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Die falsche Abzweigung

Am Morgen hatte Andrew wenig Zeit, über seinen Traum nachzudenken. Nur in den kurzen ruhigen Momenten. Als er seine Socken anzog oder in der Schlange stand, um sich Eier und die Kipper abzuholen. (Ja, hier gibt es tatsächlich die kalt geräucherten Heringe zum Frühstück, stellte er überrascht fest; sie waren gebraten, braun und fettig. Nicht gerade verlockend.) Seine Angst sprang ihn an, unvermittelt und deshalb noch beunruhigender, wie es Ängste zu tun pflegen  – nicht mit einer Behauptung (eine Nacht in einer Knabenschule, und man muss schwul werden), sondern mit einer Andeutung (Theo ist dir gestern ziemlich dicht auf die Pelle gerückt, hat dich überallhin begleitet, dir die Krawatte gebunden; Theo sieht gut aus – braungebrannt, stylish  … dann hattest du diesen Traum). Andrew würde es nie zugeben, aber sein früheres Internat, Frederick Williams, war ein richtig lauschiges Plätzchen. Die Lehrerschaft bestand aus Babyboomern mit liberalen Ansichten, die sie ihren Schülern aufzwingen wollten, indem sie zu Spenden für Haiti aufriefen oder einen Diversity Day veranstalteten, an dem sich eine Handvoll älterer Jungs und Mädchen als Angehörige der Studentengruppe Pride outete. Toleranz für Homosexualität wurde nicht nur offiziell gefordert, sie verankerte sich sogar. Während Andrew also gegen seine Schule rebellierte (weil er – nach Art von Holden Caulfield – glaubte, die Opulenz würde die Studenten irgendwie unter Druck setzen), hatte er diese amerikanische kulturelle Sensitivität verinnerlicht. Wieder zu Hause konnte er (behutsam) einen Freund oder Lehrer zur Rede stellen und über seine Ängste, seine Erfahrungen sprechen. Heute brauchte er sich nur umzusehen, um zu wissen, dass es in seiner gegenwärtigen Umgebung – die angespannten englischen Gesichter, die jahrhundertealten Traditionen, was Kleidung und Bezeichnungen (Churchill-Songs, Churchill-Gebäude; alles wurde nach einem längst verstorbenen ehemaligen Schüler benannt) betraf  – ein solches Feingefühl nicht gab; zumindest nicht für alle sichtbar. Er spürte zu Recht, dass Homosexualität in einer reinen Knabenschule die größte Sünde war. Je leichter es war, Grenzen zu überschreiten, umso größer war das Tabu. Er würde den lebhaften Traum für sich behalten.

Er hatte ohnehin keine Chance, darüber nachzudenken oder zu reden, weil er verschlafen hatte. Um ein Haar hätte er das Frühstück verpasst und kam zwei Minuten zu spät zum Unterricht – zu den Lessons – derangiert, ungewaschen und atemlos.

Das Klassenzimmer war klein und quadratisch. Einzelne Pulte waren wie Schlachtreihen aufgestellt (im Frederick Williams hatte es runde Tische gegeben  – wie egalitär). Im vorderen Bereich befand sich ein Podium (wie hierarchisch). Dort saß ein Lehrer mit übergeschlagenen Beinen still wie eine Statue. Dies war Andrews erste Unterrichtsstunde in Harrow. Für den Lehrer war es die tausendste. Mr. Montague. Silbernes Haar. Das Gesicht mit Altersflecken übersät. Eleganter, aber ländlicher grüner Anzug unter dem schwarzen Talar. Der Mund ironisch verzogen, die ohnehin hohen Augenbrauen hoben sich noch ein wenig mehr bei Andrews verspätetem Auftritt. Ein Platz war noch unbesetzt. Mr. Montague scherzte mit den anderen Jungs, während sie warteten. Das Geplänkel war durchsetzt mit respektvollen Sirs, und die frisch in die Abschlussklasse versetzten Jungs gaben eifrig Anekdoten zum Besten. Die Atmosphäre war freundlich, das fiel Andrew sofort auf. (Im FW behandelten die Schüler, Sprösslinge von Wallstreeters, die schlecht bezahlten Lehrer mit unterdrückter Verachtung, weil sie wussten, dass die Noten keine Rolle spielten und einem nicht halfen, Millionen zu machen, und dass die Lehrer demzufolge nur wenig besser als Bedienstete behandelt werden mussten.) Schließlich betrat ein strammes Bürschchen mit Pfirsichhaut und zerzausten, noch feuchten Haaren das Klassenzimmer. Guten Morgen, Utey, sagte Mr. Montague betont. Guten Morgen, Sir, erwiderte Utey mit rotem Kopf. Mr. Montague erhob sich und hielt ein Buch von Chaucer hoch.

»Die A-Levels stehen euch bevor, Kinder. Und dies ist genau die richtige Zeit, zu lernen, mittelenglische Texte zu lesen, richtig auszusprechen und zu kommentieren.« Er grinste wölfisch, als das erwartete Stöhnen ertönte.

Andrew fühlte sich verloren und war den ganzen Morgen immer einen Tick zu spät dran. Er rannte zum nächsten Programmpunkt. Die Tour der Neulinge. Eine Horde kleiner Jungs mit Hüten trabte zur High Street. Das muss es sein, dachte er, und erst als er näher kam, realisierte er, dass er einer Schar von Shells nachlief. Achtklässler. Andrew schloss sich ihnen an. Sie wurden von einem Harrow-Wahrzeichen zum anderen geführt. Er überragte sogar die größten Jungs und kam sich vor wie der riesige haarige Dummkopf, der fünfmal sitzengeblieben war. Vaz hatte recht – in der Oberstufe gab es keine Neuen.

Zuletzt kamen sie zu der bedrückend stillen Vaughan-Bibliothek, die eher einem Museum als einer Stätte zum Lernen und Studieren glich. Buntglasfenster und Vitrinen aus Plexiglas, in denen seltene Handschriften ausgestellt waren. Die Bibliothekarin – eine kleine, rundliche Frau in den Sechzigern mit orangefarbener Bobfrisur und der Ausstrahlung einer gestrengen Engländerin  – stellte sich mit dem Namen Dr. Kahn vor und begann mit einem fünfminütigen Vortrag, in dem sie die Jungs darauf hinwies, dass es in der Vaughan-Bibliothek verboten war zu essen, ehe sie ihre vorbereiteten Bemerkungen über die Schulgeschichte vom Stapel ließ. Andrew klinkte sich aus. Die kleinen Jungs wurden zappelig vor Langeweile. Wenigstens, bis das Mädchen in Erscheinung trat.

»Miss Vine, würden Sie nach vorn kommen?«, rief Dr. Kahn.

Plötzlich wurden alle aufmerksam und verrenkten die Hälse.

Es ist Zufall – oder ein Zeichen des guten Geschmacks –, dass Miss Vine die ursprüngliche Harrow-Uniform so umgewandelt hat, dass sie ein Mädchen tragen kann, fuhr die Bibliothekarin fort. Ohne Krawatte. Offener Kragen. Weiße Bluse – das Originalhemd ist natürlich aus Leinen. Ihr seht hier einigermaßen detailgetreu, wie ein Harrow-Schüler vor 1850 gekleidet war.

Namen und Daten konnten das Interesse von Zwölfjährigen nicht wecken. Miss Vine hingegen schon. Etwa einhundert kleine schmächtige Jungs mit klebrigen Fingern und ernsten Gesichtern standen auf, kletterten sogar auf die Bänke, um einen Blick auf sie zu erhaschen.

»Ich wusste gar nicht, dass es in Harrow überhaupt Mädchen gibt«, flüsterte Andrew seinem Banknachbarn zu, ohne den Blick von dem Mädchen zu wenden.

»Persephone Vine. Sie macht ihr A-Level-Jahr hier«, flüsterte der Junge.

Andrew glotzte wie alle anderen.

Dieses Mädchen war jede Aufmerksamkeit wert. Sie war knappe eins siebzig groß, hatte helle Haut, ein paar Sommersprossen auf der Nase, einen breiten, vollen Mund und exotische Augen: grüne Kleopatra-Augen mit einem katzenhaft trägen Blick. Sie stand mit den Händen auf dem Rücken vor der Versammlung, als wäre sie ein Krokodil, das sich in einem Terrarium zeigt. Ihre dunklen, wirren Haare mit den wilden Korkenzieherlocken waren zum Teil hochgesteckt, zum Teil fielen sie ihr auf den Kragen. Ihre Knochen waren zart. Sie kaute auf der Lippe, um ihren fleischigen Mund zu verbergen. Ihr Busen war allerdings der größte Blickfang für die Jungs. Die weiße Bluse, auf die Dr. Kahn so stolz war, spannte über den Brüsten. Einhundert Röntgenblicke versuchten, die Nippel auszumachen. Miss Vine erduldete leicht errötend den plötzlichen Tumult. Als die Bibliothekarin erkannte, was sie angerichtet hatte, winkte sie Miss Vine mit einem zerknirschten Das genügt, meine Liebe zurück zu ihrem Platz.

Andrew flüsterte: »Mädchen dürfen hier in die Schule gehen?«

Sein Nachbar zuckte mit den Schultern. »Die Tochter eines Hausvaters. Ein besonderes Privileg. Damit sie sagen kann, sie hat ihren Abschluss in Harrow gemacht.« Er stellte sich auf die Zehenspitzen, dann ließ er sich schmollend nieder. »Sie hat sich wieder hingesetzt.«

Andrew fühlte, wie sich sein Herzschlag beschleunigt hatte, redete sich jedoch ein, dass es sinnlos war. Ein solches Mädchen hatte bestimmt einen Freund. Und selbst wenn nicht, gab es hier jede Menge anderer, die sich um sie prügeln würden. Es war zu naheliegend – das einzige Mädchen in einer Jungenschule. Sie würde zweifellos alle Anstrengungen unternehmen, um zu zeigen, dass sie hier war, um zu lernen, nicht, um sich zu verabreden.

Während sie sich einige Zeit später in der Kapelle einfanden, schaute Andrew auf und sah, dass das Mädchen, Persephone Vine, ihn anstarrte. Erst hatte er es gar nicht gemerkt. Jetzt rief er sich seine Logik von vorhin ins Gedächtnis. Aber sie spähte weiterhin mit unverhohlener Neugier zu ihm, als wäre er eine begehrte Antiquität, die sie auf einem Flohmarkt entdeckt hatte.

Und später wartete sie auf ihn. Sie hob sich von dem Meer der blauen Jacketts ab, während sie die Tür für die Kleinen aufhielt und sie mit einem belustigten Lächeln durchwinkte. Die Jungs scharwenzelten um sie herum wie Welpen. Sie fuhr sich durch die Haare. Als Andrew näher kam, beobachtete er, wie ihr Blick auf ihn fiel.

»Du da! Junger Mann!«

Andrew war kundig genug, um die Aussprache der Oberschicht zu erkennen, und selbst wenn nicht, wäre ihm der gebieterische Ton aufgefallen.

»Hi«, grüßte er.

»Ich möchte mit dir reden. Moment  – wiederhole das«, befahl sie.

»Ich habe lediglich hallo gesagt.«

»O Gott, du bist Amerikaner!«, kreischte sie, als ob er ihr etwas angetan hätte.

»W-was?«, stammelte er. Die Shells drängten sich an ihnen vorbei. Die Kapelle hatte sich fast geleert.

»Es wird nicht funktionieren.« Sie musterte ihn nüchtern. »Schade. Dabei siehst du ihm so ähnlich.«

»Wie? … Wem sehe ich ähnlich?«, korrigierte er sich hastig. (Dies ist England, ermahnte er sich; sie registrieren, wie du dich ausdrückst.)

»Lord Byron«, erwiderte sie sarkastisch.

»Lord …«

»Ich weiß, du bist Amerikaner, aber von Lord Byron hast du sicherlich schon gehört, oder?«

Sie ließ ihm keine Zeit für eine Antwort und zog die Kapellentüren zu. Sie waren massiv, und Persephone musste sich anstrengen, doch als er ihr zu Hilfe eilte, fauchte sie: Ich mache das.

»Ja, ich habe von Lord Byron gehört«, sagte er.

Sie drehte sich um. »Was?«

»Ich sagte, ich habe von Lord Byron gehört«, wiederholte er lauter.

»Das macht dich bestimmt sehr stolz.«

Jetzt triefte ihr Tonfall vor Sarkasmus.

»Du hast mich danach gefragt.« Andrew war verärgert. Mädchen sollten netter sein als Jungs. Insbesondere zu ihm. Daheim wäre ein Mädchen mittlerweile neugierig auf ihn, ihre Stimme wäre herzlicher geworden …

»Du siehst aus wie er«, räumte sie ein.

»Wie Lord Byron?«

»Ja. Was meinst du, warum ich dich so angestarrt habe? Dachtest du, ich wäre an dir interessiert? Gott, ihr Harrow-Jungs seid alle so eingebildet, hab ich recht?«

»Ich bin neu«, murmelte er. »Also noch kein … echter … Harrow-Junge.«

»Ich bin überzeugt, dass du bist wie alle anderen«, entgegnete sie gelangweilt.

»Warum suchst du nach …«

»Jemandem, der Lord Byron ähnlich sieht? Wir suchen Darsteller für ein Theaterstück. Na ja, wir haben gesucht. Im Frühjahr. Für ein Stück über Lord Byron. Aber unser Hauptdarsteller musste die Schule verlassen. Ein sehr hübscher Typ und entsetzlich dumm. Ja, vielleicht war er doch nicht so hübsch, wenn ich ehrlich bin. Wie sexy kann man mit einem verdammten Strohhut aussehen?« Andrew wurde rot. Sie fuhr fort: »Das Rattigan-Society-Stück. Ein Original, dieses Mal. Nicht der übliche Shakespeare. Es handelt von Lord Byron … du weißt, dass Lord Byron Schüler in Harrow war?« Andrew nickte. »Das Drama wurde von einem Harrow-Lehrer verfasst. Piers Fawkes.«

»Piers Fawkes?«

»Du kennst ihn?« Zum ersten Mal schwang Interesse in ihrer Stimme mit.

»Er ist mein Hausvater.«

»Kennst du auch sein Werk?«

»Du meinst …«

»Er ist ein Poet«, beendete sie den Satz für ihn. »Er ist absolut brillant. Ich dachte, du hättest vielleicht etwas von ihm gelesen. Aber die Harrowianer sind nicht gerade bekannt dafür, dass sie sich mit zeitgenössischer Literatur abgeben. Ich mache mit.«

»Oh, du spielst Theater?«

»Ja, ich spiele Theater. Du bist ein wenig begriffsstutzig, selbst für einen Amerikaner.«

Als Andrew seine Sprache wiederfand, bemerkte er: »Das ist wirklich keine anständige Art, diese Frage zu beantworten.«

Ein Lachen entfuhr ihr wie unabsichtlich. Sie blieb stehen.

Andrew war ihr gefolgt. Sie waren die High Street entlanggegangen, bis sie bergab führte und grüner wurde. Jetzt hielten sie vor einer Einfahrt, die zu einem Backsteinhaus führte –  auch ein Studentenwohnhaus  – mit gelben gemauerten Kaminen und einem verwahrlosten Vorgarten.

»Wenn du in Piers Fawkes’ Haus wohnst, läufst du in die falsche Richtung«, erklärte sie deutlich sanfter. »Dies ist Headland.«

»Oh?«

»Das Lot ist da drüben.« Sie deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

»Oh, okay. Danke.«

»Hast du schon mal Theater gespielt?«

»Ein bisschen. Ich hab den Bösewicht in einem Stück mit dem Titel The Foreigner gespielt.«

Persephone äffte seine Aussprache nach. »Du bist so amerikanisch. Wenn du Schotte wärst, ginge es vielleicht. Byron hatte einen leichten schottischen Akzent. Aber Yank? Natürlich wollen sie alles großartig und heroisch darstellen, aber Byron hat nichts anderes gemacht als herumzuvögeln. Jungs und Mädchen. Ich spiele Augusta, Byrons Schwester – besser Halbschwester –, und mit der hat er auch gefickt. Mal sehen, wie viel die Zensoren zulassen. Tut mir leid, hab ich dich schockiert?«

»Nein«, log Andrew.

Nicht ihre Worte hatten ihn schockiert –  obschon er ahnte, dass sie das beabsichtigt hatte –, allerdings erstaunte ihn, dass ein so umwerfendes Mädchen sie so beiläufig aussprach. Es war fast wie Häresie. Mach nicht nieder, was ich so sehr schätze. Er erkannte in ihren Augen und in ihren fahrigen Bewegungen, dass sie wünschte, sie könnte sich davon distanzieren.

»Also  – kann ich es probieren? Nachdem ich so weit gegangen bin?«, sagte er und zwang sich zu einem Lachen, um zu zeigen, dass er sich über sich selbst lustig machte, weil er sie bis hierherbegleitet hatte. Sie blieb ernst.

»Was – willst du dich für die Rolle bewerben?«

»Ja.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ich kann dich nicht davon abhalten.«

»Was muss ich tun?«

»Frag Piers.«

»Mr. Fawkes?«

»Ja, Mister Fawkes«, äffte sie seinen Slang nach.

»Ich bin Andrew. Andrew Taylor.« Er hielt ihr die Hand hin. Sie ignorierte das. Stattdessen musterte sie ihn erneut.

»Ich bringe dich zu ihm«, erklärte sie schließlich. »Ich möchte mir das Verdienst, einen Byron-Doppelgänger gefunden zu haben, auf die Fahne schreiben und damit angeben. Das ist selbstverständlich metaphorisch gemeint.«

Andrews Puls beschleunigte sich. »Klar.«

Schließlich ergriff sie seine Hand und schüttelte sie, als hätten sie gerade ein Geschäft abgeschlossen. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und ging die Einfahrt hinunter.

»Kalispera, Andrea«, rief sie. Diese Sprache kannte er nicht.

Die Tochter eines Hausvaters. Offenbar lebte sie hier mit ihren Eltern, überlegte Andrew, während er Headland House betrachtete.

Als Persephone den Eingang erreichte, tauchte ein Gesicht in einem der Fenster auf und spähte argwöhnisch zur Auffahrt. Ein böser Blick traf Andrew. Kahler Schädel. Nickelbrille auf der Nasenspitze. Wütend bebende Nasenflügel. Das muss Mr. Vine sein. Andrew wich instinktiv zurück, als ob er das warnende Kläffen eines Hundes gehört hätte.

Nicht einer von meinen, lautete Sir Alan Vines Kommentar, während er Andrews Rückzug vom Wohnzimmerfenster aus beobachtete. Kein Fleisch auf den Schultern oder am Rücken. Lange Haare. Künstlerisch angehaucht. Noch dazu ein extremer Typ. Nein, der gehörte nicht zu seinem Haus, trotzdem lungerte er vor dem Haus herum. Und Sir Alan verstand, warum, wenn er einen Blick auf seine Tochter warf. Ja, sie hat sich auf der Straße mit dem Langhaarigen unterhalten. Alarmiert ging er näher ans Fenster, um besser sehen zu können. Die Erscheinung des Jungen – seine Frisur, die lässige Haltung – täuschte eine gegenkulturelle Einstellung vor. Darüber würde seine Tochter die Nase rümpfen, das wusste Sir Alan. Dennoch straffte er verärgert die Schultern.

Die Haustür fiel ins Schloss, und Persephones Begrüßung hallte durch den Flur.

»Wer ist dieser Junge auf der Straße?«, wollte er wissen.

Er ging in den Flur, um ihr zu folgen, aber sie war bereits die Treppe hinaufgepoltert. Wieder ein Knall; ihre Zimmertür. Ignorierte sie die Frage? Oder hatte sie ihn einfach nicht gehört?

Er ging wieder zum Fenster und starrte auf die Stelle, an der der Harrowianer gestanden hatte. Jetzt war dort nichts mehr; nur Hecken und Bäume.

Er runzelte die Stirn. Auf den werde ich ein Auge haben müssen. Andrew machte kehrt und schlenderte bergauf. Persephones unterschiedliche Verbalattacken hatten ihn erschöpft und zugleich erregt; er machte sich Vorwürfe, weil er auf alle wie ein Trottel reagiert hatte. Er war so damit beschäftigt, sich jedes Wort der Unterhaltung ins Gedächtnis zu rufen, dass er nicht sofort begriff, dass er sich verlaufen hatte. Einer der anderen Neulinge hatte ihm erst am Morgen nachdrücklich erklärt, dass er bei der Weggabelung nicht die Straße einschlagen darf, die bergab geht. Die führt von der Schule weg. Und man verirrt sich sicher. Aber jetzt ging er hinauf –  anscheinend in die richtige Richtung –, und doch sah die Umgebung falsch aus. Hier gab es keine Häuser, keine Läden. Er fand sich an einem steilen Hang wieder – die Schulgebäude, die er am Morgen besichtigt hatte, befanden sich rechts unter ihm. Zu seiner Linken erhob sich eine Ziegelmauer. Vor ihm war ein hölzernes Tor, durch das man zu einer alten Steinkirche mit Friedhof gelangte. In das Holz auf der rechten Seite des Tores waren die Worte geschnitzt: Gesegnet sind die Toten, auf der linken stand: Die in Gott gestorben sind.

Andrew zögerte. Jemand hatte ihm erzählt, Harrow-on-the-Hill sei der höchste Punkt zwischen London und dem Ural. Hier auf dem Gipfel des Hügels konnte er das glauben. Er hatte das Gefühl, den wolkenverhangenen Himmel berühren zu können. Auf dem Friedhof rührte sich nichts. Nachdem er den ganzen Vormittag mit einer Meute umhergezogen war, zog ihn die Einsamkeit regelrecht an. Er passierte das Tor und folgte dem gewundenen Steinpfad. Verwitterte Grabsteine ragten aus dem Gras auf wie Finger. Dichte Bäume, Ranken und Farne umgaben den Friedhof. Hinter der Kirche entdeckte er einen Fußweg, der auf der anderen Seite den Hügel hinunterführte. Wieder zauderte er. Der Weg war überschattet von dicken Ästen und wirkte wie ein windstiller, verschwiegener Ort für verbotene Dinge. Aber es stank nicht nach Urin, nirgendwo lagen kaputte Crack-Pfeifen oder anderer Abfall herum, wie es Andrew erwartet hätte. Es ging bergab und nach links – genau dorthin musste Andrew, also machte er sich auf.

Ein Laut zerriss die Luft. Ein Knurren, ein Bellen. Andrew erstarrte und sah sich nach der Quelle der Geräusche um.

Dann fand er sie. Etwa zwanzig Schritte vor ihm hockte ein Mann rittlings auf einem anderen, der flach auf dem Rücken lag. Der Liegende gab diese seltsamen Geräusche von sich. Der Angreifer trug einen langen, viel zu weiten Gehrock mit Frackschößen. Knurrend vor Anstrengung. Das Gesicht des Angreifers erschreckte Andrew. Die Augen quollen aus den tiefliegenden Höhlen – leuchtend blau. Die Haut war gruselig grau. Langes blondes Haar –  fast weiß wie bei einem Albino – hing ihm ins Gesicht. Einmal musste er seine Bemühungen unterbrechen, weil er husten musste, und Andrew hörte wieder den Laut, der ihn angelockt hatte. Das Husten kombiniert mit einem feuchten Klatschen. Der skelettartige Mann wischte sich mit der Hand über den Mund. Dann schaute er auf. Er starrte Andrew an.

Die blauen Augen durchbohrten Andrew sogar auf die Entfernung. Sie gehörten zu einem jungen Mann. Er wirkte ausgezehrt und krank: Er roch nach Tod.

Andrew wurde schlecht. Er taumelte zurück, drehte sich um und rannte davon. Doch nach ein paar Schritten hielt ihn etwas zurück.

Das Opfer. Die Gestalt auf dem Boden.

Die graue Hose und die schwarzen Schuhe waren Andrew bekannt vorgekommen.

Sie sahen aus wie Harrow-Kleidung.

Andrew machte halt und zwang sich kehrtzumachen.

Er näherte sich. Der Tatort kam in Sicht. Das Opfer lag reglos auf dem Rücken.

Kein Angreifer. Nichts rührte sich. Schwere Äste, um die sich Ranken schlangen, schirmten den Platz ab. Andrew ging weiter und sammelte mit jedem Schritt mehr Informationen.

Schwarze Krawatte.

Graue Hose.

Weißes Hemd.

Abgewinkelte Arme, einer lag schützend über der Brust.

Blut auf der rechten Wange.

Ein anderer Schreck fuhr Andrew in die Glieder, und er lief zu der liegenden Gestalt.

Noch ehe er den zerrissenen Harrow-Hut entdeckte, wusste er, dass er einen seiner Mitschüler vor sich hatte. Entsetzt starrte er das Gesicht an. Es hatte all seine Würde verloren: Steinchen und Erdkrümel klebten an Augenbrauen und Lippen. Die Augen waren nach oben verdreht. Der Mund stand offen  – ein Schwimmer, der nach Luft schnappte. Die Haut war durchsichtig weiß – schon jetzt war der Sonnenschein entwichen. Er erkannte den Jungen kaum wieder. Er kniete nieder und griff nach der schlaffen Hand, ließ sie jedoch schnell wieder los. Sie war kalt. Die Nägel hatten sich rötlich grau verfärbt. Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, klopfte Andrew den Körper ab und untersuchte ihn – Hals, Handgelenke, Brust –, er fühlte den Puls, die Atmung, suchte nach irgendeinem Lebenszeichen, als wäre Theo Ryders Leben ein Schlüsselbund, den er durch Abtasten finden konnte.