt nicht.«

Während Olivia sich in die Mitte stellte, setzten sich die anderen auf den Boden – Audrey, Andrew, Becky, Felix und Lord Bradley. Olivia war überrascht, dass er so bereitwillig an dem Spiel teilnahm. Offensichtlich hatte er seine jungen Verwandten sehr gern.

Die fünf saßen mit angewinkelten Knien in einem dichten Kreis und machten ein großes Aufheben darum, den Schuh unter den Beinen hindurchzureichen. Alle schlossen die Hände zu Fäusten und taten so, als wären sie eifrig mit Weitergeben beschäftigt, um es schwieriger für Olivia zu machen. Allerdings waren sie ein sehr kleiner Kreis und Olivia war davon überzeugt, dass Andrew den Schuh hatte, doch dann gab er ihn so schnell weiter, dass sie nicht mehr sicher war. Felix' Augen blitzten schelmisch auf.

Mit einem unterdrückten Lächeln zeigte sie auf ihn.

Er streckte seine leeren Hände aus und zwinkerte ihr zu.

Als Nächstes verdächtigte Olivia Audrey, und da sie richtig vermutet hatte, wurde sie angewiesen, ihren Platz mit dem Mädchen zu tauschen – das direkt neben Lord Bradley gesessen hatte. Olivia schluckte und setzte sich vorsichtig, darauf bedacht, sein Knie nicht mit ihrem zu streifen und ihre Röcke ordentlich über die Beine zu ziehen.

Audrey drehte eine Pirouette als Pfand und verlor dann keine Zeit, eine neue Runde anzufangen, indem sie ihr Verslein aufsagte: »Schuster, Schuster, flick den Schuh. Tu es schnell, ich komm im Nu.«

Andrew reichte den Schuh an Lord Bradley, der nach Olivias Hand fasste, um ihr den Schuh weiterzugeben. Olivia fürchtete, ihre Handfläche würde feucht werden, so nervös machte es sie, dass sie so dicht bei ihm saß. Als seine Fingerspitzen ihre Handfläche berührten, zuckte sie zusammen, verfehlte den Schuh und ließ ihn zu Boden fallen.

»Jetzt haben Sie ihn fallengelassen, Livie!«, sagte Felix. »Sie müssen Ihr Pfand zahlen.«

»Ein Pfand zahlen, ein Pfand zahlen!«, wiederholte Andrew.

Olivias Herz pochte. Sie wischte sich die feuchten Handflächen am Saum ihres Kleides ab, der um ihre Knöchel gewickelt war. Was sollte sie tun? Was konnte sie tun?

Sie stand auf, trat ans Klavier und spielte dort ein paar Takte aus einem Klavierkonzert von Mozart, den Türkischen Marsch, den sie bei Miss Cresswell gelernt hatte. Danach verbeugte sie sich mit Schwung und kehrte zu ihrem Platz auf dem Boden zurück.

Alle klatschten entzückt, außer Lord Bradley. Er starrte sie nur an. War sie einen Schritt zu weit gegangen, indem sie auf dem Klavier spielte, das zur Nutzung der Kinder vorgesehen war?

Offensichtlich war es so, denn er erhob sich, strich seine Jacke glatt und entschuldigte sich bei seinen Verwandten. »Verzeiht mir, aber ich habe ganz vergessen, dass ich einen Termin mit dem Sekretär meines Vaters habe.«

Wie töricht sie sich vorkam, wie getadelt. Die Kinder jammerten, aber Felix beobachtete seinen Abgang genauso schweigend wie sie.

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Olivia erwachte fröstelnd. Ihr kleines Zimmer hatte kein eigenes Feuer, sondern wurde vom Kamin im benachbarten Schlafzimmer erwärmt. Und dieses Feuer war zweifellos schon vor Stunden zu Asche heruntergebrannt. Sie zog sich die Decke über den Kopf und versuchte, warm zu werden und wieder einzuschlafen. Da hörte sie etwas und erstarrte. Sie lauschte so angestrengt, dass sie nicht einmal mehr zitterte. Langsam und quietschend öffnete sich die Tür und Olivia setzte sich mit pochendem Herzen aufrecht hin.

Als ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnten, sah sie eine Gestalt auf Zehenspitzen in ihr Zimmer kommen. Eine kleine Gestalt.

Andrew.

»Ich habe schlecht geträumt«, murmelte er, und sie konnte hören, wie er zitterte.

Olivia schlug die Bettdecke zurück und er schlüpfte sofort neben ihr ins Bett. Sie wusste, dass sie ihn eigentlich in sein eigenes Bett zurückbringen und ihm eine zusätzliche Decke besorgen sollte, oder dass sie Becky wecken sollte, damit sie das Feuer schürte und noch einen Ziegelstein fürs Bett erhitzte. Stattdessen zog sie ihm die Decke bis ans Kinn und bat Gott lautlos, ihm gute Träume zu schicken. Andrew kuschelte sich mit einem kleinen Seufzer an sie und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen. Na, gut … sie würde früh aufstehen und ihn in sein Bett zurücktragen.

Sie strich ihm über den Kopf und fragte sich, ob es sich so anfühlte, jemandes Mutter zu sein – diese süße, befriedigende Macht zu besitzen, jemanden zu beruhigen und zu trösten. Sie fragte sich auch, ob sie jemals eigene Kinder haben würde. Wenn man bedachte, dass sie mit fast fünfundzwanzig noch unverheiratet war, schien das unwahrscheinlich. Sie dachte flüchtig an den einzigen jungen Mann, der ihr jemals den Hof gemacht hatte, und brachte den bohrenden Zweifel, der darauf folgte, zum Schweigen. Stattdessen legte sie den Arm um Andrew und genoss seine Wärme, seine Nähe und den sonnigen Geruch seiner frisch gewaschenen Haare, während sie in den Schlaf sank.

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Als Olivia am Morgen erwachte, lag Andrew noch immer neben ihr und sie hatte das beunruhigende Gefühl, beobachtet zu werden.

Sie warf einen Blick zur Tür und sah, dass sie von letzter Nacht, als Andrew hereingeschlüpft war, noch immer offenstand. Sie schnappte nach Luft, als sie erschrocken bemerkte, dass Lord Bradley und Audrey auf der Schwelle standen und zu ihr hin spähten. Rasch zog sie sich die Bettdecke über ihr dünnes Nachtgewand.

»Bitte entschuldigen Sie«, murmelte Lord Bradley und wandte die Augen ab. »Audrey hat sich Sorgen gemacht, weil sie Andrew nirgends finden konnte.«

Olivia öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, erinnerte sich aber noch rechtzeitig daran, dass sie nicht sprechen durfte.

»Hatte er einen bösen Traum und wollte deshalb bei Ihnen schlafen?«, fragte Audrey.

Olivia nickte. Diese Annahme kam der Wahrheit sehr nahe und würde vermutlich dafür sorgen, dass sie schnell wieder verschwanden.

»Da siehst du es, Audrey. Es gibt nichts zu befürchten. Andrew geht es wunderbar.«

Er blickte zu ihr und Olivia spürte, wie ihre Wangen brannten, als sie die Bettdecke noch höher zog.

Andrew öffnete verschlafen die Augen und sah zwischen Olivia, seiner Schwester und seinem Cousin hin und her, offensichtlich verwirrt darüber, sich im Bett des Kindermädchens zu befinden.

»Sie haben im Schlaf gesprochen, Miss Livie!«, sagte er dann zur Überraschung von Olivia und ihren Zuhörern.

Olivia schüttelte den Kopf, aber Andrew blieb hartnäckig. »Doch, das haben Sie! Sie sagten etwas über einen Kamm und dann: ›Ich hätte es nicht tun dürfen. Ich wollte das nicht.‹ Diesen Teil haben Sie zwei Mal gesagt. Was wollten Sie nicht tun?«

Olivia war wie vor den Kopf geschlagen und spürte, wie ihr Gesicht erneut rot anlief. Sie wagte einen kurzen Blick zu Lord Bradley, wohl wissend, dass ihm diese Geschichte missfallen würde.

»Andrew, du musst geträumt haben«, erklärte Audrey und betrat das Zimmer. »Miss Keene kann nicht sprechen.« Sie nahm Andrew bei der Hand, als er aus dem Bett stieg, und führte ihn aus dem Raum. »Du hattest letzte Nacht wieder einen von deinen bösen Träumen, nicht wahr?«

»Ja, das schon, aber –«

»Siehst du? Es war alles nur ein Traum. Miss Keene soll im Schlaf sprechen? Was du für eine Fantasie hast!«

Nachdem die Kinder verschwunden waren, blieb Lord Bradley noch einen Moment stehen, um ihr kurz zuzunicken, bevor er die Tür zuzog. Olivia seufzte. Nächstes Mal durfte sie Andrew auf keinen Fall erlauben, das Bett mit ihr zu teilen.

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Am Mittwochmorgen brachte Olivia die Kinder für ihre Reitstunden zum Stall. Als sie ankam, war Lord Bradley nirgendwo zu sehen, deshalb gingen sie und die Kinder auf die andere Seite des Stalls und schauten zu, wie Talbot ein Pferd beschlug. Als Nächstes beobachteten sie, wie Johnny das kleine Pferd und das Pony sattelte, auf denen Audrey und Andrew später reiten würden. Als eine Viertelstunde vergangen und Lord Bradley immer noch nicht aufgetaucht war, erbarmte sich Johnny der zappeligen Kinder.

»Was meinen Sie, Miss Livie? Diese zwei Tierchen können es kaum erwarten loszulegen. Und die Pferde auch nicht.« Er zwinkerte ihr zu. »Ich könnte sie ein Weilchen auf dem Hof herumführen, bis Lord Bradley kommt?«

Olivia nickte dankbar.

Lächelnd legte Johnny dem Pferd und dem Pony eine Leine an. Begeistert bestiegen die Kinder die Tiere und der Stallknecht führte sie in einem weiten Kreis über den Hof. Das war nicht so aufregend wie ein Ritt mit ihrem Cousin, aber wenigstens standen sie nicht untätig herum.

Ein paar Minuten später betrat Lord Bradley in schnellem Schritt den Stall und warf nur einen kurzen Blick in Olivias Richtung. Er ging zu einer der Boxen und streichelte über das Gatter hinweg den Kopf seines großen Rappen.

»Warten Sie und die Kinder schon lange?«, fragte er, den Blick immer noch auf das Pferd gerichtet. Sie war überrascht, dass er ein Gespräch mit ihr anfing.

Da niemand in Hörweite war, antwortete Olivia leise: »Nicht sehr lang.«

Er nickte. Und da kein Stallbursche sich erbot, diesen Dienst für ihn zu übernehmen, öffnete er selbst das Gatter und fing an, sein Pferd zu satteln.

Sie wartete ab, aber als er sie nicht dafür tadelte, dass sie mit ihm gesprochen hatte, erkundigte sie sich: »Wie ist denn sein Name? Das ist ja ein wunderschönes Tier!« Und hat mich beinahe zu Tode getrampelt, ergänzte sie insgeheim.

»Raten Sie.« Er drückte die Trense zwischen die großen Zähne des Pferdes und hob dann das lederne Halfter über den majestätischen Kopf und die Ohren.

»Hm …«, überlegte sie. »Wenn ich seine Farbe und Ihr generelles Verhalten in Betracht ziehe, würde ich vermuten … Black

»Sie kränken mich. Halten Sie mich für völlig fantasielos?«

»Das ist der erste Eindruck.« Was dachte sie sich dabei, ihn aufzuziehen, wie sie es mit Johnny machen würde? Sehnte sie sich so verzweifelt nach einem erwachsenen Gesprächspartner?

Er beendete seine Arbeit und schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an. »Wüssten Sie gern, was ich mir jetzt gerade vorstelle?«

Mich zu erwürgen?, dachte sie, gab jedoch nur flüsternd zurück: »Nein. Auf keinen Fall.«

Nach der Reitstunde befand sich Olivia in der unangenehmen Situation, neben Lord Bradley zum Haus zurückzukehren, während die Kinder wie üblich vorneweg rannten. Sie verlangsamte ihre Schritte, um respektvoll ein Stück hinter ihm zurückzufallen, wie es ihrer Stellung angemessen war. Er fing keine weitere Unterhaltung an, und natürlich tat sie es auch nicht.

Sie erschrak, als Croome plötzlich um die Ecke des Herrenhauses marschierte. Offenbar bekam auch Lord Bradley einen Schrecken, denn er blieb so plötzlich stehen, dass sie fast mit ihm zusammenstieß.

»Ach … Mr Croome.« Lord Bradleys Stimme klang plötzlich unnatürlich und unsicher. Er drehte sich um und folgte dem strengen Blick des Mannes, und einen Moment lang musterten beide Männer Olivia kritisch. Offenbar fühlte sich Lord Bradley genötigt, die peinliche Stille zu durchbrechen. »Das ist … ich denke, Sie erinnern sich vielleicht noch an Miss Keene.«

»Ich erinnere mich gut«, murmelte Croome. »Ich erinnere mich, dass ich sie dabei erwischt habe, wie sie sich an einem Ort herumgetrieben hat, an dem sie nichts verloren hatte.«

»Ja, nun gut. Sie hat jetzt eine Anstellung hier. Sie hilft bei der Betreuung meiner jungen Cousine und ihres Bruders.«

Croome sandte ihr einen wutglühenden Blick zu, aber sie setzte ihm ein eiskaltes Starren entgegen. Auch sie erinnerte sich gut an ihn und hatte ihn ebenfalls an einem Ort gesehen, an dem er nichts verloren hatte.

Er schaute als Erster weg und wandte sich an Lord Bradley. »Hier treibt sich irgendwo ein Iltis herum. Ich habe vor, eine Falle für ihn auszulegen, es sei denn, Sie wollten, dass ich ihn in Ruhe lasse. Iltisse sind gut gegen Ratten, aber für das Wild sind sie sehr schädlich.«

»Ich verstehe. Tun Sie, was Sie für das Beste halten, Mr Croome. Mein Vater hat sich in solchen Dingen immer auf Ihre Erfahrung verlassen.«

Olivia beobachtete Lord Bradley verblüfft. Er verhielt sich wie ein aufgeregter Schuljunge vor einem strengen Schulleiter.

Der Wildhüter nickte und schlurfte mit seinem leicht hinkenden Gang weiter. Sie schauten ihm beide nach, wie er im Wald verschwand.

»Sie haben immer noch Angst vor ihm«, wagte sich Olivia leise vor. »Hat er Ihnen jemals etwas getan?«

»Nein.« Er stieß den Atem aus. »Albern von mir, nicht wahr? Ich glaube, es hat etwas mit meinem Vater zu tun. Als ich ein Junge war, schien er sich immer näher neben mich zu stellen, wenn Croome in der Gegend war.«

Wie seltsam, dachte Olivia. Laut sagte sie: »Ich frage mich, ob Lord Brightwell etwas Unangenehmes über den Charakter des Mannes weiß.« Insgeheim fügte sie hinzu: Oder über seine Geschäfte mit Wilderern?

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Lord Bradley. »Aber vielleicht werde ich ihn fragen, wenn er zurückkehrt.«

Sie war erneut versucht, Lord Bradley zu erzählen, wo sie Croome das erste Mal begegnet war, aber sie zögerte. Sie wusste, dass das zu weiteren Fragen führen würde, die sie nicht beantworten wollte.

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Am späten Nachmittag, als Olivia in die Küche hinunterging, um das Tablett mit dem Abendessen für das Kinderzimmer zu holen, saßen die Küchenmädchen auf niedrigen Schemeln und rupften einen Korb voll kleiner Vögel. Als Mrs Moore ihren neugierigen Blick sah, erklärte sie: »Birkhühner vom Wildhüter. Birkhuhnpastete wird eine angenehme Abwechslung sein, nicht wahr? Unser Nachbar George Linton hat unsere Speisekammer mit Rebhühnern von seinem Anwesen gefüllt, und alle haben mittlerweise genug davon.«

Mrs Moore stellte noch eine Schüssel mit Rindermarkklößen auf das Kinderzimmertablett und hob dann den Blick zu Olivia. »Sind Sie unserem Mr Croome schon begegnet?«

Olivia nickte kurz und erschauerte.

»Sie haben Angst vor dem Mann, ja? Das wundert mich nicht. Er sieht die meiste Zeit wie eine Vogelscheuche aus, nicht wahr?«

Olivia nickte zustimmend.

Mrs Moore schnalzte mit der Zunge. »Er ist so dünn wie nie zuvor. Ich frage mich, was er isst. Ich bezweifle, dass er in den letzten Jahren mal ein ordentliches Essen hatte.«

Olivia war erstaunt über den mitfühlenden Ton in ihrer Stimme. Natürlich war sie inzwischen lang genug in Brightwell Court, um zu wissen, dass Mrs Moore den Gedanken, dass jemand hungrig blieb, nicht ertragen konnte.

»Und er ist zu stolz, um mit uns zu essen«, meldete sich eines der Küchenmädchen zu Wort.

»Sei still, Edith, und rupf weiter«, erwiderte Mrs Moore. »Er hat sein eigenes Haus und seinen eigenen Herd, nicht wahr? Er ist nicht in Stellung wie der Rest von uns.«

Mrs Moore seufzte. »Und ich habe hier zwei wunderbare Rebhuhnpasteten und niemanden, der sie essen will.« Bekümmert blickte sie zwischen Olivia und den Pasteten hin und her.

Nein … dachte Olivia und schüttelte langsam und unmissverständlich den Kopf.

Sukey begleitete sie bis zum Anfang des schmalen Pfads, doch dort weigerte sie sich, weiter mitzukommen. Olivia schluckte, umklammerte das Päckchen mit den Pasteten fester und trat auf die Lichtung.

Croome saß auf der Treppe vor der Hütte und strich ein langes Messer über einen Wetzstein. Als sie näher kam, hob er ruckartig den Kopf.

»Was wollen Sie?« Croomes graue Brauen bildeten ein ärgerliches V über seinen zusammengekniffenen Augen. »Hier gibt’s nichts zum Herumschnüffeln.«

Olivia erinnerte sich an Mrs Moores Rat: »Lassen Sie ihn Ihre Angst nicht sehen. Wenn er Schwäche riecht, ist er schlimmer als die Raubtiere, vor denen er den Wald schützt.«

Er starrte sie an und es kostete sie sämtliche Beherrschung, seinem hasserfüllten Blick nicht auszuweichen.

Plötzlich richteten sich seine Augen auf das Päckchen in ihren Händen. »Was immer das ist, Sie können es gleich wieder mitnehmen. Ich brauche Ihre Almosen nicht.«

Sie hob das Kinn und hielt ihm das in Papier gewickelte Essen entgegen, auf das Mrs Moore den Inhalt geschrieben hatte: Rebhuhnhackpastete.

Sein wütender Blick verfinsterte sich vor Abscheu, und bestürzt sah Olivia zu, wie er aufstand, das Päckchen aus ihrer Hand riss und es böswillig ins Schweinegehege warf. Das Päckchen brach auf, die Pasteten fielen heraus und waren bald von grunzenden Schweinen umringt und gefressen.

Olivia zuckte zusammen und spürte den Schmerz über ihre abgelehnte Gabe, auch wenn Mrs Moore diejenige gewesen war, die den Vorschlag gemacht hatte. Gehacktes Rebhuhn wurde als Delikatesse betrachtet – ein seltener Leckerbissen für jeden. Wie undankbar Croome war, wie unhöflich!

Sie hatte sein Geheimnis bewahrt und sich wider besseres Wissen von Mrs Moore überreden lassen, ihm ein Geschenk anzubieten. Nun gut, sie hatte alles getan, was sie konnte, um sich für ihre Rettung im Wald zu revanchieren. Den ganzen Weg zurück zum Herrenhaus schäumte sie innerlich. Sie war fertig mit diesem Mann. Sollte Croome sich doch zu Tode hungern, dann wären sie ihn endlich los!

Das Schweigen der Miss Keene
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