3

 

Denken Sie immer daran, die Geheimnisse der Familie wie ein Heiligtum zu bewahren, denn keines darf ungestraft verraten werden.

Samuel & Sarah Adams, The Complete Servant

 

Die Sonne stand hoch am Himmel, als Olivia am Fluss kniete und sich Gesicht und Hände wusch. Sie schrubbte sich eifrig, um den hartnäckigen Schmutz, der sich in die Handlinien und unter den Fingernägeln eingegraben hatte, zu entfernen. Sie hoffte, dass der Schmutz in ihrem Gesicht nicht ebenso zäh an ihr hängen würde. Und auch nicht die Schuldgefühle, von denen sie geplagt wurde. War kein anderes Vorgehen möglich gewesen? Sicher hätte sie ein anderes Mittel ersinnen können, um ihren Vater zu stoppen. Sie hätte den Wachtmeister oder einen Nachbarn rufen können. Aber jetzt war es zu spät. Olivia spritzte sich das kalte Wasser ins Gesicht und wünschte, sie könnte auf diese Weise auch die Erinnerung – und die Reue – abwaschen.

Sie entdeckte zwei Haarnadeln, die noch in ihren zerzausten Locken hingen, und riss schließlich ein aufgenähtes Zierband von ihrem Unterhemd ab, um die Haare damit zusammenzubinden. Wenn sie das nächste Dorf betrat, wollte sie nicht wie eine Bettlerin oder etwas Schlimmeres aussehen.

Das Wasser, das viel zu eisig war, um das Waschen zu einer angenehmen Angelegenheit zu machen, erschien ihrer trockenen Kehle dagegen einladend, und sie beugte sich tief hinunter, um zu trinken, wobei sie ihre jetzt saubere Hand als Schale verwendete. Es war kalt und köstlich. Sie beugte sich noch einmal hinunter.

»Hören Sie mal! Hallo, da drüben! Sie dürfen nicht – geht es Ihnen gut?«

Immer noch kniend wandte sich Olivia bei diesem Ruf um. Ein Mann in einem schwarzen Anzug und einer weißen Halsbinde näherte sich mit schnellen Schritten. Hinter ihm folgten ein gefleckter Hund und vier kleine Jungen, deren Anblick eine Unbefangenheit bei Olivia bewirkte, die sie sonst nicht empfunden hätte.

»Mir geht es gut. Ich habe nur Durst.«

»Oh!« Er trat näher. »Ich fürchtete, Sie hätten die Absicht, sich etwas anzutun. Obwohl ich vermute, dass der Fluss hier zu niedrig ist, um eine große Gefahr darzustellen.«

»Nein, Sir. Das hatte ich nicht vor.«

»Natürlich nicht. Verzeihen Sie mir. Eine junge Dame wie Sie sollte keinen Grund haben, so verzweifelt zu sein. Da bin ich mir sicher.«

Sie zögerte und ihre Lippen erstarrten. »Keinen Grund …«

»Ich bin Mr Tugwell«, stellte er sich vor und hob den runden schwarzen Filzhut mit der breiten Krempe. »Der Pfarrer von St. Mary’s.«

»Sehr erfreut.« Sie schätzte ihn auf Mitte Dreißig. Er hatte hellbraunes Haar und ein weiches, ausdrucksvolles Gesicht.

Er streckte seine Hand aus. »Darf ich Ihnen aufhelfen?«

»Ich fürchte, ich bin nass und kalt«, entschuldigte sie sich, als sie ihre Hand in seine legte.

Er zog sie auf die Füße. »Sie haben es ernst gemeint! Man fühlt sich an einen kalten Fisch erinnert.« Er grinste. »Keine Angst. Ich hab schon mit Schlimmerem zu tun gehabt.«

Unwillkürlich grinste sie ebenfalls, trotz der jüngsten Bedrängnisse. »Und mein Gesicht – ich fürchte, es sieht furchtbar aus.«

Er neigte den Kopf zur Seite und begutachtete sie. »Ihr Gesicht ist bezaubernd.« Er nickte zu den Jungen hin. »Sie passen gut zu meiner Truppe hier. Das sind meine Söhne – Jeremia, Hesekiel, Jesaja und Tom. Amos, mein Ältester, ist in der Schule.«

»Hallo. Ich bin Miss Keene.« Der Name war ihr entschlüpft, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Aber wie hätte sie solche entzückenden, wenn auch schmutzigen Jungen, anlügen können?

Mr Tugwell reichte ihr sein Taschentuch und tippte sich mit seinem breiten Finger an eine Stelle an der Wange.

Errötend wischte sie über die gleiche Stelle an ihrer Wange. »Ich fürchte, ich bin gefallen und habe mich in einen schlimmen Zustand gebracht.«

»Geht uns das nicht allen so?«, erwiderte er mit einem Zwinkern seiner freundlichen haselnussbraunen Augen. »Könnte das nicht jeder von sich sagen?«

Sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte, gab ihm das Taschentuch zurück und fragte: »Und wer ist das?«, als der Spaniel an ihren Röcken schnüffelte.

»Das ist Harley«, informierte sie der kleine Tom.

»Harley gefallen diese Wanderungen genauso gut wie uns«, erklärte Mr Tugwell. »Die Dame des Hauses meint, dass männliche Tiere viel Bewegung brauchen, damit sie nicht im Haus herumtoben.« Er grinste. »Das gilt auch für den Hund.«

Sie lächelte. »Können Sie mir sagen, wie ich nach St. Aldwyns komme, Sir?«

»Mit Vergnügen.« Der Pfarrer stopfte sich das Tuch wieder in die Tasche. »Wir wollen nach Arlington, was auf Ihrem Weg liegt. Dürfen wir Sie bis dahin begleiten?«

»Gerne.« Sie überlegte einen Moment. »Vermutlich ist es meine vordringliche Aufgabe, mich um mein Aussehen zu kümmern. Gibt es irgendwo in Arlington eine Möglichkeit, Nadel und Faden und vielleicht ein Paar Handschuhe zu kaufen?«

»Die gibt es im Laden von Eliza Ludlow. Miss Ludlow ist eine Bekannte von uns. Es wird uns ein Vergnügen sein, Sie vorzustellen.«

»Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Vielen Dank.«

Begleitet von Mr Tugwell und seinen Jungen schritt Olivia über eine Steinbrücke in der Nähe der Dorfmühle und bog in die Hauptstraße ein. Sie passierten das Hotel Schwanen und eine Reihe von Weberhütten – erkennbar an den Steintrögen zum Waschen und Färben der Stoffe und dem flachen Mühlgraben, der daran vorbeifloss. Sie überquerten die gepflasterte Straße und näherten sich einer Ansammlung von Läden – es gab einen Krämer, einen Stoffhändler und das versprochene Damengeschäft, in dessen mehrteiligem Erkerfenster Hüte und Hauben ausgestellt waren.

»Bitte wartet hier auf mich, Kinder«, wies Mr Tugwell die Jungen an. »Und haltet Harley dieses Mal von den Waren des Krämers fern, ja?«

Der Pfarrer öffnete Olivia die Tür. Schnell strich sie ein paar Haarsträhnen an den Schläfen zurück und trat ins Innere, während die Glocke noch läutete.

Der Laden war klein und ordentlich und roch angenehm. In den Regalen präsentierten sich Handschuhe, Schals, Strümpfe, Fächer und Pelzkragen. Eine Schneiderpuppe trug ein Spazierkleid aus weißem Battistmusselin mit Volant. Auf dem vorderen Ladentisch gab es Modemagazine und ein Kosmetik- und Parfumsortiment.

Eine Frau in den Dreißigern, bekleidet mit einem attraktiven geschnürten Kleid aus gestreiftem Twill, stand an einer aufgeräumten Theke. Sie lächelte den Pfarrer strahlend an. »Mr Tugwell, was für eine angenehme Überraschung.«

Die Warmherzigkeit in ihrem Blick verringerte sich nur minimal, als Olivia näher trat.

»Guten Nachmittag, Miss Eliza.« Der Pfarrer verbeugte sich leicht. »Darf ich Ihnen vorstellen: Miss Keene aus …?«

Olivia zauderte. »Aus … der Nähe von Cheltenham.«

»Sie braucht Ihre Dienste.«

»Aber gern.« Miss Ludlow wandte ihre freundlichen braunen Augen in Olivias Richtung.

Mr Tugwell richtete sich auf. »Ich überlasse den Damen das Feld. Ich kenne mich mit diesen Finessen nicht aus und muss gestehen, dass ich auch nicht viel darüber wissen will.« Er lächelte Olivia an. »Aber Sie können Miss Ludlow voll und ganz vertrauen, das versichere ich Ihnen.«

Die Frau errötete bei seinem Lob.

Mr Tugwell strich sich nachdenklich über die Lippen. »Ich möchte nicht anmaßend sein, Miss Keene, aber es wird spät und St. Aldwyns ist noch einige Kilometer entfernt. Sie wären herzlich eingeladen, die Nacht im Gästezimmer des Pfarrhauses zu verbringen. Miss Tugwell wird Sie gern willkommen heißen, das weiß ich sicher.«

»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich … vielleicht werde ich wirklich darauf zurückkommen. Wenn Sie sicher sind, dass das keine zu große Belastung ist?«

»Ganz und gar nicht. Und die Jungen und ich geloben, unser bestes Benehmen an den Tag zu legen. Für Harley kann ich allerdings nicht sprechen.« Er grinste und wandte sich wieder an Miss Ludlow. »Wenn Sie so nett sein könnten, Miss Eliza, und Miss Keene den Weg beschreiben würden, sobald die Angelegenheiten hier erledigt sind?«

»Natürlich, gern.«

»Dann verabschiede ich mich erst einmal von Ihnen.« Er verbeugte sich vor den beiden Damen und verließ das Geschäft.

Als das Läuten der Ladenglocke verklang, fragte Eliza Ludlow freundlich: »Und wie kann ich Ihnen helfen, Miss Keene?«

»Ich hoffe, eine Stellung zu finden, verstehen Sie …«, begann Olivia.

Die dunklen Augenbrauen der Ladenbesitzerin zogen sich zusammen. »Ich fürchte, dieses kleine Geschäft wirft kaum genug für meinen eigenen Lebensunterhalt ab.«

»Oh nein. Bitte entschuldigen Sie, ich meinte nicht hier. Soweit ich weiß, gibt es eine Mädchenschule in St. Aldwyns.«

»Ja, davon habe ich gehört. Sie wird von einem älteren Schwesternpaar geleitet, glaube ich. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob sie jemanden brauchen, aber Sie könnten es versuchen.«

»Das ist meine Absicht. Aber da sollte ich nicht so aussehen.« Olivia schob ihren Umhang an einer Schulter zurück, sodass die notdürftige Reparatur ihres Kleids sichtbar wurde. »Ich fürchte, es gab einen unglücklichen Zwischenfall – eigentlich sogar mehrere – auf meinem Weg hierher.«

Miss Ludlow seufzte mitfühlend. »Sie armes Kind.«

»Können Sie mir Nadel und Faden verkaufen, damit ich den Schaden in Ordnung bringe?«

»Ja, das kann ich. Brauchen Sie blauen Faden?«

Olivia nickte. »Und haben Sie vielleicht auch noch eine Bürste und Haarnadeln?« Ihr Magen beschwerte sich mit unhöflichem Knurren und sie senkte den Kopf, um die Schamesröte zu verbergen.

»Natürlich, meine Liebe.« Eliza Ludlow lächelte herzlich. »Und Sie müssen nach oben in meine Räume kommen, um sich ordentlich zurechtzumachen. Darf ich Sie zu Tee und Kuchen einladen?«

Diese unerwartete Großzügigkeit trieb Olivia Tränen in die Augen. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Vielen Dank.«

Eine Stunde später war Olivias Haar gekämmt und anständig hochgesteckt, ihr Kleid geflickt und beinahe ganz sauber. Sie trug eine neue Haube und zwei Handschuhe, und ein Pompadour baumelte an ihrem Handgelenk. Sie hatte genug Geld gehabt, um die Haube zu kaufen, aber Eliza hatte darauf bestanden, ihr einen einzelnen Handschuh zu schenken. Das Gegenstück dazu sei ihr verloren gegangen und dieser passe doch beinahe perfekt zu dem anderen von Olivia, meinte sie. Da Olivia ihre spärlichen Mittel nicht erschöpfen wollte, hatte sie dankbar zugestimmt und das Angebot angenommen. Jetzt waren die kleine Börse ihrer Mutter, ein neuer Kamm und ein Taschentuch im Pompadour verstaut, den Miss Ludlow ihr zu einem verdächtig niedrigen Preis verkauft hatte.

Als Olivia bereit zum Aufbruch war, ließ sie sich von Eliza den Weg zum Pfarrhaus beschreiben. »Bleiben Sie auf der Hauptstraße, die einen Bogen nach Norden beschreibt. Das Pfarrhaus folgt direkt nach einem alten weißen Haus mit einem Taubenschlag.«

»Glauben Sie, es schickt sich für mich, die Einladung des Pfarrers anzunehmen?«, wollte Olivia wissen. »Wird Mrs Tugwell nichts dagegen haben?«

»Sie meinen Miss Tugwell, seine Schwester.«

»Oh. Ich dachte –«

»Mrs Tugwell starb vor ein paar Jahren, die arme Seele.«

»Wie tragisch. Diese armen mutterlosen Jungen …«

»Ja.« Miss Ludlows braune Augen glänzten mitfühlend. »Trotzdem denke ich, dass es schicklich ist. Es sei denn, Sie würden sich im Schwanen wohler fühlen, doch das Gasthaus wäre vielleicht mit größeren Kosten verbunden als Sie erübrigen möchten.«

»Ich fürchte, das stimmt.«

»Dann hoffen und beten wir, dass die Schule Sie direkt einstellen kann.«

Olivia drückte der Geschäftsinhaberin die Hand. »Danke. Sie waren äußerst freundlich zu mir und ich werde es nie vergessen.«

»Gern geschehen.« Miss Elizas Aufmerksamkeit wurde plötzlich von einer Hutschachtel auf der Theke abgelenkt, und ihre dunklen Brauen zogen sich vor Ratlosigkeit oder Irritation zusammen. »Ach, wie ärgerlich!«

»Ist alles in Ordnung?«

Die Frau seufzte. »Ja, aber es wäre noch besser, wenn Mrs Howe den Trachtenhut mit Feder bezahlt hätte, den sie bestellt hat. Sie sagte, sie bräuchte ihn für eine Gesellschaft in Brightwell Court, aber das Fest ist schon heute Abend, und sie hat immer noch niemanden vorbei geschickt, um den Hut abzuholen. Die Chancen, dieses Stück Tand aus London hier im Ort an jemand anderes zu verkaufen, stehen schlecht.«

»Das tut mir leid«, murmelte Olivia, aber ihre Gedanken blieben an etwas anderes hängen, das Miss Ludlow erwähnt hatte. »In Brightwell Court?«, wiederholte sie. Sie erinnerte sich an den Namen Brightwell aus dem Zeitungsausschnitt ihrer Mutter.

»Ja. Ist Ihnen der Name bekannt? Es ist das größte Anwesen der Gegend, abgesehen von dem der Lintons. Und heute Abend gibt es dort eine Gesellschaft.« Sie zwinkerte Olivia zu. »Aber leider hab ich meine Einladung verlegt.«

Olivia grinste über ihren Scherz. »Genau wie ich.«

Mit dem Versprechen, ihre neue Bekannte nach Möglichkeit wieder zu besuchen, dankte Olivia ihr noch einmal und verließ den Laden.

Es fing bereits an zu dämmern. In diesen letzten Monaten des Jahres waren die Stunden des Tageslichts nur kurz. Der Wind zog an Olivias Umhang und sie fröstelte. Es war wirklich zu kalt und zu dunkel, um den Weg fortzusetzen. Zumindest zu Fuß.

Sie folgte der Hauptstraße, als sie eine nördliche Biegung machte, und kam am Dorfplatz vorbei. Auf dessen anderer Seite sah sie eine imposante Kirche und nahm an, dies müsste St. Mary’s sein. Einige vornehme Kutschen fuhren an ihr vorbei und ein Kutscher hielt an und fragte sie, ob er sie mitnehmen könne.

»Fahren Sie nach St. Aldwyns?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Er schüttelte den Kopf. »Sind Sie denn nicht unterwegs zu Brightwell Court wie alle anderen feinen Damen der Gegend? Heute Abend ist dort mächtig viel geboten.«

Brightwell … Wieder begegnete ihr der Name.

Olivia schüttelte den Kopf. »Trotzdem vielen Dank.«

Sie blieb stehen, während der Wagen an ihr vorbeifuhr, und sah ihm nach, wie er in ein Tor einbog und einer langen, von Fackeln erhellten Zufahrt folgte. Besaß ihre Mutter eine Verbindung zu diesem Ort? Olivia spürte den Drang, dieses Brightwell Court mit eigenen Augen zu sehen. Danach würde sie den direkten Weg zum Pfarrhaus einschlagen.

Olivia schritt durch das Tor und die gekieste Straße entlang, an einigen kleinen Nebengebäuden vorbei, und da war es plötzlich. Ein großes graues Herrenhaus im Tudorstil in der Form eines E mit zahlreichen spitzen Dächern.

Hatte ihre Mutter hier Freunde? War sie hier einmal zu Besuch gewesen oder hatte eine Stellung innegehabt? Olivia würde ganz bestimmt nicht an die Tür klopfen und danach fragen, zumal die Besitzer gerade Gäste hatten.

Sie wandte sich zum Gehen, als die schwungvolle, fröhliche Musik ihre Aufmerksamkeit weckte. Sie wirbelte ihr in den Ohren und dehnte sich in ihrer Brust aus. Olivia bewegte sich vorsichtig über den Rasen, angezogen vom Licht, das aus den großen, längs unterteilten Fenstern fiel. Als sie sich näherte, hatte sie den ersten guten Blick in einen der prächtigen Räume. Anmutige Frauen in edlen Gewändern und vornehme Herren in schwarzer Abendkleidung standen in Gruppen zusammen, redeten, lachten, verbeugten sich, aßen und tranken. Olivia seufzte unwillkürlich.

Gebannt ging sie langsam am ersten Flügel vorbei und konnte einen Blick auf ein Büfett werfen, das von einem lebensgroßen Schwan aus Eis geziert wurde. Es gab hoch aufgetürmte Gefäße mit Gelee, gefülltes Wildschwein und eine riesige goldene Schale, die von Früchten überquoll. Olivia spazierte am zurückgesetzten Innenhof der kürzeren Mitte des E vorbei und umrundete den letzten Flügel, und die ganze Zeit über starrte sie in jedes Fenster, als hätte sie ein lebendiges, von hundert Kerzen erleuchtetes Bild vor sich. An der Ecke des Herrenhauses passierte sie ein weiteres Fenster, das geöffnet war, um den Zigarrenrauch oder die Hitze der Menge nach draußen zu leiten, wie sie vermutete. Olivias Schritt stockte. In dem Raum, der eine Bibliothek zu sein schien, umarmte ein eleganter Herr mittleren Alters seine ebenfalls mittelalte Frau. Sie waren allein. Der Mann drückte einen Kuss in ihr Haar, strich ihr über den Rücken und murmelte ihr etwas Bestätigendes oder Ermutigendes ins Ohr. Die sanfte Zärtlichkeit traf Olivia mitten ins Herz. Sie wusste, dass sie sich abwenden und die Privatsphäre des Paars respektieren sollte, aber es gelang ihr nicht. Dann legte der Mann seine Hände um das Gesicht der Frau und sagte etwas. Die Frau nickte. Ihre blassen Wangen waren nass vor Tränen. Der Mann wischte sie mit den Daumen weg und küsste die Frau auf den Mund.

Peinlich berührt senkte Olivia den Kopf und entfernte sich. Sie zog sich in den Schatten eines Baumes zurück und lehnte sich gegen den Stamm, um tief durchzuatmen. Wenn doch ihr Vater und ihre Mutter einander solche Zuneigung gezeigt hätten, statt schweigend zu brüten oder hitzig zu streiten! Wenn doch auch sie eines Tages so eine zärtliche Liebe erfahren dürfte!

Eine Seitentür öffnete sich. Olivia erstarrte neben dem Baum. Schritte erklangen auf den Platten der Veranda, gefolgt von einem weiteren Paar.

»Edward, warte!«

»Über so etwas möchte ich nicht vor der versammelten Gesellschaft oder den Dienern sprechen.«

»Müssen wir denn überhaupt darüber sprechen?«

Olivia spähte hinter dem Baum hervor und suchte einen Fluchtweg. Die Veranda lag im gefleckten Halbdunkel aus Mondlicht und Schatten. Sie erhaschte einen Blick auf den älteren Herrn aus der Bibliothek. Er stand vor einem größeren Mann, dessen Rücken ihr zugewandt war.

»Soll ich einfach vergessen, was ich gelesen habe?«, stieß dieser ungläubig hervor.

»Nein, ich gehe nicht davon aus, dass dir das gelingen würde. Aber es muss keine Katastrophe werden, mein Junge.«

»Wie kannst du das behaupten?«

»Ich habe es die ganze Zeit gewusst und es hat nichts an meinen Gefühlen geändert.«

»Aber woher wusstest du …? Wo komme ich her? Wer war meine Mutter, wer mein –«

»Edward, senke deine Stimme! Ich werde dir eines Tages alles sagen, wenn du es wirklich wissen musst. Aber nicht heute. Nicht am Vorabend unserer Abreise.«

Olivia war bestürzt, ein so persönliches Gespräch zu belauschen. Was sollte sie tun? Wenn sie sich bewegte, und sei es nur, um die Hände auf die Ohren zu legen, würde man sie bemerken.

Der ältere Mann legte den Arm um die Schulter seines Sohnes. »Es tut mir leid, dass du all das erfahren musstest, ausgerechnet jetzt. Aber es hat sich nichts verändert. Nichts. Verstehst du?«

Der jüngere Mann schlug sich an die Brust und antwortete mit heiserer Stimme: »Alles hat sich verändert. Alles. Zumindest wird das so sein. Wenn …« Ihm versagte die Stimme und Olivia verstand den Rest des Satzes nicht.

»Daran können wir jetzt nichts ändern. Versprich mir, dass du nicht versuchen wirst, Genaueres herauszufinden. Lass die Sache fürs Erste ruhen, Edward. Ich bitte dich darum. Du hast jetzt schon genug zu verarbeiten.«

»Das ist eine leichte Untertreibung, Sir.«

Der Vater führte seinen Sohn Richtung Herrenhaus zurück. »Komm wieder ins Haus, mein Junge. Wie kalt es ist! Deine Mutter wird sich schon fragen, was aus uns geworden ist.«

Der junge Mann murmelte etwas Unhörbares, als sie zur Tür traten, und Olivia stieß den Atem aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte.

»Können wir darauf verzichten, deine Mutter zu diesem Zeitpunkt mit der Sache zu belasten?«, fragte der ältere Mann. »Ich möchte nicht, dass ihr diese Reise verdorben wird.«

Sein Sohn seufzte. »Natürlich. Ihre Gesundheit steht für uns an erster Stelle.« Er hielt die Tür für seinen Vater auf. »Nach dir.«

Der ältere Herr setzte ein trauriges Lächeln auf und verschwand im Inneren.

Olivia trat hinter dem Baum hervor, um endlich die Flucht zu ergreifen. Aber der junge Mann hielt plötzlich inne, die Hand an der offenen Tür. Er stand reglos da und starrte blind in ihre Richtung. Hatte er sie gesehen oder gehört?

Ihr Herz pochte. Sie machte einen Schritt rückwärts, in der Hoffnung, sich wieder im Schatten verbergen zu können. Stattdessen stieß sie mit etwas Festem, Warmem zusammen. Sie schrie auf, als ein stinkender Sack über ihren Kopf geworfen wurde und kräftige Arme sie an den Schultern packten und aus ihrem Versteck zerrten.

Das Schweigen der Miss Keene
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