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Behalten Sie niemals einen Diener, so hervorragend er in seinem Stand auch sein mag, wenn Sie von ihm wissen, dass er sich der Unmoral schuldig gemacht hat.
Samuel & Sarah Adams, The Complete Servant
Edward traf Lord Brightwell im Garten an, wo er eine seiner Zigarren rauchte. Er ließ sich neben ihm auf die Bank fallen, blind für die Schönheit der Laube, der Bäume und Blumen.
»Ich hab gestern mit meinem Großvater gesprochen«, fing Edward an.
Der Earl hob ruckartig den Kopf. »Was? Er hat geschworen –«
Edward unterbrach ihn mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Er hat nicht das Geringste ausgeplaudert. Es war Miss Peale. Ihr Verstand lässt nach. Und ihre Zunge wird lose.«
Lord Brightwell stöhnte.
»Ist das der Grund, warum du mich niemals mit dem Mann allein lassen wolltest?«, fragte Edward. »Hattest du Angst, er würde mich zurückholen? Das darf doch nicht wahr sein! Ich bin voller Schrecken vor meinem eigenen Großvater aufgewachsen.«
»Ja, ich hatte Angst. Aber du solltest nie etwas davon erfahren. Er sollte nie dein Großvater sein. Er war mit der Vereinbarung einverstanden – wollte das Beste für dich.« Lord Brightwell nahm einen tiefen Zug von der Zigarre und stieß den Rauch aus. »Ich hatte damals keine Ahnung, was ich ihm abverlangte. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wie es für mich wäre, einen Enkelsohn für immer herzugeben, damit ein anderer Mann ihn als seinen eigenen Sohn ausgeben könnte – unmöglich! Aber damals dachte ich nur an deine Mutter und an mich selbst. Und ich wusste, dass es nur mit absoluter Geheimhaltung gelingen würde, dich als unser eigenes Fleisch und Blut und rechtmäßigen Erben aufzuziehen.«
Edward schnaubte. »Wir sehen ja, wie gut das funktioniert hat.« Unruhig stand er auf.
»Wie hast du den Austausch vorgenommen?«
»Croome kam einige Monate vor der dritten Fehlgeburt deiner Mutter zu mir. Deine Mutter hatte bereits in der ersten Zeit unserer Ehe zwei Fehlgeburten erlitten. Nach der zweiten wurde sie vom Arzt und der Hebamme untersucht, und beide meinten übereinstimmend, dass sie wahrscheinlich kein lebendes Kind zur Welt bringen würde. Trotzdem hofften wir, als sie kurz darauf wieder schwanger war, dass sie sich geirrt hatten und dass es dieses Mal anders sein würde. Auf jeden Fall fragte Croome, ob ich eine Ahnung hätte, wer dafür verantwortlich sei, dass seine Tochter ein Kind erwartete. Weil sie in meinem Haus arbeitete, nahm er an, ich wüsste es vielleicht. Er beschuldigte mich nicht, denn offenbar war seine Tochter klug genug, mich zu entlasten, aber sie weigerte sich, den Verantwortlichen zu nennen.
Ich tat, was ich für das Beste hielt. Ich versicherte ihm, wir würden alles im Stillen regeln – seine Tochter würde kündigen, bevor ihr Zustand offensichtlich wäre, und ich würde keiner Menschenseele etwas erzählen. Ich gab ihr einen Viertellohn extra, als sie wegging, und dachte nicht mehr an sie.
Die Monate vergingen und Marians Schwangerschaft schien erstaunlich gut zu verlaufen – so lang hatte sie noch nie ein Kind behalten. Der Arzt verordnete ihr Bettruhe und machte ihr alle möglichen vorsorglichen Ernährungsvorschriften, aber ich merkte, dass er nicht viel Hoffnung hatte. Wir zogen damals nur den Arzt zu Rate, denn nach Marians ersten beiden Erfahrungen wollte sie nicht wieder von der ungehobelten, vulgären Hebamme betreut werden.«
Er hielt inne, um durchzuatmen.
»Als Marian im siebten oder achten Monat war, hatte sie vorzeitige Wehen und wir schickten nach dem Arzt. Er versicherte uns, es seien nur Scheinwehen, aber als er versuchte, den Herzschlag des Babys zu finden, gelang ihm das nicht, und er sagte, wir sollten uns auf eine Totgeburt einstellen. Marian war entsetzt.
Ein paar Tage später hatte sie wieder Wehen, aber wir nahmen an, es wären wieder Scheinwehen, und ließen nicht sofort den Arzt kommen. Als wir ihn dann doch brauchten, kamen die Wehen stark und schnell. Aber der Arzt war irgendwohin gerufen worden. Ich wollte die Hebamme holen lassen, aber deine Mutter weigerte sich. Miss Peale war bereits da, der Arzt hatte sie als Kindbettpflegerin eingesetzt. Am Ende war sie die Einzige, die bei der Geburt dabei war. Es war eine Totgeburt …
Marian und ich waren am Boden zerstört.« Er schüttelte den Kopf, weil die Erinnerung so schmerzhaft war. »Ich hatte deine Mutter noch nie so niedergeschlagen gesehen. Als sie schließlich von Kummer erschöpft in den Schlaf fiel, überließ ich sie der Fürsorge von Miss Peale und ging nach draußen. Ich brauchte frische Luft. Und … ich musste Matthews bitten, einen winzigen Sarg zu schreinern.
Aber in der Nähe der Werkstatt blieb ich stehen. Ich hörte wildes Klagen aus Richtung des Walds und fürchtete tollwütige Hunde oder Schlimmeres. Ich folgte dem Geräusch bis zur Hütte des Wildhüters. Das Jammergeschrei wurde lauter, bis ich dachte, irgendein Tier würde Croome sämtliche Glieder zerreißen. Aber als ich im Laufschritt näher kam, fand ich nur Croome. Er saß neben einem Erdhaufen direkt hinter der Lichtung. Er schaukelte hin und her und heulte auf eine Weise, die meine eigene Trauer widerspiegelte.
Croome sah mich und winkte mich weg. Er bellte, ich solle ihn in Ruhe lassen. Ich wollte nichts lieber tun. Aber dann fingst du an zu schreien. Dort aus dem kleinen Korb, in den er dich gelegt hatte. Ich brachte es nicht über mich, Croome, der vor Schmerz außer sich war, anzusehen, also schaute ich dich an. Du hattest einen kahlen, unförmigen Kopf und ein rotes Gesicht. Ich dachte, ich hätte noch nie etwas gesehen, was, hm, so mitleiderweckend und unwiderstehlich zugleich war.« Lord Brightwell lachte in sich hinein.
»Er hat seine Tochter dort begraben, im Wald?«, fragte Edward in ungläubigem Ton.
»Er sagte, er könne es nicht ertragen, dass seine Alice ihm weggenommen würde. Er wollte sie in seiner Nähe haben. Ich fürchtete, er sei halb wahnsinnig, und vermutlich war das zum Teil auch ein Grund, warum ich dich immer vor ihm warnte.«
Edward nickte. Er erinnerte sich an die schützenden Gesten, die geflüsterten Warnungen. Aber waren sie gerechtfertigt gewesen? Wäre nicht jeder Vater so außer sich, zumindest zeitweilig?
Lord Brightwell setzte seinen Bericht fort. »Ich wollte nichts lieber, als dieses provisorische Grab verlassen, diese Szene des fürchterlichsten Albtraums, den ein Vater durchmachen kann. Aber dann wurde mir bewusst, dass ich diesen Ort nicht allein verlassen wollte. Ich fragte ihn, ob eine Hebamme gerufen worden sei, ob irgendein Mensch davon wüsste. Er sagte, nur Mrs Moore.«
»Unsere Köchin? Warum um alles in der Welt?«
»Croomes Schwägerin, soweit ich weiß. Die Tante der jungen Alice. Ich frage mich, ob er ihr die Schuld gab.«
»Ihr die Schuld gab? Warum sollte er?«
»Soweit ich verstanden habe, entband sie das Kind am Tag davor, als weder Hebamme noch Arzt gefunden werden konnten. Und als die Geburt schief ging …« Er hob vielsagend eine Hand.
Edward nickte, die furchtbare Szene in Gedanken vor Augen.
Sein Vater erhob sich, stellte sich neben die Laube und hielt sein Gesicht der Sonne entgegen. »Ich bin nicht sicher, wie hastig ich darauf bestand, dass Croome niemandem vom Tod seiner Tochter erzählen sollte. Ich nehme an, ich dachte, wenn die Leute wüssten, dass sie gestorben war, würden sie auch fragen, wie das passiert war. Und wenn sie wüssten, dass sie im Kindbett gestorben war, würden sie wissen wollen, was aus dem Kind geworden war.«
Der Earl fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. »Es war falsch von mir, ihm das Recht zu nehmen, offen zu trauern. Ich dachte damals nur an meine Familie. An mich. Ich verstand die Situation nicht. Ich glaube nicht, dass ich jemals einen Menschen so geliebt hatte, wie er seine Alice. Aber all das veränderte sich im Lauf von Tagen, sogar Stunden, sobald ich dich im Arm hatte.«
»Stimmte er zu, mich dir zu geben?« Edward gelang es kaum, die Schärfe aus seinem Tonfall herauszuhalten. »Oder hast du ihn bezahlt?«
»Ich gebe zu, ich fragte ihn, ob er einen finanziellen Ausgleich wolle. Ich dachte, er würde mich an Ort und Stelle niederschlagen. Er machte deutlich, dass er das Kind nicht verkaufe, sondern es mir nur gebe, weil er nicht in der Lage sei, es selbst aufzuziehen. Er drohte mir Gewalt an, falls ich jemals wieder Geld erwähnen würde.« Der Earl schüttelte sich. »Ich hielt mich daran.« Bei der Erinnerung wiegte er seinen Kopf hin und her. »Ich fragte ihn aber, ob Mrs Moore auch so denken würde. Wie finster er mich anstarrte! Er sagte: ›Überlassen Sie mir die Frau. Sie wird kein Wort sagen, niemals.‹ Und soweit ich weiß, hat sie es auch nie getan.«
In Edwards Kopf drehte sich alles. Wusste Mrs Moore, was aus dem Baby geworden war, das sie entbunden hatte? Wie seltsam, dass die Köchin der Familie und auf jeden Fall ihr Wildhüter und sein eigenes Kindermädchen die Wahrheit über ihn all die Jahre gekannt hatten, während er keine Ahnung gehabt hatte. Hatte Mrs Moore die Briefe geschrieben? Er konnte es nicht glauben. Warum jetzt, nach so vielen Jahren?
»Und … Mutter«, fragte Edward. »Was hielt sie von alledem?«
»Sie zögerte erst ein wenig. Wir hätten so einen Kurs erst in vielen Jahren, wenn überhaupt jemals eingeschlagen, wäre uns die Gelegenheit – in diesem Fall du – nicht in den Schoß gefallen. Vorsehung nenne ich es. Im ersten Jahr unserer Ehe gab es wenig Wärme zwischen mir und Marian, aber deinetwegen verliebten wir uns, mein Junge. Und sie hat dich geliebt, Edward, daran darfst du niemals zweifeln. Obwohl ich zugeben muss, dass ihr dein Name nie gefiel.«
Edward zog fragend die Brauen in die Höhe.
»Es war Croomes letztes Wort zu diesem Thema. Er sagte mir in seinem ruppigen Tonfall: ›Sein Name ist Edward. Sie hat ihn so genannt. Es ist der Name meines Vaters und auch mein zweiter Name. Ich werde nicht zulassen, dass Sie ihn ändern.‹« Lord Brightwell lachte leise. »Ich wagte es nicht.«
Edward schüttelte den Kopf und fand die Situation ganz und gar nicht zum Lachen. Edward …
Wie ironisch. Wie seltsam. Er war nach dem Wildhüter seines Vaters benannt worden, einem Mann, dem er sein ganzes Leben lang aus dem Weg gegangen war.
Als Edward in die Küche kam, schaute ihn Mrs Moore mit offenem Mund und großen Augen an. Er kam fast nie ins Untergeschoss, außer zum Singen der Weihnachtslieder und bei ähnlichen Anlässen. Sämtliche Anweisungen an die Köchin wurden durch die Haushälterin oder den Butler übermittelt.
Zwei junge Küchenmädchen starrten zu ihm hoch, die eine errötete zutiefst, die andere wagte einen frechen Blick.
Edward fragte: »Mrs Moore, kann ich ein persönliches Wort mit Ihnen wechseln?«
Die Frau schluckte. Offensichtlich erwartete sie Neuigkeiten übelster Art. »Natürlich, Mylord.«
Sie führte ihn zur Vorratskammer neben der Küche, wo Regale vom Boden bis zur Decke reichten, angefüllt mit weißblauem Porzellan, süßsauer eingemachtem Gemüse und rubinroten Konfitüren. Das säuerliche, würzige Aroma von Stachelbeeressig lag in der Luft.
Sobald sie den Raum betreten hatten, schloss er die Tür hinter ihnen und erschreckte sie damit noch mehr.
»Ich habe mit Mr Croome gesprochen …«, fing er an.
»Oh weh«, unterbrach sie ihn. »Was hat der alte Narr jetzt wieder angestellt?«
»Nichts, was Ihnen Sorgen machen müsste, das versichere ich Ihnen. Ich habe ihn nach seiner Tochter Alice gefragt.«
Offensichtlich beunruhigt, runzelte sie die Stirn. »Tatsächlich? Es überrascht mich, dass Sie überhaupt von ihr wissen. Sie hat … uns verlassen … bevor Sie geboren waren.«
»Hat sie das?«
Mrs Moore blinzelte nachdenklich mit den Augen. »Ein oder zwei Tage davor, glaube ich. Es ist so lange her.«
Er nickte. »Sie haben sie von einem Kind entbunden, wie ich gehört habe.« Er fügte sanft hinzu. »Es ist in Ordnung, Mrs Moore. Ich weiß, dass sie gestorben ist.«
Sie verzog den Mund und ihre runden Wangen erbleichten. »Hat Avery Ihnen das gesagt?« Sie wirkte sehr betroffen. »Ich weiß, dass er mir nie vergeben hat … aber es Ihnen zu erzählen? Nach all den Jahren? Obwohl ich ihm Verschwiegenheit schwören musste?«
»Ich glaube nicht, dass er Ihnen die Schuld gibt. Damals vielleicht, in seiner Trauer …«
Sie schüttelte den Kopf. »Er wollte sie nach Norden zu seiner Familie schicken, damit sie das Kind dort zur Welt bringen konnte, aber er tat es nicht. Er konnte es nicht ertragen, sich von ihr zu trennen. Als ihre Zeit kam, bat er mich, bei Alice zu bleiben, während er loszog, um den Arzt oder die Hebamme zu holen. Ich sollte nur bei ihr sitzen. Aber er kam stundenlang nicht zurück, und als er schließlich doch wieder auftauchte, war er allein. Er hatte niemand für die Entbindung finden können. Soweit ich weiß, hatte Ihr Vater das gleiche Problem, als kurz darauf die Zeit Ihrer Mutter kam.«
Edward nickte. »Miss Peale betreute meine Mutter.«
Sie blinzelte wieder. »Ja, ich erinnere mich, dass ich davon hörte.« Mrs Moore verzog das Gesicht. »Ich gab mein Bestes für Allie, aber ich wusste so wenig. Ich hatte nie ein eigenes Kind gehabt. Ich habe mich noch nie so hilflos gefühlt. Meine eigene liebe Nichte, die Tochter meiner Schwester, und ich konnte sie nicht retten.« Sie schüttelte den Kopf und es war offensichtlich, dass diese traurigen Bilder wieder in ihr aufstiegen. Tränen sammelte sich in ihren kleinen braunen Augen und rollten über ihre runden Wangen. »Avery hat mir nie verziehen. Er schickte mich kurz danach ins Haus zurück, als könne er meinen Anblick nicht ertragen.«
Mrs Moore wischte sich die Tränen mit ihrem molligen Handrücken ab. »Und das Kind … ein kleiner Junge. Er erzählte mir nie, was aus ihm geworden war. Ich vermute, er brachte ihn zu seinen Verwandten in den Norden oder fand eine Familie, die das Kind aufnahm. Ich war überrascht, dass es ihm gelang, sich von dem Jungen zu trennen. Er war doch alles, was er von Alice noch hatte. Aber er war damals nicht in der Verfassung, Wölfe aufzuziehen, geschweige denn ein Kind.« Ihre Lippen zitterten. »Er war außer sich vor Schmerz und wies jeden Versuch ab, ihn zu trösten. Er weigerte sich, davon zu sprechen oder mir zu sagen, wo der Junge war.« Ihre Stimme brach. »Der Junge, der sie das Leben gekostet hat, als sie ihn auf die Welt brachte.«
»Mrs Moore«, sagte er sanft. »Sie werden es nicht glauben, fürchte ich. Aber Alice starb, während sie mich zur Welt brachte.«
Sie starrte ihn an, die Stirn gekräuselt, die Lippen aufeinander gepresst. Sie wirkte ärgerlich oder zumindest frustriert und verwirrt.
»Mr Croome hat Alices Sohn nicht in den Norden gebracht«, fuhr Edward in ruhigem Ton fort. »Er gab Lord und Lady Brightwell das Kind. Damit sie es als ihr eigenes aufziehen konnten.«
Ihr kleiner Mund öffnete sich zu einem schlaffen O. Sie sah beinahe komisch aus und er biss sich auf die Lippe, um sich ein Grinsen zu verkneifen, das fehl am Platz war.
»Ich habe Ihnen gesagt, Sie würden mir nicht glauben.«
Sie schaute zu ihm hoch und schüttelte verwundert den Kopf. »Ich habe es nie gesehen«, hauchte sie. »Sie sind ihr nicht sehr ähnlich.«
»Ist es nicht ironisch, dass ich so sehr wie ein Bradley aussehe?«
»Das war Gottes Hand, würde ich sagen.«
»Davon weiß ich nichts.« Er senkte den Kopf und lächelte verlegen.
»Da! Ich kann etwas von ihr erahnen.« Mrs Moores haselnussbraune Augen glitzerten. »Etwas an Ihrem Mund, wenn Sie lächeln. Ich kann mich nicht erinnern, Sie lächeln zu sehen, seit Sie ein Junge waren.«
»Ich werde daran arbeiten müssen.«
Ihr Kinn fiel wieder nach unten, als ihr ein neuer Gedanke kam. »Das muss der Grund sein, warum es alles so ein Geheimnis war! Warum er sich weigerte, mir zu sagen, was aus Ihnen geworden war.« Sie sog tief die Luft ein. »Und warum er hierblieb, als wir alle dachten, er würde den Ort verlassen. Warum bleibt er hier, habe ich mich immer wieder gefragt, wenn er doch eine Familie im Norden hat, die sich um ihn kümmert, wenn er älter wird. Was hält ihn hier, jetzt, wo seine Maggie nicht mehr da und Alice auch weg ist?« Sie starrte Edward an und schüttelte langsam und erstaunt den Kopf. »Er konnte es nicht ertragen, Sie zu verlassen.«
Edward spürte, wie es in seiner Brust eng wurde, und auch seine Kehle schnürte sich zu.
»Ich kann es nicht glauben.« Erneut trieb es ihr die Tränen in die Augen, aber die vorherige Niedergeschlagenheit wich einer offensichtlichen Freude. »Allies Junge.« Sie streckte die Arme nach ihm aus, beherrschte sich jedoch schnell, als ihr bewusst wurde, was sie beinahe getan hätte. »Vergeben Sie mir.«
Er nahm ihre Hände in seine. »Es gibt nichts zu vergeben, Mrs Moore. Schließlich sind Sie meine Großtante, nicht wahr?«
Sie lachte, strahlte ihn an und drückte seine Hände. »Ja, vermutlich bin ich das.« Sie biss sich auf die Lippe. »Obwohl wahrscheinlich alles noch ein großes Geheimnis ist?«
Er atmete tief durch. »Gegenwärtig noch, ja, falls es Ihnen nichts ausmacht. Aber nicht für immer.«
»Seit wann wissen Sie, dass Sie nicht …« Sie vollendete die Frage nicht.
»Ich erfuhr es erst letzten Herbst, als Miss Keene zu uns kam.«
»Miss Keene? Was hat sie damit zu tun?«
Er machte ein bedauerndes Gesicht. »Das ist eine lange Geschichte, fürchte ich.«
Als spüre sie eine Abweisung, zog sie ihre Hände zurück und richtete sich auf. »Ich bin sicher, Sie sind sehr beschäftigt, und ich … nun gut, das Essen kocht sich auch nicht von allein.«
Sie öffnete die Tür des Vorratsraums, aber er stoppte sie mit einem sanften Flehen.
»Mrs Moore, bitte.«
Er trat dicht an sie heran, schloss die Lücke zwischen ihnen. »Ich würde Ihnen sehr gern alles erzählen, aber ein anderes Mal. Vielleicht könnten wir an einem Nachmittag zusammen Tee trinken? Sagen wir, in der Wildhüterhütte?«
Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Das würde ihm nicht gefallen.«
»Lassen Sie sich überraschen. Und ich glaube, es würde ihm unendlich gut tun.«
Spontan beugte er sich vor und küsste sie auf die Wange.
Als er sich umdrehte, hörte er die Küchenmädchen nach Luft schnappen und direkt danach ihr Kichern und aufgeregtes Flüstern.
Mrs Moores diensteifrige Stimme folgte ihm, als er die Treppen hochstieg. »Er hat mir nur für meinen besten Pflaumenkuchen gedankt, und hättet ihr ihn je probiert, würdet ihr mir auch ein Küsschen geben. Habt ihr eigentlich keine Erbsen zu schälen?«
Edward lächelte.
Edward Stanton Bradley klopfte an die Tür der Wildhüterhütte, den schweren Werkzeugkasten in der Hand, und hielt die Luft an.
Nach einer langen Minute öffnete Avery Croome die Tür und kniff die blassblauen Augen zusammen. »Ich hoffe, Sie sind nicht gekommen, um mich zu bitten, mein Wort zu brechen.«
»Ich bitte Sie, gar nichts zu brechen, Mr Croome«, antwortete Edward und fühlte sich seltsam beschwingt. »Ich bin hier, um das zu reparieren, was bereits zerbrochen ist.«
Croome zog die buschigen Augenbrauen in die Höhe. Er sah zwischen Edwards Gesicht und Matthews' Werkzeugkoffer hin und her. »Sie?«
Edward deutete auf eines der vorderen Fenster, dessen Scheibe einen tiefen Riss hatte. »Dafür werde ich den Glaser kommen lassen. Passt es am Dienstag?«
Croome starrte ihn nur an, die Brauen misstrauisch zusammengezogen.
»Jetzt wollen wir uns das Innere ansehen«, sagte Edward und deutete auf die Tür.
»Warum?«
Edward erwiderte in unschuldigem Ton: »Weil ich aus sicherer Quelle weiß, dass das Haus sehr heruntergekommen ist. Ich glaube, Sie sprachen davon, dass Sie eine Hütte wollen, die nicht über Ihnen zusammenbricht?«
Den Blick immer noch auf Edward gerichtet, stieß Croome die Tür auf und trat zurück, als wolle er einem potenziell gefährlichen Raubtier nicht den Rücken zuwenden. Er sagte: »Beachten Sie, dass ich keinen Besuch erwartet habe. Nicht seit Miss Keene weg ist. Sie war die Einzige, die sich die Mühe gemacht hat, hierherzukommen.«
»Tatsächlich?«
»Ist auf und davon gegangen, was?« Cromme schüttelte den Kopf und verzog missbilligend den Mund.
»Ich fürchte, das ist meine Schuld«, gestand Edward. »Falls Sie das tröstet, ich vermisse sie auch.«
Croome machte ein finsteres Gesicht. »Ich hab nie gesagt, dass ich sie vermisse.«
»Oh, und bevor ich es vergesse –«, Edward zog ein eingepacktes Bündel aus dem Werkzeugkoffer, »Mrs Moore schickt Ihnen ein Stück Pflaumenkuchen. Er ist noch warm.«
Croomes Augen waren nur noch Schlitze und er wiegte den Kopf hin und her. »Hat Sie jetzt auch zu Ihrem Verbündeten gemacht, was?«
Edward zuckte die Achseln und verkniff sich ein Grinsen, als der alte Mann das Bündel entgegennahm.
Edward folgte ihm nach drinnen. Ein dumpfer Geruch empfing ihn – klamm, aber nicht abstoßend. Der Hauptraum war ziemlich ordentlich und nur ein Teller und eine Tasse warteten auf der Anrichte, gewaschen zu werden.
»Das sieht gar nicht so schlecht aus«, sagte er und sah sich um. »Wo ist das Problem?«
Croome legte Mrs Moores Gabe auf den Tisch. Er schlurfte zur gegenüberliegenden Wand und zeigte an die Decke, an der Wasserflecken und Risse zu sehen waren.
Edward folgte ihm. Er ging in die Hocke, um den schweren Werkzeugkasten auf dem Boden abzusetzen, und hielt inne, als seine Aufmerksamkeit auf das Regal fiel, das an der Wand stand.
Er ließ den Blick über die drei Bretter wandern, die grob zusammengefügt und in seiner Lieblingsfarbe gestrichen waren. Er hatte das Möbelstück ein halbes Dutzend Jahre nicht mehr gesehen, aber sofort wiedererkannt.
Hinter ihm murmelte Croome: »Hab ich vor dem Feuer gerettet. Ich fand es unnötig, es wegzuwerfen.«
Edward nickte. Es war ihm eng um die Brust.
»Also, legen wir los«, sagte Croome kurz angebunden. »Ich hoffe, Ihre Fertigkeiten haben sich seither verbessert.«