7
The Wolf May Prey The Better
In dieser Nacht schauderte Andrew unter der Bettdecke. Der Regen schien bis auf seine Haut gedrungen zu sein und dort zu verharren. In dem Moment, in dem er Persephone das Geständnis abgelegt hatte, spürte er, wie die Kälte nach ihm griff. Als wäre sie eine Bestrafung, eine Warnung. Er verdrängte den Gedanken. Das war paranoid, krank. Doch seine Träume waren, als er endlich einschlief, fiebrig. Und als er später im Dunklen aufwachte, war er von dumpfer Angst erfüllt.
Im Haus war alles still. Der Tag war noch nicht angebrochen.
Andrew horchte. Nichts. Aber plötzlich – war er schon die ganze Zeit da gewesen? – entdeckte er einen Schimmer unter seiner Tür. Er starrte das Licht lange an. Sein Puls raste. Das Licht hatte die falsche Färbung, es war zu warm für die Flurlampe. Könnte es ein Feuer sein? Schließlich wurde ihm klar: Je früher er herausfand, was es war, umso schneller konnte er wieder schlafen. Trotz der Alarmglocke, die in seinem Kopf schrillte, stand er auf. Das kalte Linoleum klebte an seinen Füßen, als er die Tür aufmachte.
Vor seiner Tür stand eine brennende Kerze in einem Halter. Sie war die Quelle des weichen, orangefarbenen Lichts. Wie ein Angebot. Eine Einladung.
Er schaute nach links und nach rechts. Keine Schritte. Kein Kichern. Er bückte sich, um die Kerze aufzuheben, und trat dabei über die Schwelle.
Andrew taumelte.
Vor seinem Zimmer breitete sich ein großer Schlafsaal mit Betten mit zerknüllten Decken aus – Dutzende in windschiefen Reihen. In den Betten lagen Gestalten. Betten und Gestalten in einem großen, etwa zehn Meter langen Raum. Andrew fürchtete, in eine schreckliche Mordszene gestolpert zu sein, doch dann vernahm er ein Geräusch. Atemzüge, Stöhnen, Schnarchen. Er drehte sich hastig um. Die Tür zu seinem Zimmer war nicht mehr da. Stattdessen sah er eine Reihe Fenster mit zerschlissenen Vorhängen.
Er wandte sich wieder um. Am Ende des Schafsaals sah er ein Flackern.
Noch eine Kerze, deren Schein in einem Flur verschwand.
Gerüche stiegen ihm in die Nase. Er schreckte zurück. O Gott, was für ein Gestank! Urin, durchgeschwitzte Klamotten, modernde Matratzen, abgestandene Asche und Zigarettenrauch. Ein Geruch übertönte alle anderen. Er war schwer zu identifizieren: würzig, heuartig und gleichzeitig beißend. Was war das? Ein Quietschen aus einer Ecke gab die Antwort. Rattenscheiße. Er sah die Schatten. Jede Menge Ratten schnupperten und drängten sich zu haarigen Klumpen zusammen, ihre Krallen verursachten klickende Laute auf dem Dielenboden.
Andrew konnte nicht mehr zurück. Er hatte keine Lust, in Unterwäsche in dieser rattenverseuchten Kälte herumzustehen. Er nahm den Kerzenhalter, schützte mit der Hand die Flamme und durchquerte den Raum, um dem Kerzenschein nachzugehen. Wer immer dort auch sein mochte – und Andrew konnte nur raten –, beabsichtigte augenscheinlich, dass er folgte.
Andrew lief auf den Flur am anderen Ende des Schlafsaals. Er führte zu einer Treppe mit einem Geländer aus massivem Walnussholz und flachen, knarrenden Stufen. Die Gestalt muss hier hinuntergegangen sein. Andrew tat es ihr gleich. Nach einigen Treppenabsätzen kam er zu einer Tür. Unheildrohend mit einem verbeulten Messingknauf. Er öffnete die Tür. Wegen der Feuchtigkeit glatte Steinstufen führten abwärts. Andrew wagte sich einen Schritt vor. Die Temperatur fiel.
Er nahm vorsichtig die Stufen und fand sich in einer runden Kammer wieder, die aus dem soliden Felsen gehauen war. Die Wände waren rau und zerklüftet. Wasser sickerte aus einem Dutzend Löcher, die in die Wände geschlagen worden waren. Das Wasser sammelte sich auf dem Boden, der schräg zur Mitte abfiel. Dort befand sich eine Art tiefes Sammelbecken. Die schwarze Öffnung wie ein gezackter Mund mit aufgesprungenen Lippen, die das Wasser aufsaugten: eine Zisterne. Andrew starrte sie an. Man konnte leicht in dieses Loch fallen. Es war etwa drei Meter tief. Ein Blecheimer mit einem Seil stand zum Wasserschöpfen bereit. Er war so gebannt vom Anblick der Zisterne, dass ihm der Schein einer zweiten Kerze zuerst gar nicht auffiel.
»Terrify Babes, my lord, with painted devils«, ertönte eine Stimme. »I am past such needless palsy.«
Andrew sah ihn – er stand auf der anderen Seite der Zisternenöffnung. Der schmächtige Junge aus dem Duschraum, sein weißblondes Haar (jetzt trocken und gut erkennbar) hatte er hinter die Ohren gesteckt. Er trug ein Nachthemd. Seine Stimme zitterte unnatürlich und wirkte unwiderstehlich – eine Knabenstimme, die eine Frau nachahmte, durchsetzt mit kristalliner Grausamkeit und überlegener Verachtung.
»For your names of whore and murderess, they proceed from you – as if a man should spit against the wind: the filth returns in his face.«
Dann meldete sich eine tiefere, rauere, weniger sichere Stimme.
»Hast du deinen Text wieder vergessen?«, flüsterte er. »Your champion’s gone. Das ist das Stichwort. Dann sage ich: The wolf may prey the better. Ich liebe das. Zwar hab ich keine Ahnung, was das bedeutet, aber es klingt so niederträchtig.«
Was?, fragte sich Andrew. The wolf may prey the better? War an diesem Ort sogar die Sprache konfus? Verwirrt machte er, ohne nachzudenken, den letzten Schritt in die kalte Kammer.
Der Junge umrundete das tückische Loch der Zisterne. und legte Andrew die Hand an die Brust – die Geste eines Erwachsenen; noch mehr Theater, nur spielte der weißhaarige Junge dieses Mal eine Mätresse oder Ehefrau, die an der Brust eines geliebten Mannes nach langer Trennung zusammenbricht. Andrew stand still und ratlos wegen der wechselnden Persönlichkeiten da.
»Vergisst du das immer?«, fuhr der weißhaarige Junge fort. »The wolf may prey the better. Ihr Kämpe ist Bracchiano. Ich nehme an, der Kardinal soll der Wolf sein. Aber ich male mir aus, dass sie der Wolf ist. Eine Wölfin.«
Kardinäle? Wölfe? Durcheinander und alarmiert wich Andrew zurück.
»Du«, brachte er heraus. »Du hast Theo getötet.«
Jetzt blitzten die Augen des Jungen – die Maske war weggerissen. Das Gesicht verzerrt und Zähne fletschend.
»Wer war es?«, schrie er. »Sag es mir!«
Andrew stolperte rückwärts, fiel gegen die Treppe. Der Junge stürzte sich auf ihn. Aber nicht, um ihn anzugreifen. Wieder ein Persönlichkeitswechsel. Er war wieder die unterwürfige Geliebte.
»Du bist gekommen, du bist gekommen«, schwärmte er und drückte die Wange an Andrews Brust. Zu seiner eigenen Überraschung gab Andrew für einen Moment dieser Geste nach; er wurde sich bewusst, wie wenig Körperkontakt er in dieser Schule gehabt hatte. Niemand umarmte ihn; es gab kaum einen Händedruck – nichts. Sein Körper reagierte unwillkürlich auf den weißhaarigen Jungen, genoss den Druck eines anderen Körpers. Sehnsucht erwachte, er war nicht abgeneigt.
Jetzt lauerte der Junge über ihm und schaute ihm ins Gesicht, wie berauscht durch diese Nähe. Der Junge öffnete den Mund. Sein Atem war schwer. Andrew kämpfte, um sich bewegen zu können. Seine Beine waren lahm, die Arme wurden festgehalten. Die Augen traten aus ihren Höhlen. Lass mich aufstehen!, wollte er schreien, brachte jedoch kein Wort heraus. Der Junge schloss die Augen und senkte seine dünnen, geöffneten Lippen auf Andrews. Dann bewegte er die Hände und wand sich; Andrew fühlte, dass er ihm die Hose öffnete und die Hüften an seinen rieb. Der Junge beförderte ein Taschentuch zutage. Erregung, Angst und Widerwillen durchströmten Andrew. Mit von Konzentration und leichter Anstrengung gezeichnetem Gesicht setzte sich der Junge rittlings auf ihn und drückte. Andrews Augen flogen auf – oh, was geschieht hier? –, der Junge schlang das Tuch um seinen Hals und zog es fest. Andrew lag auf der Steintreppe, während sich der Junge, immer noch mit entschlossener Miene, an ihm rieb, auf und ab. Andrews Augen, sein Hals und der Schädel waren angespannt vom Druck des Blutes und des Sauerstoffmangels, doch dann baute sich ein Wonnegefühl in ihm auf, und ihm war, als würde er fallen. Der Junge beobachtete ihn; die schwarzen Augen glühten erfreut, neugierig. Die Hand hielt noch immer das Tuch, und Andrew glaubte, die Kontrolle zu verlieren – und er tat es mit einem Ächzen. Verblüffende Dankbarkeit überspülte ihn, dicht gefolgt von Scham. Dann zog sich das Tuch noch weiter zu, und seine Welt wurde schwarz.
Er wachte in einem schmalen Flur mit dünnem rotem Teppich auf.
Es war Tag.
Er musste dringend wohin. Er erhob sich schwer atmend. Er war gerannt, rannte noch. Er musste ihn einholen.
Um ihn herum ein donnerndes Geräusch, so laut, dass er den Verstand zu verlieren fürchtete. Es toste wie eine Brandung.
Er stolperte vorwärts, erreichte die hölzerne, lackierte Treppe und brach beinahe das Geländer ab, als er sich wie ein Bergsteiger hinaufhangelte.
Mit ungeheurer Anstrengung erreichte er trotz der Schmerzen die oberste Stufe. Er stand in einem anderen Gang, lehnte sich an die Wand, um zu Atem zu kommen, doch wieder bestürmte ihn der schreckliche Lärm, der auf sein Gehirn einhämmerte.
Und da war er, stand direkt vor ihm.
Seine Informationsquelle.
Grau und vornübergebeugt im Schatten, öffnete er eine Tür mit einem Schlüssel, der um seinen Hals hing.
Der Augenblick war gekommen.
Andrew näherte sich der Gestalt. Das Tosen wurde lauter. Zermalmend, unerträglich.
Andrew wachte schreiend in seinem Zimmer auf. Er spürte eine ungeheure Angst vor dem, was gleich geschehen würde. Und verstand, dass er fliehen wollte, es aber nicht konnte.
Die Gewalt wäre grässlich.
Rhys tauchte in blassgrünen Boxershorts auf. Was ist los? Er knipste das Licht an. Dann kam Roddy, packte Andrews Schultern und drückte ihn aufs Bett. Beruhige dich um Himmels willen, du weckst das ganze Haus auf. Aber Andrew konnte sich nicht beruhigen, weil der Moment, in dem das Schreckliche passieren würde, gekommen war. Er hatte es nicht gesehen, aber erahnt, und die einzige Möglichkeit, dieses Gefühl loszuwerden – sein Körper wusste das, selbst wenn es ihm nicht klar wurde –, war, zu schreien, immer und immer wieder aus Leibeskräften zu schreien. Roddy zog sich zurück und lachte unsicher, dann steckte er sich die Finger in die Ohren und grinste Rhys hilflos an. Schrei Zeter und Mordio!