26

Todesröcheln

Sie hörten ein Husten im Dunkeln. Ein anhaltendes Husten; allein bei dem Geräusch verspürten die Anwesenden ein Kratzen im eigenen Hals. Etwas raschelte. Ein Stuhl kippte um. Stimmengewirr: Kann jemand  …? Sollen wir die Kerzen wieder anzünden oder …? Ein Schaben, als Mr. Toombs seinen Stuhl zurückschob. Nach wenigen Sekunden: ein Klicken, und der Raum war in grelles Licht getaucht. Die Schüler, noch immer auf ihren Stühlen, blinzelten. Dr. Kahn hatte sich nicht von der Stelle bewegt. Fawkes war an Andrews Seite geeilt, um ihn zu verteidigen. Sir Alan war in seinem Zorn über den Tisch gekrochen, jetzt allerdings saß er auf dem Tisch – seine Beine baumelten an der Stirnseite über den Rand – ein erschöpfter Krieger. Er starrte fassungslos vor sich hin. Andrew war weg.

»Gut, er ist weg. Was hatten Sie vor? Wollten Sie ihn erwürgen?«, fragte Dr. Kahn.

Sir Alan antwortete nicht. Er war benommen. Fawkes sah sich um – er war froh, dass Andrew entkommen konnte. Er drehte sich zu Sir Alan um, um ihn zurechtzuweisen, sah jedoch, dass er einen gebrochenen Mann vor sich hatte. Der Zorn auf Andrew war in gewisser Weise der letzte Ausdruck von Hoffnung gewesen, dass es jemanden gab, dem er die Schuld zuschieben konnte, dass er etwas tun konnte. Doch jetzt fühlte er sich dieser Illusion beraubt. Fawkes empfand Mitleid.

»Es tut mit leid«, sagte Fawkes.

»Leid?«, platzte Dr. Kahn entrüstet heraus.

Fawkes fuhr fort: »Persephone ist ein großartiges Mädchen, eine Freundin. Ich wünschte, ich könnte etwas tun.«

Sir Alan zuckte zusammen, als wäre diese Freundlichkeit ein Schlag. Er sprach verbittert und leise, fast zu sich selbst: »Sie haben keine Ahnung.«

Doch Fawkes hatte sich bereits abgewandt. Natürlich gab es etwas, was er tun konnte. Wieso stand er noch hier?

Er suchte nach Father Peter. »Es ist Zeit«, sagte er zu ihm. »Kommen Sie.«

Die beiden Männer stiegen zur High Street hinauf. Father Peter war aufgeregt. »Piers«, sagte er. »Piers, ich weiß nicht, ob Sie das auch empfunden haben.«

»Was?«

»Es fühlte sich eindeutig so an, als wäre noch etwas im Raum.«

»Ich weiß.«

»Haben Sie das schon einmal erlebt?«

»Leider ja.«

»Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll. Es war negativ, habe ich recht? Feucht. Überall.« Der Priester schauderte. »Kein gutes Gefühl.«

»Nein, es war nicht gut. Sie haben Andrew gehört. Harness ist ein Mörder.«

»Und Sie glauben, dass dieser John Harness für die Krankheit der anderen verantwortlich ist? Für den Ausbruch der Tuberkulose bei Sir Alans Tochter und den anderen Jungs?«

»Ja, das glaube ich. Oder ich bin verrückt geworden. Zu diesem Zeitpunkt erscheint mir das als denkbare Möglichkeit. Aber das würde bedeuten, dass Sie auch verrückt sind.«

»Ja. Aber es ist die Aufgabe eines Geistlichen, den Gläubigen in ihrem Leid beizustehen.«

Fawkes warf Father Peter einen Blick zu. Sarkasmus in Stresssituationen. Ja, er mochte den Priester. Sie eilten am Headmaster House vorbei. »Jetzt liegt alles an Ihnen, Father Peter. Sind Sie bereit?«

»Ich hoffe es.«

»Nicht hoffen. Sein.«

»Jesus Christus ist der Herr über solche Konflikte. Ich bin nur sein Repräsentant. Seine Macht ist jedoch ungebrochen.«

»Ermutigend«, befand Fawkes. Jemand rief ihnen nach. Der Kaplan blieb stehen.

Fawkes ging ein paar Schritte weiter. »Kommen Sie«, forderte er ärgerlich.

»Aber es ist Judy.«

Sie drehten sich um. Dr. Kahn hastete ihnen nach und fuchtelte mit den Armen. Sie warteten auf sie. Es kam Fawkes vor, als würde sie sich in Zeitlupe bewegen. Fawkes wurde ungeduldig. Kommen Sie, schnell. Er hatte die böse Vorahnung, dass etwas Schreckliches passieren würde und dass jede Sekunde Verzögerung verheerende Folgen haben könnte.

»Ich komme mit«, rief sie außer Atem. »Wollen Sie den Exorzismus durchführen?«

»Wir segnen das Haus«, stellte Father Peter richtig. »Brauchen Sie eine Verschnaufpause?«

»Nein, nein«, keuchte sie. »Sehen Sie – das hier habe ich gefunden.« Sie hielt ihnen zerknüllte Papiere hin.

»Egal«, versetzte Fawkes.

»Das ist Andrews Essay. Ich hab ihn auf dem Weg hierher gefunden«, sagte Dr. Kahn. »Er war hier, vielleicht auf dem Weg ins Lot.«

»Okay, gut. Er kann sich uns anschließen, falls wir jemals dort ankommen«, erwiderte Fawkes aufgebracht. »Wir müssen das Ritual unverzüglich abhalten.«

Nach wenigen Minuten erreichten sie das Lot. Musik und Fernsehstimmen dröhnten auf die Straße. In den Fluren hallten Stimmen wider. Im ganzen Haus war Lärm. Und Macrae dachte, er könne für Ordnung sorgen; alles in den Griff bekommen, dachte Fawkes mit einem freudlosen Grinsen.

»Gut. Was müssen wir tun, Father Peter?«

Father Peter kaute auf seiner Lippe. »Wo ist der Hauptraum? Der Mittelpunkt des Hauses?«

»Hier entlang.«

Sie stürmten in den Gemeinschaftsraum. In dem Fawkes die Hausversammlung am ersten Schultag abgehalten hatte.

Father Peter machte das Klavier zu seinem Arbeitsplatz. Er legte seine Tasche darauf ab und entnahm ihr vier Gegenstände: das graue Heft mit dem kirchlichen Siegel, die Wasserflasche, ein kleines Messingkruzifix und einen etwa dreißig Zentimeter langen Fichtenzweig mit saftig grünen Nadeln.

Der Kaplan nahm eine feierliche Haltung an. »Sie sind die Antragsteller und haben um den Segen für dieses Haus gebeten«, begann er. »Glauben Sie an Jesus Christus, den Sohn Gottes des Allmächtigen?«

Fawkes und Dr. Kahn wechselten einen Blick.

»Ich bin Jüdin«, sagte Dr. Kahn. »Also nein.«

»Ich bin Atheist«, bekannte Fawkes. »Ich dachte, Sie …«

Father Peter ignorierte sie. »Akzeptieren Sie, dass er die Kraft hat, dieses Haus vom Bösen, dem Leibhaftigen und all seinen Handlangern zu befreien?«

Darauf schien es nur eine Antwort zu geben. Fawkes und Dr. Kahn nahmen, beeinflusst von der Ernsthaftigkeit des Geistlichen, Haltung an und sagten unisono: »Ja.«

Father Peter nickte. Das war besser. »Ich werde einen Segen über das Haus und insbesondere an all den Orten aussprechen, die Ihrer Ansicht nach am meisten heimgesucht werden. Piers, Sie müssen mich führen. Judy, wenn Sie mir bitte assistieren würden. Halten Sie das Wasser und den Zweig.« Sie nahm die Wasserflasche. Er legte die Hand darüber. »Wir danken dir, allmächtiger Gott, für die Gabe des Wassers. Über das Wasser kam der Heilige Geist in die Schöpfung. Durch die Kraft des Heiligen Geistes ist dieses Wasser geweiht und ein Zeichen deiner Herrschaft über alles, was es berührt. Amen.«

Der Kaplan spähte über den Rand seiner Brille.

»Amen«, wiederholte Fawkes.

»Dies ist jetzt geheiligtes Wasser«, verkündete Father Peter. »Judith, ich möchte, dass Sie in jedem Raum, den wir betreten, den Zweig eintauchen und die Wassertropfen versprengen. Wollen Sie das übernehmen?«

Sie nickte.

»Gut!« Er lächelte und schob die Brille höher auf die Nase. »Lassen Sie uns gleich hier beginnen.« Er nahm das Heft zur Hand. Die drei standen dicht beisammen – sie kamen sich albern und dennoch irgendwie wichtig vor, inmitten des Radaus, den die Jungs bei ihren Ballspielen und der Musik machten und der die Ernsthaftigkeit des Augenblicks zu stören schien.

»Herr«, begann Father Peter in seinem wohltönenden Tenor, »ich bedecke mich und alle um mich mit dem Blut Jesu.« Fawkes suchte in Dr. Kahns Gesicht nach Hinweisen der Belustigung, aber sie blieb ernst. »Ich bedecke dieses Haus mit dem Blut Jesu. Durch die Kraft seines Blutes breche ich jede Macht aus dem Reich der Finsternis über dieses Haus, über uns und über Andrew Taylor. Bitte, Judith, versprühen Sie das Wasser.«

»Hm?«

»Verteilen Sie das Weihwasser.«

»Oh, natürlich. So?«

»Sehr gut. Und wohin jetzt, Piers?«

»Wir gehen hinauf in Andrews Zimmer. Vielleicht ist er dort.«

Father Peter hatte das Heft und das Kreuz, Dr. Kahn die Wasserflasche und den tropfenden Zweig in den Händen, während sie sich auf den Weg machten. Fawkes hielt sich abseits. Er hatte etwas Entscheidendes vergessen, das wusste er, aber ihm war nicht klar, was das sein könnte. Ein Wecker tickte in ihm und war kurz davor zu klingeln. Diese Papiere  – Andrews Essay. Dr. Kahn hatte wie gewöhnlich die richtige Spur gefunden. Aber wohin führte sie? Die hämmernde Musik und die Last des Rituals setzten ihm so zu, dass er den übersehenen Hinweis nicht erkennen konnte, also führte er den Geistlichen nachdenklich die Treppe hinauf.

Als Erstes spürte Andrew ein Stechen im Hals. Er hustete: Sicherlich konnte er das Kratzen loswerden. Er fühlte ein warmes Gebilde in seiner Brust. Er würde den Schleim hochwürgen und ausspucken  … Plötzlich kam er zu Bewusstsein.

Stopp. Wach auf.

Er befand sich noch in dem Klassenzimmer.

Die Kerzen waren verloschen. Chaos umschwirrte ihn. Trotzdem wusste er eines mit Gewissheit.

Harness hatte ihn infiziert.

Hitze pulsierte in seinen Schläfen und durchdrang die Wangen. Fieber.

Du bist krank. Und wenn du hier den Schleim ausspuckst, steckst du zehn, elf andere an.

Andrew drückte die Hand auf den Mund und floh aus dem Haus.

Draußen war es kühl. Der Schweiß auf seinem Rücken und im Nacken wurde eisig. Er zitterte am ganzen Leib, während er durch die Dunkelheit wankte. Harness beabsichtigte, ihn zu töten. Er hatte es mit Verführung versucht, doch Andrew hatte ihm widerstanden. Deshalb hatte Harness ihn angefallen wie ein Tier, ein Affe, der die großen Zähne in sein Fleisch gehauen hatte, ihn festhielt, schwer an ihm hing und darauf wartete, dass er müde wurde; ein zum Töten bereites Raubtier.

Sieh zu, dass du möglichst viel Distanz zwischen dich und das Schulgebäude bringst, sagte er sich, dass du von den Menschen wegkommst. Du hast eine hoch ansteckende Krankheit.

Er stieg schwer atmend die Treppe hinauf. Oben angekommen, stolperte er weiter und zog ein Hosenbein hoch. Seine Wade und der Knöchel waren dick angeschwollen; prall und aufgedunsen. Sie hingen an ihm wie mit Flüssigkeit gefüllte Säcke.

Was geschah mit ihm?

Die Gedanken waren begleitet von reiner, primitiver Panik. Er hatte keine Zeit. Sir Alan hatte gesagt, dass Persephone nur noch Stunden zu leben hatte. Sie würde sterben – genau wie Roddy –, wenn er nicht sofort etwas unternahm.

Andrew lehnte sich an eine Mauer und hustete wieder. Er spuckte Blut auf den Weg. Er war kurz vor einer Ohnmacht. Im Taumeln – es ist nur in meinem Kopf, eine Auswirkung des Fiebers der Erschöpfung nach der durchwachten Nacht. Wie konnte dies real sein? – nahm er wahr, dass die High Street aussah, wie er sie in seinem Essay beschrieben hatte – wie im Jahr 1809. In der Mordnacht.

Kein Asphalt, keine Gehsteige. Ein schmaler Feldweg mit Furchen von den Kutschen und Karren und festgestampft durch Pferdehufe und Füße der Menschen. In ein paar Fenstern standen Lampen. Hinter dem schwachen Schein Dunkelheit. Die schwarze Nacht überspannte den Hügel, schlängelte sich zwischen den Bäumen hindurch. Hierher hatte Lord Byron Marys Leichnam getragen, um ihn abzulegen.

Asphalt. Ein Auto raste vorbei.

Der Schmerz in Andrews Hals war stärker geworden.

Mit einem Mal begriff er, was Harness mit ihm machte.

Er zwang ihn, die ganze Reise von Gesundheit bis zum Tod zu erdulden, dasselbe Leid zu erfahren, das die vernichtende Krankheit ihm angetan hatte. Nur Andrew würde das alles an einem einzigen Abend durchleben und sterben. Er berührte sein Gesicht; fühlte die Kante des Wangenknochens und fuhr sie mit der Fingerspitze nach. Das Fett war weggeschmolzen. Wunde Stellen entstanden in seinem Mund. Fieber brannte in seinen Wangen.

Harness würde ihn töten. Er würde sie alle töten.

Alle?

Was, wenn ich mich ihm freiwillig ausliefere?

War ihm diese Idee nicht schon einmal durch den Kopf gegangen? Und Fawkes hatte sie ihm ausgeredet. Aber Fawkes hatte nicht immer recht. Fawkes wusste nichts von dem toten Daniel Schwartz, von der Überdosis, von dem Aufsteigen in einem Ballon und dem brennenden Gefühl, dass man den Tod verdiente, dass man dazu bestimmt war. Fawkes wusste nicht, dass sein Vater das Kanu verkauft und gedroht hatte, dass er fertig mit seinem Sohn war. Fawkes liebte sich selbst und konnte es nicht ertragen, etwas von sich zu geben. Er ahnte nicht, was Andrew gerade klargeworden war – dass er nirgendwohin gehörte und nie irgendwohin gehören würde.

Der Gedanke wurde immer klarer.

Wenn ich mich ausliefere, lässt Harness die anderen vielleicht in Ruhe. Er will mich. Ich muss ihn nur wissen lassen, dass er mich haben kann, wenn er die anderen zurückgibt.

Andrew schwankte weiter über den moosbewachsenen Gehsteig und stützte sich an den Platanen ab, um zu verschnaufen. Sein Atem kam stoßweise. Das Fleisch auf seinen Knochen war geschwunden.

Er war ausgemergelt.

Möglicherweise hatte er nicht mehr die Kraft, zum Lot zu gelangen. Er sah ein Auto um die Kurve kommen, es blieb an der Ampel auf dem Hügel kurz stehen. Andrew warf sich auf die Straße und hob eine Hand. Die Scheinwerfer blendeten ihn.

»Können Sie  …« Der Rest des Satzes erstarb auf seinen Lippen. Können Sie mich mitnehmen – nur ein paar Blocks? Der Schmerz in seiner Kehle war unerträglich  – ein Dolchstoß. Noch schlimmer war das entsetzte Gesicht des Fahrers. Er war in den Vierzigern, muskulös in einem Trägerhemd – offensichtlich kam er aus dem Fitnessstudio und war auf dem Weg nach Hause. Er war drauf und dran, Andrew zu antworten, besann sich jedoch eines anderen. Er sah eine hagere Gestalt mit eingefallenen Wangen; dunkles Haar, ein kantiges Gesicht. Der Junge –  falls man das, was er vor sich hatte, so bezeichnen konnte – sah aus wie etwas, was man gerade exhumiert hatte. Doch das wirklich Angst Einflößende waren die Augen. Sie lagen tief in den Höhlen und starrten ihn mit dumpfer Verzweiflung an; dieser Blick bat um etwas, drückte aber gleichzeitig aus, dass sein Flehen vergeblich war; dem Jungen ging es ums nackte Überleben. Der Junge in dem eigenartig altmodischen Gehrock murmelte etwas. Der Fahrer schaltete in den Leerlauf und ließ den Wagen ein Stück bergab rollen – weg von der Gestalt, die ins Scheinwerferlicht gesprungen war –, dann gab er Gas. Erst aus sicherer Entfernung warf er einen Blick zurück. Hatte er geträumt? Er verwarf den Gedanken, die Polizei oder die Ambulanz zu rufen. Stattdessen wollte er so schnell wie möglich nach Hause und die Haustür fest verschließen.

»Halt, halt!«, unterbrach Fawkes.

Father Peter sah ihn verständnislos an. Er hatte mit nach jahrelanger Schulung kräftiger Stimme gelesen, die normalerweise bis in die letzten Bänke einer Kirche trug. Sie standen in Andrews verwinkeltem Zimmer. Auf dem Schreibtisch lagen die Reste von Andrews Recherche: Ausdrucke mit markierten Textstellen. Neben dem Schrank stand eine große, hastig gepackte Reisetasche mit offenem Reißverschluss.

»Wir sind hier falsch«, sagte Fawkes und runzelte die Stirn.

»Es ist vorgeschrieben, bei diesem Ritual die wichtigsten Räume des Hauses zu segnen«, widersprach der Geistliche. »Sie sagten, der Geist sei Andrew hier erschienen …«

»Ich weiß«, räumte Fawkes ein.

»Piers, entscheiden Sie sich«, sagte Dr. Kahn.

»Der Keller«, entgegnete er – endlich war er dahintergekommen, was ihn die ganze Zeit beschäftigt hatte. »Die Zisterne. Als wir sie fanden, als ich die Wand aufbrechen ließ, fingen Andrews Probleme erst richtig an. Dort ist der Geist am stärksten. Dort können wir ihn austreiben.«

»Der Raum war ihr Schlupfwinkel«, stimmte Dr. Kahn ihm zu. »Das Versteck von Byron und Harness«, erklärte sie dem Priester.

Dr. Kahn und Fawkes sahen Father Peter fragend an.

»Also schön.« Der Priester seufzte. »Wir beenden nur noch dieses Gebet. Herr, wie viele Widersacher ich auch habe. Wie viele sich gegen mich erheben …«

»Peter«, drängte Fawkes ungeduldig. »Jetzt sofort.«

Die Handwerker hatten angefangen, die durchbrochene Wand zu reparieren. Bei der Angst, die die Schule inzwischen beherrschte, und der Drohung des Rektors, die über Fawkes schwebte, wurde jedes historische Interesse an dem verborgenen Zisternenkeller zu Gunsten der kurzfristigen Verbesserung der allgemeinen Stimmung beiseitegeschoben. Der Flur im Keller war vollgestellt mit Baumaterialien und Werkzeugen, die sich an den Wänden stapelten. Der Boden war von mit Farbe bespritzten Laken bedeckt. Bretter, die die Wand verstärken sollten, Putz in Tuben, der die Lücken füllen würde, Kellen und Sandpapier zum Glätten. Reg hatte zufällig ein passendes Holzpaneel gefunden und in das Loch eingepasst.

Andrew fühlte, dass sein Atem flacher und flacher wurde. Das Fieber nahm ihm fast die Sicht, und er musste gelegentlich den Kopf schütteln, um seine Umgebung im Blick zu behalten. Zum Glück – oder war es seinem miserablen Zustand zu verdanken? – sah er keinen Mitschüler, als er in den Keller ging und alle paar Schritte stehen blieb, sich an die Wand lehnte, um sich ein wenig zu erholen, und auf seine Atmung lauschte. Das Gurgeln. Er hatte nicht mehr die Energie, Angst zu empfinden. Er verspürte nur noch Erschöpfung und den Wunsch nach Erleichterung  – einer kalten Kompresse, einem kühlen Bett oder nach etwas anderem. Dem Tod. Bisher war der Tod für ihn abstrakt gewesen, etwas, was Großeltern passierte, nicht einem selbst, nicht auf einer feuchten Kellertreppe in England. Als er den Kellerflur erreichte, war sein Gesicht mit Schweiß bedeckt. Er zog schwach an dem Holzpaneel. Es gab nicht nach. Er legte sich daneben auf das schmutzige Laken. Er schloss die Augen und ruhte sich aus. Vielleicht starb er hier. Allein.

Persephone und Roddy. Sie starben auch allein. Nur kannten sie keinen Ausweg. Andrew sah wenigstens eine Möglichkeit, das Schicksal für sie alle abzuwenden. Er verstand oder vermutete zumindest, dass seine Selbstaufgabe die anderen retten könnte. Harness hatte die ganze Zeit nur ihn gewollt. Harness war hungrig. Sollte er Andrew verschlingen. Dies war vielleicht seine einzige Gabe: seine Fähigkeit, dieses Rätsel zu verstehen und zu lösen. Nach einer Weile unternahm er einen zweiten Versuch. Er krallte die Finger um den Rand des Paneels und warf sich nach hinten. Endlich bekam er das Brett frei. Es gelang ihm, seine geschwächten Beine durch das Loch zu schieben. Instinktiv zog er das Paneel hinter sich wieder vor das Loch. Er wusste nicht, wie er die Leiter hinuntergekommen war. Er war nicht einmal sicher, ob überhaupt noch eine Leiter da stand. Genauso gut hätten ihn die weiß leuchtenden Arme von Harness, seinem weißen Engel in der Finsternis, in die Tiefe tragen können. Er erreichte den Boden und spürte den feuchten Stein unter seinen Händen, die herausgemeißelten Rinnen, durch die Wasser in die Zisterne floss; den groben Sand. Es war kalt und unangenehm. Er legte sich hin. Er hatte es geschafft. Die Kälte war wunderbar – Balsam für sein Fieber. Auch wenn sich die Kanten des Steins in seine Haut bohrten. Auch wenn alles schmutzig war.

Er streckte den Arm aus, um zu tasten, wie weit er vom Loch der Zisterne weg war. Die Zisterne war voll. Kaltes, schimmerndes Wasser hieß ihn willkommen. Natürlich. Er schloss die Augen. Er konnte sich nicht mehr bewegen. Er lag auf dem Rücken und genoss den Frieden. Die Stille in dieser kalten Kammer.

Und dann hörte er es.

Hrr hrr hrr hrr

Hrch

Das Geräusch kam aus seiner eigenen Brust.

Hrch

Sir Alan hatte davon gesprochen. Vom Todesröcheln. Das Zeichen, dass es kein Zurück mehr gab, dass das Abgleiten in den Tod begann. Er fühlte seinen Sog.

Hrr hrr hrr hrr – einatmen.

Hrch – ausatmen.

Seine Atmung war schwach. Ein reiner Austausch von Gasen. Von ihm selbst war nur noch wenig übrig.

Millimeter für Millimeter richtete er sich auf, stützte sich auf die Ellbogen. Er glaubte, sich vor Anstrengung übergeben zu müssen. Er streckte einen zerbrechlichen Arm aus und zog sich an ihm hoch wie an einer Fahnenstange. Für einen Moment blieb er in dieser Position, der Ohnmacht nahe, halb schwebend, dann fiel er wie eine Statue ins Wasser.

Das Zisternenwasser umhüllte ihn mit einem Seufzen.

Das Fieber war gelindert.

Andrew Taylor stand bis zur Hüfte im kalten Fluss Cam, seine Füße im Schlamm.

Es war Sommer. Er war betrunken. Nackt. Strahlendblauer Himmel über ihm. John Harness planschte neben ihm. Ein angestautes Becken im Fluss Cam – einer ihrer vielen Zufluchtsorte. Andrews Körper war wiederhergestellt und gesund – er hatte Gänsehaut von der Kälte und der Erregung.

Harness – er zeigt mir, warum er zurückgekommen ist.

Er und Harness hatten sich nie zuvor geküsst; nur sittsame flüchtige Küsschen auf die Wange, die auch als Zeichen der Freundschaft gedeutet werden konnten. Na ja, nicht wirklich. Aber mit Lust hatten sie nichts zu tun. Doch der Alkohol machte es unausweichlich; es war nur eine Frage der Zeit; es schien, als würde sein ganzer Körper nach Harness greifen. Andrew hatte nie etwas Atemberaubenderes gesehen: blaue Augen, helles Haar, weiße Haut, wohlgeformter Körper. Harness war wie ein aus Marmor gehauener Flussgott; Andrew wollte ihn kennenlernen, ihn verzehren. Harness kam auf ihn zu, und ihre Gesichter trafen sich zu einem so hungrigen Kuss, dass sie sich fast bissen. Andrew zog sich zurück. Er fühlte etwas an seiner Hand, Treibgut im Wasser. Er hob es hoch und hielt es sich vor die Augen – eine späte Juniblüte; die Blütenblätter, so groß wie Fingernägel, waren rund und weiß und hatten einen schwarzen Rand. Ein Zeichen des Sommers. Zart, frisch und gut.

Er hatte sie schon einmal gesehen.

Er schaute Harness in die Augen und sah, was kommen würde.

Der sonnige, geschützte Platz im Cam verschwand. Die Zeit rief ihn an einen anderen Ort.

Und dies ist der Punkt, zu dem alles führte.

Er befand sich in einem kleinen Zimmer in London. Da waren ein Bett, eine kleine Kommode und ein Schrank mit zerbrochener Türangel. Mehr konnte sich John Harness nicht leisten. Draußen war es dunkel. Er wusste nicht, wie spät es war, Tag oder Nacht; es könnte vier oder fünf Uhr morgens sein. Die Totenwache dauerte an. Auf einem kleinen Tisch brannte eine einzelne Kerze – ein winziger Lichtpunkt. Harness lag im Bett; sein Kiefer bewegte sich in der Art, die dem Tod vorausging. Das weißblonde Haar strähnig, ungekämmt und lang. Die Wangen hohl. Das Todesröcheln. Außer dem jungen Mann, dessen Leben zu Ende ging, war kein Mensch da. Die Kerze flackerte und erlosch, das Zimmer lag im Dunkeln. Niemand zündete die Kerze wieder an. Das Todesröcheln hielt an. Als der Tag über London anbrach – Hufgetrappel und Stimmen auf der Straße laut wurden –, beleuchteten die Sonnenstrahlen, die durch den Vorhang sickerten, einen Toten.

Lobet den Herrn mit Harfenklängen, stimmt einen Psalm an und singt ihm ein neues Lied; blast die Fanfare … Die Stimmen zogen Andrew aus dem Sterbezimmer.

Er spürte das Wasser, seine Glieder. Er hatte kein Fieber mehr. Er schwamm in einem kleinen Becken. Er wusste, wo er war. Die Zisterne. Die Krankheit war weg. Er hatte überlebt! Der Gesang –  eine Handvoll dilettantischer, aber lauter und kräftiger Stimmen  – drang zu ihm. Er wünschte sich nichts mehr, als bei den Sängern zu sein.

Doch dann sah er Harness vor sich. Das weißblonde Haar trieb in dem schmutzig braunen Wasser, in dem Regenwasser, das Harness selbst in diesem Herbst über Harrow gebracht hatte. Sie schwammen gemeinsam. Sie waren noch immer im Kampf vereint. Harness’ Gesicht war grimmig. Die Augen funkelten vor Wut. Allerdings fiel Andrew auf, dass sie auch Verwirrung und Angst ausdrückten. John Harness hatte die Person, die er getötet hatte, nicht gekannt – jetzt wusste er, wer sie war. Ihm war nicht klar gewesen, welche Irrtümer er begangen hatte – mittlerweile wusste er es. Und er hatte nicht begriffen – hier in seinem Gefängnis, in dieser Höhle, außerhalb der Zeit –, dass er wirklich tot war.

Seine Augen verrieten, dass er alles verstand.

Das war Andrews Werk. Aber auch das Werk der Worte und Lieder, die in der Zisterne widerhallten. Fawkes, Father Peter und Dr. Kahn waren da. Sie führten das Ritual durch. Andrew war vielleicht gerettet.

Er teilt das Wasser des Meeres und türmt es zu beiden Seiten auf.

Harness’ Gesicht verzog sich. Die Gebete schienen ihn wütend zu machen. Er packte Andrews Arm. Andrew trat wild um sich – in dem schweren, mit Wasser vollgesogenen Gehrock ein unmögliches Unterfangen – und brach mit einer letzten Kraftanstrengung an die Oberfläche. Er schnappte nach Luft. Ein tiefer Atemzug.

Die Stimmen zögerten – hatten sie ihn gehört? Andrew füllte seine Lunge, um zu schreien. Erneut fasste Harness nach ihm und zog ihn in die Tiefe.

Andrew schluckte Wasser, fuchtelte mit Armen und Beinen, um sich freizukämpfen. Aber der Rock und die dicke Hose wurden zu einem nassen Fallschirm und zogen ihn immer tiefer. Zudem war Harness’ Griff wie ein Schraubstock. Luftbläschen strömten aus Andrews Nase. Panik bestürmte jede Faser seines Körpers. Er hielt sich am Rand des Beckens fest.

Dann erinnerte er sich.

Was, wenn er sich ergab?

Andrew ließ die zerklüfteten Zisternenwände los und spürte, wie er sank. Er hielt die Hände hoch, so dass Harness sie sehen konnte  – ich wehre mich nicht mehr. Andrew begegnete Harness’ Blick ein letztes Mal. Er versteht. Der Groll wich aus den durchdringend blauen Augen, und nach und nach verblasste er in der Dunkelheit. Harness war weg.

Andrew hatte gewonnen.

Wasser lief ihm in Nase und Mund. Er sank immer tiefer in das dunkle Wasser. Müdigkeit erfasste ihn, und er ließ alles geschehen.

Die drei Betenden hörten das Keuchen und wechselten Blicke. Hier war die Präsenz so kraftvoll, dass sie damit gerechnet hatten, Geräusche von dem Geist zu hören. Aber für diese Laute gab es noch eine andere Erklärung.

Fawkes sprach es als Erster aus: »Mein Gott, Andrew ist da drin!«

Er zerrte an dem Holzpaneel. Das wäre gar nicht nötig gewesen. Es fiel ihm praktisch wie von selbst in die Hände. Sie hatten keine Taschenlampe dabei, deshalb musste sich Fawkes blind in den Zisternenkeller kämpfen. Er trat die ausgebrochenen Gipsstücke mit dem Fuß weg und ließ sich in die Dunkelheit hinab. Er kam unten auf, taumelte und fiel rückwärts, blieb aber unverletzt. Der Boden war hart und glitschig. Der Kaplan folgte ihm, er war sportlicher, und ihm gelang eine elegantere Landung. Sie warteten, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Im ersten Moment verstand Fawkes gar nichts. Die Zisterne war voll. Neulich war sie fast ausgetrocknet gewesen, leer bis auf eine etwa dreißig Zentimeter hohe Pfütze und Schutt. Jetzt schwappte das Wasser über den Rand. Ein Arm und eine weiße Hand ragten heraus.

»Das ist er!«

Sie kauerten sich vor das Loch und zogen. Einen Menschen in nassen Kleidern aus dem Wasser zu hieven war harte Arbeit. Sie wurden nass und schürften sich die Knie auf dem Steinboden auf. Endlich gelang es ihnen, Andrew aus dem Wasser zu heben.

O mein Gott, er bewegt sich nicht mehr.

Fawkes schwirrte der Kopf. Er bekam kaum mit, dass Father Peter eindringlich auf ihn einredete. Er wurde weggestoßen und sah benommen zu, wie der Priester Andrews Brustkorb bearbeitete. Einige quälende Minuten vergingen, dann stand Father Peter auf – eine dunkle Silhouette  – und schaute auf Andrew nieder  … triumphierend? Verzweifelt? Ist er okay? Fawkes stürzte zu Andrew und zog ihn an sich. Hielt ihn in den Armen. Drückte ihn an sich. Er durfte ihn nicht gehen lassen. Er konnte es nicht. Er sprach mit dem Jungen, erstickte jedoch fast an den eigenen Worten. Andrews Haut war grün wie ein Fischbauch, sie schien mit dem schleimigen Wasser überzogen zu sein. Er starrte ins Leere. Doch sein Gesichtsausdruck brachte Fawkes zum Schweigen. Statt der Panik eines Ertrinkenden sah Fawkes, dass sich Andrews Lippen im Tod geteilt und die Mundwinkel leicht gehoben hatten, als ob ihm jemand ein Geheimnis ins Ohr geflüstert und ihn zum Lachen gebracht hätte.