15

Sputum

Andrew stieg den Hügel hinauf, stolz wie ein Eroberer und herrlich schuldbewusst. Mit jedem Schritt erinnerte er sich jedoch mehr an die beklemmenden Schulvorschriften. Schüler in ihrem Sonntagsstaat – Gehrock und gestreifte Hose – gingen an ihm vorbei. Das Mittagessen war offensichtlich gerade vorbei. Er beschleunigte seine Schritte, überquerte die Straße und wurde um ein Haar von einem Krankenwagen, der mit kreischender Sirene über die Kuppe schoss, überfahren. Er sprang auf den Gehsteig und stieß gegen Rupert Askew, den gottesanbeterinähnlichen Redner vom Essay Club.

»Was für ein Anblick, Taylor. Du kommst gerade zurück? Du wirst gekreuzigt, wenn du dich so blicken lässt.«

Andrew setzte seinen Weg fort und strengte sich an, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Er brauchte eine Weile, bis er realisierte, dass der Krankenwagen, der gerade an ihm vorbeigerast war, in die Einfahrt des Lot zurücksetzte.

Er fing an zu rennen. Als er durchs Tor lief, stand der Krankenwagen vor dem Eingang. Ein Sanitäter stürmte ins Haus. Ein Notarzt folgte ihm mit einer Arzttasche.

Andrew kam ins Foyer. Alles war eigenartig ruhig. Dann ertönten Stimmen in einem der oberen Stockwerke. Er ging hinauf. Mit jedem Schritt vernahm er die Stimmen deutlicher.

Kannst du mich hören, Roddy? Warst du krank?

Roddy, hast du irgendwelche Medikamente eingenommen?

Durchsuchen Sie seinen Schrank und das Nachtkästchen – sind dort Pillen oder so was?

Roddy, kannst du mich hören? Weißt du, wo du bist?

Andrew erreichte den obersten Treppenabsatz und sah Rhys vor Roddys Tür. Der Haussprecher biss sich ängstlich auf die Lippe und starrte unverwandt in das Zimmer. Er trug sein weißes Hemd und eine schwarze Seidenweste. Ein Sanitäter in Overall hielt die Tür auf.

Gut, wir müssen ihn in die Klinik bringen. Haben Sie die Tasche? Dann mal los. Hilf mir. Der Notarzt winkte Rhys heran.

Rhys verschwand in Roddys Zimmer. Andrew wagte sich näher heran. Die beiden Sanitäter schoben ihre Arme unter Roddy –  auch in weißem Hemd und gestreifter Hose –, um ihn auf die Trage zu heben. Roddys Gesicht war von einer schwarzen Latexmaske, die der Notarzt festhielt, halb verdeckt. Die Maske war mit einem Gebilde verbunden, das an einen schwarzen Punchingball erinnerte und sich zusammenzog und wieder aufblähte. Rhys packte die Griffe an einem Ende der Trage.

Mach den Weg frei, schrie der Sanitäter Andrew an.

Andrew wich zurück an die Wand im Flur. Rhys und der Sanitäter ächzten, als sie die Trage mit dem festgeschnallten Roddy hochhoben und aus dem Zimmer trugen. Der zweite Sanitäter ging nebenher und drückte die Maske auf das Gesicht des Patienten. Andrew erhaschte einen Blick auf Roddy. Seine Haut war wächsern. Als er Andrew entdeckte, wurden seine Augen groß. Er versuchte, etwas zu sagen, und streckte die Hand nach Andrew aus. Ruhig liegen bleiben, warnte der Sanitäter.

»Warten Sie!«, schrie Andrew. Er folgte ihnen, während sie die Trage die Treppe hinunter ins Foyer und schließlich ins Freie brachten.

Fawkes –  in Blazer mit Krawatte  – wäre um ein Haar mit der Gruppe kollidiert. Er hatte den Krankenwagen gesehen und eilte ins Lot.

»Wer ist das? Guter Gott, was ist passiert? Rhys?«

Schweiß rann Rhys über die Wangen. Er half die Trage in den Wagen zu schieben, dann wischte er sich die Stirn ab und wandte sich Fawkes zu.

»Ich war in meinem Zimmer«, keuchte er. »Ich hörte einen dumpfen Aufprall und ging zu Roddy. Er rang um Atem. Ich setzte ihn auf. Er hatte nichts verschluckt  – nichts blockierte seine Kehle. Ich wollte Matron holen. Aber es wurde schlimmer. Dieser Husten.« Rhys’ Gesicht verzerrte sich. »Es klang fast … wie ein Bellen.«

»Bellen?«, wiederholte Fawkes.

»Und da war noch etwas.« Der Gesichtsausdruck des zuverlässigen, freimütigen Rhys Davies offenbarte, dass ihm dieses noch etwas großes Unbehagen bereitete.

»Irgendetwas … ging in dem Zimmer vor sich. Nichts Gutes.«

»Was?«, wollte Fawkes wissen und wechselte einen Blick mit Andrew.

»Kommt jemand von Ihnen mit?«, schrie der Krankenwagenfahrer, ehe er seine Tür zuzog.

»Ich begleite ihn.« Fawkes kletterte hinten in den Wagen. »Rhys, sag Mr. Macrae Bescheid und richte ihm aus, dass ich ihn später anrufe.«

Der Sanitäter schloss die Hecktüren, und das Blaulicht drehte sich wieder. Das Fahrzeug piepste, als es rückwärtsfuhr. Die Jungs, die noch auf dem Weg vom Speisesaal zum Lot waren, liefen vor dem Auto auseinander. Einige drängten sich um Rhys, der noch einmal erzählte, was vorgefallen war: Roddy war plötzlich erkrankt, der Notarzt musste verständigt werden. Die Gesichter der Jungs wurden ernst.

»Ist es dieselbe Krankheit, die Theo hatte?«

»Ist es eine Epidemie, Rhys?«

»Sollte die Schule evakuiert werden?«

Die Jüngeren plapperten verängstigt drauflos. Rhys ermahnte sie, sich zu beruhigen. Es gibt nichts, was euch beunruhigen müsste. Roddy wird wieder gesund –, ehe er sich auf den Weg zu Mr. Macrae machte. Andrew lief ihm nach.

»Was, zum Teufel, ist los?«, rief Andrew aus, als sie außer Hörweite der anderen waren; er wollte seine Furcht vor den Jüngeren nicht zeigen. »Was genau hast du gesehen?«

»Ich kam in das Zimmer und hatte schlagartig das Gefühl, unter Drogen zu stehen«, sagte Rhys. »Es war schrecklich. Eine Wolke. Nebel.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Eine Minute später war alles wieder normal. Nur Roddy krümmte sich auf dem Boden. Keine Ahnung  … vielleicht war ich für einen Moment weggetreten.« Sie erreichten Macraes Haustür. »Du gehst besser zurück«, sagte er zu Andrew.

»Warum?«

»Du machst, so angezogen wie ein Zuhälter, alles nur noch schlimmer.«

Rhys kehrte Andrew den Rücken zu und klopfte an Macraes Tür.

Andrew eilte in sein Zimmer, um sich umzuziehen. Jetzt waren nur noch zwei Zimmer an dem kleinen Flur belegt. Seines und das von Rhys. Roddys und Theos waren verwaist.

Die Schüler schlenderten herum und warteten auf Neuigkeiten. Der Gemeinschaftsraum war leer. Niemand hatte Lust, fernzusehen oder die Nase in die Bücher zu stecken. Im Billardzimmer hingegen herrschte großes Gedränge. St. John und Vaz hielten Queues in den Händen. Die kleineren Schüler blieben im Hintergrund. Der Plätzchenkorb war leergefuttert.

»Was hast du ihm angetan?«, forderte Vaz Andrew heraus, sobald der hereinkam und sich einen Platz suchte.

St. John grinste spöttisch. »Ich dachte, du würdest Roddy am Leben lassen. Er ist der Einzige, der noch mit dir spricht.«

»Fick dich«, knurrte Andrew.

»Sind das die einzigen Worte in deinem Vokabular?«

»Nein, ich kann auch sagen: ›Leck mich‹.«

»Eine erbauliche Konversation«, befand Vaz und versenkte die gelbe Kugel.

Geräusche auf dem Flur waren zu hören. Es wurde still im Billardzimmer. Der Rektor erschien in der Tür. Es dauerte einen Moment, bis die Jungs ihn erkannten, so ungewöhnlich war sein Anblick in dieser Umgebung.

»Jungs«, sagte Colin Jute.

»Sir«, murmelten sie alle gedämpft. Nicht so sehr aus Respekt vor ihm, sondern vielmehr, weil seine Anwesenheit nichts Gutes verhieß.

Roddy ist tot, dachten alle im Stillen.

»Taylor«, sagte der Rektor. »Ich muss dich sprechen.«

Andrew stand auf.

»Ist Davies da? Rhys Davies?«, wollte der Rektor wissen.

»Nein, er ist bei Mr. Macrae«, antwortete Andrew. Der Rektor bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Sir«, fügte Andrew hinzu.

»Gut, Jemand soll ihn holen. Du.« Der Rektor zeigte auf einen Schüler aus der Mittelstufe. »Sag ihm, dass wir am Tor auf ihn warten.« Der Junge rannte los. Der Rektor bedeutete Andrew mit gekrümmtem Zeigefinger, ihm zu folgen. Andrew fragte sich zusammen mit allen anderen Anwesenden, ob der Rektor seine letzten Worte Leck mich mitbekommen hatte – insbesondere St. John lachte sich bei dem Gedanken ins Fäustchen.

Sie warteten unter der Platane. Der Rektor sagte nichts. Was immer sein Besuch zu bedeuten hatte, es musste etwas Schlimmeres sein als tadelnswerte Redensarten.

Endlich kam Rhys zielstrebig und voller Energie über die Einfahrt – ein Haussprecher, der im vollen Sonntagsstaat bereit war, in Aktion zu treten. Jute sparte sich eine Begrüßung. Er drehte sich lediglich um und winkte sie zur High Street. In seiner Freizeitkleidung (graue Hose, grüne Jacke) wirkte er wie jemand, dessen sonntägliche Zeitungslektüre durch schlechte Nachrichten gestört worden war. Andrew trottete neben ihm her wie ein Gefangener. Er konnte nur vermuten, dass Roddy ernsthaft krank war oder dass er selbst wegen unerlaubter Abwesenheit gefeuert werden sollte und Rhys auch in Schwierigkeiten war, weil er ihn gedeckt hatte.

In Jutes Büro saß eine Frau. Schmächtig, in den Fünfzigern – eine Inderin mit vielen und langen schwarzen Haaren und einem modischen Baumwollkleid.

»Jungs, das ist Miss Palek.«

Sie stellten sich ihr vor.

»Ich komme von der Health Protection Agency«, sagte sie. Sie hatte eine besänftigende Altstimme und große, sanfte Augen.

»Geht es um Roddy?«, fragte Andrew ungläubig.

Sie schürzte die Lippen. »Es gab einen infektiösen Krankheitsfall, und wir glauben, dass Sie dem Erreger ausgesetzt waren.«

Andrew sank der Mut.

Ich bin Krankenschwester, fuhr sie fort. Sie arbeitete für die Health Protection Agency im nordwestlichen Bereich von London. Zu ihren Aufgaben, die sie sehr ernst nahm, gehörte, die Ausbreitung epidemischer Krankheiten zu verhindern oder zumindest einzudämmen.

Andrews Herz pochte.

Vor wenigen Wochen sei einer ihrer Klassenkameraden an einer Lungeninfektion verstorben, fuhr Miss Palek fort.

Rhys und Andrew nickten. »Theo Ryder.«

»Aber er litt unter Sarkoidose«, wandte Andrew ein.

Miss Palek nickte weise. »Ja, weil der Tod so plötzlich eintrat und die Ursache unbekannt war, haben die Mediziner vom Clementine Churchill Hospital – ein erstklassiges Haus – eine Untersuchung durchgeführt und Gewebeschäden entdeckt. Die Probe wurde zunächst als sarkoid diagnostiziert, doch um die Untersuchung zu vervollständigen, legten sie noch eine Kultur für das Mycobacterium tuberculosis an. Diese Tests waren positiv. Gestern kam das Ergebnis.«

Rhys konnte der Erklärung dank seiner Vorbildung besser folgen als Andrew und unterbrach Miss Palek entrüstet: »Moment mal – wollen Sie damit sagen, dass Theo an Tuberkulose gestorben ist? Hier?«

»Es ist denkbar, dass der Patient, da er aus Afrika kam, die Infektion mitgebracht hat«, sagte Miss Palek.

»Es gibt nur sehr wenige Tuberkulosefälle in England.« Jute zog die Nase hoch.

»Die meisten Erkrankten sind Aidspatienten oder stammen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara«, bestätigte Miss Palek, aber ihre Augen blitzten; der Snobismus des Rektors war ihr nicht entgangen. Sie setzte ihren Bericht fort.

Das Hospital informierte die HPA, als die Testergebnisse feststanden, und als Allererstes ließen sie die Datenbanken der Kliniken rund um die Schule überwachen. Als vor ein paar Stunden die Meldung kam, dass ein Schüler mit Tb-Symptomen wieder ins Clementine Churchill gebracht werden sollte, wurde er unverzüglich umgeleitet in ein noch besser ausgerüstetes Krankenhaus in London; und Miss Paleks Abteilung wurde informiert. Es war ihre Pflicht, die Umstände rund um den Fall zu erforschen, um festzustellen, welches Ausmaß die Epidemie bereits erreicht hatte.

»Also … «, stammelte Andrew, der allmählich begriff, »hatte Theo Tb.«

»Das ist richtig.«

»Und Roddy hat sie auch.«

Miss Palek zögerte. Offensichtlich war sie nicht befugt, den Namen eines Betroffenen preiszugeben. »Jeder, der Symptome einer aktiven Tuberkulose aufweist, wird in einer speziellen Station isoliert. Und wir müssen Vorsichtsmaßnahmen mit jenen ergreifen, die in unmittelbarer Nähe zu den Erkrankten leben, und untersuchen, ob sie ebenfalls infiziert sind.«

»Damit meinen Sie uns«, stellte Rhys fest.

»Isoliert?«, schrie Andrew. »Sie meinen, wir kommen in Quarantäne?«

»Bitte, erschrecken Sie nicht. Wie gesagt, nur diejenigen, die entsprechende Symptome zeigen – Fieber, Husten und Schäden am Lungengewebe –, müssen isoliert werden. Zum Schutz aller anderen. Der Gentleman, der den Patienten ins Clementine Churchill begleitet hat …«

»Fawkes«, fiel ihr Jute verächtlich ins Wort.

»Er ist ein schneller Denker und hat die Risiken sofort erkannt. Er nannte uns Ihre Namen.«

»Und damit besteht die Gefahr, dass eine Panik in dieser Schule ausbricht«, murmelte Jute verärgert.

»Eine Panik nützt niemandem«, pflichtete sie ihm bei. »Im Augenblick würde ich Ihnen raten, nur den Eltern der Betroffenen Bescheid zu sagen. Wir nennen das den inneren Kreis

»Das bedeutet, ihr Jungs müsst den Mund halten, sonst haben wir hier eine echte Krise«, sagte Jute.

»Den Mund halten? Worüber?«, fragte Andrew verwirrt.

Miss Palek lächelte verkniffen. »Wir empfehlen, dass Sie sich einer Untersuchung unterziehen.«

Da war es.

»Einer Untersuchung«, wiederholte Andrew.

»Wann?«, hakte Rhys nach. »Jetzt gleich? Hier?«

Statt eine Antwort zu geben, nahm Miss Palek zwei Klemmbretter aus einer Aktentasche, die neben ihrem Stuhl stand, und forderte sie auf, sie ins Royal Tredway Hospital zu begleiten … für derartige Fälle eine der besten Kliniken in Europa, warf Jute ein, und ganz bestimmt die beste in London … sie mussten unter Beobachtung gestellt werden und diese Formulare unterschreiben … es war alles nur zu ihrem eigenen Nutzen … Der Rest verlor sich im Nebel. Sie waren Figuren in einem Theaterstück, das von Miss Palek sorgfältig und von Jute widerstrebend inszeniert wurde. Andrew und Rhys unterzeichneten die Papiere. Dann wurden sie auf die Straße begleitet, wo ein Auto auf sie wartete. Der Fahrer legte einen weißen Mundschutz an, sobald er sie sah. Dann startete er den Motor. Miss Palek nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Auch sie schützte sich mit einer Chirurgenmaske und überreichte den Jungs auch je eine. Die Masken bestanden aus schwammartiger, faseriger Baumwolle mit kleinen Fältchen. Miss Palek sah sie erwartungsvoll an. Rhys und Andrew legten die Masken über ihre Gesichter und banden die rosa Bänder an ihren Hinterköpfen zusammen. Die Masken rochen nach Gummi. Plötzlich rückte das Luftholen schmerzhaft in Andrews Bewusstsein. Unwillkürlich zählte er die Atemzüge, als sie den Hügel hinunterfuhren  … eins, zwei  … und das Headland House passierten  … sechs, sieben  … Zum ersten Mal seit Wochen schien die Sonne auf die gelben Warnschilder an der Straße.

Andrew holte sein Handy aus der Tasche. Er hatte Fawkes’ Mobilnummer gespeichert. Er hob den Mundschutz an, um sprechen zu können, und drehte sich zum Fenster, damit niemand mithören konnte. Sie bringen uns in eine Klinik, weil sie denken, wir alle haben Tb – Tuberkulose. Können Sie in diese Klinik kommen? Rhys funkelte Andrew an und deutete mit dem Kinn warnend auf Miss Palek. Sie sind der Einzige, der versteht, was wirklich vor sich geht. Rhys sagte, er hätte etwas gespürt, als er in Roddys Zimmer kam. Harness!, zischte er. Wenn Sie uns nicht abholen, weiß ich nicht, was geschieht. Falls wir da nicht lebend rauskommen, schreiben Sie mir einen guten Nachruf, fügte er hinzu.

Er zählte weiter, als ob die Atmung aufhören würde, wenn er das Zählen einstellte  … elf, zwölf  … Der Wagen fädelte sich in den Verkehr ein. Andrew fiel auf, dass weder er noch Rhys von irgendjemandem berührt worden war, seit der Rektor sie aus dem Lot geholt hatte. Sie waren Parias.

Die Klinik befand sich in einem der besseren Viertel von London in der Nähe eines Blocks mit mehrstöckigen, vornehmen Stadthäusern. Der rote Ziegelbau aus der Vorkriegszeit stand an einer stark befahrenen Durchgangsstraße und war nur an einem bescheidenen Schild und einer flachen Laderampe als Krankenhaus zu erkennen. Sie parkten. Rhys und Andrew waren gezwungen, mit ihren Gesichtsmasken einen Block zu Fuß zurückzulegen – eine peinliche Vorstellung, und sie schämten sich in Grund und Boden, als eine skandinavische Touristenfamilie an ihnen vorbeiging und die Eltern ihre Kinder schützend an sich zogen.

Miss Palek entfernte kurz ihren Mundschutz und führte sie durch die Lobby und einen langen Korridor zu den Aufzügen. In den Fluren schwirrten Ärzte in weißen Kitteln, Pfleger, Schwestern und Verwaltungsangestellte mit Namensschildern herum.

Sie fuhren mit dem heruntergekommenen Fahrstuhl in den vierten Stock. Dort oben herrschte weniger Betrieb.

»Dies ist unser Lungenzentrum«, verkündete Miss Palek mit einer Spur Stolz.

Rhys und Andrew wurden von einer Schwester eingecheckt, und man erlaubte ihnen, die Masken abzunehmen. Sie gaben ihre Personalien an und beantworteten Fragen, dann wurden sie in einen Untersuchungsraum mit zwei Liegen und einem Vorhang dazwischen gebracht, wo sie ihre Kleider gegen ein Krankenhaushemd tauschen sollten. Sie gehorchten. Andrew störte, dass das dünne Hemd hinten offen war. Es verwandelte einen Bürger mit allen Rechten in einen Insassen  – einen Verdächtigen. Nach einer Weile kam eine andere Schwester herein und bat sie, ihre Kleider in Plastiktüten zu stecken, und nachdem sie die Tüten unter einem Schrank deponiert hatte, wusch sie sich sofort die Hände mit einem Desinfektionsmittel aus einem Spender.

Eine dritte Schwester, älter, grauhaarig und mit autoritärer Ausstrahlung, watschelte mit einem Klemmbrett in den Raum und bedeutete Andrew, mit ihr zu kommen. Er hustete.

Sie sah ihn alarmiert an. »Das klingt nicht gut.«

»Ah, ich hab gestern Abend zu viel geraucht.«

»Haben Sie diesen Husten schon lange?«

»Seit ich rauche.«

»Länger als einen Monat?«

»Sicher.«

Sie schnitt eine Grimasse.

»Bitte legen Sie Ihre Maske an«, befahl sie.

»Ach, kommen Sie …«, protestierte er. »Es ist ein einfacher Raucherhusten!«

Ihr Blick war unnachgiebig. Er gab sich geschlagen.

»Folgen Sie mir.«

»Viel Spaß«, wünschte Rhys, der sich auf die Liege fallen ließ und die behaarten Beine von sich streckte.

Die Schwester führte Andrew in eine kleine, kahle Kammer mit einem Untersuchungstisch und einer in ein Metallgehäuse eingelassenen Röntgenkamera, die an einem flexiblen, an der Wand befestigten Arm hin- und hergeschwenkt werden konnte. Die Schwester erklärte, dass sie Aufnahmen von seinem Brustkorb machen würden.

»Von meinem Brustkorb«, wiederholte er.

»Ganz recht.«

Er musste sich auf den Tisch legen, und sie verließ den Raum. Sie kam etliche Male zurück, um Andrews Position zu verändern. So entstanden Aufnahmen aus unterschiedlichen Winkeln. Das Vinyl des Tisches fühlte sich kalt an seinem bloßen Rücken an. Endlich erlöste sie ihn und begleitete ihn in ein anderes Untersuchungszimmer.

Dort wartete er in seinem windigen Hemdchen. Nach langer Zeit erschien ein Arzt. Er war Mitte vierzig, kräftig mit rasiertem Schädel und außergewöhnlich dichten Wimpern. Er stellte sich als Dr. Minos vor. Eine weitere Schwester kam herein, klein, mit Kurzhaarschnitt und doppelten Ohrringen. Sie trug einen Mundschutz und hantierte in einer Ecke. Sie riss die Plastikverpackung von Instrumenten auf. Andrew beobachtete sie argwöhnisch. Der Doktor legte einen Mundschutz an, so dass von ihm nur noch der kahle Kopf und diese üppigen Wimpern zu sehen waren.

»Ich werde jetzt einige Tests durchführen«, erklärte er. »Wir gehen die Sache dynamischer an als üblich. Sie haben Symptome.«

»Was?«, fragte Andrew. »Oh, Sie meinen den Husten? Ich hab der Schwester bereits gesagt, dass es ein Raucherhusten ist.«

Prompt verspürte er ein Kratzen im Hals und musste husten.

»Sie sind verschleimt«, stellte der Arzt fest.

»Oh, bitte«, gab Andrew aufgebracht zurück. »Wie groß ist die Chance, dass ich Tb habe?«

»Sie waren dem Erreger ausgesetzt – demnach besteht eine hundertprozentige Chance.«

Andrew riss die Augen auf.

Der Doktor lachte freudlos. »Ich weiß, was Sie denken. In England? In Harrow? O ja, mein junger Freund. Millionen Menschen tragen das Tb-Bakterium in sich. Es ist überall. In der Luft. In geschlossenen Räumen. In der U-Bahn. In Restaurants. Es wird durch Husten wie Ihren und Sputum verbreitet. Andere atmen es ein. In den meisten Fällen wird das Immunsystem mit dem Erreger fertig. Aber eben nicht immer.« Er schlug einen sanfteren Ton an, als er Andrews Unbehagen bemerkte. »Sie haben viel Zeit mit dem Ersterkrankten verbracht. Erzählen Sie mir, in welcher Beziehung Sie zu ihm standen.«

»Also hat Roddy Tb?«

Dr. Minos blinzelte. »Nehmen wir es einmal an.«

»Wird er wieder gesund?«

»Möglich. Die Krankheit ist weit fortgeschritten. Wussten Sie das?«

»Fortgeschritten?«

»Fieber. Körperliche Schwäche. Husten. Er hat Angst. Die sollte er auch haben.«

»Himmel.« Andrew schüttelte den Kopf. »Er war bis vor kurzem vollkommen in Ordnung.« Der Arzt zeigte sich überrascht, aber Andrew merkte das nicht. »Wo ist er?«

»Ich dachte, ich stelle hier die Fragen«, wies ihn der Arzt zurecht.

»Ist er hier?«

»Ich werde es Ihnen sagen, weil ich möchte, dass Sie meine Fragen ehrlich beantworten. Wenn Sie nicht die Wahrheit sagen – je mehr Sie mir verschweigen –, umso größer ist die Gefahr, dass Sie wie er enden.« Sein Blick warnte Andrew. »Ihr Freund liegt in einer Isolierstation. In einem Zimmer mit Vorraum, einem speziellen Belüftungssystem und ultravioletten Leuchten an der Decke, die das Mycobacterium abtöten. Und er bekommt jeden Tag eine ordentliche Portion Medikamente. INH. Rifamipicin. PZ und Ethambutol. Zumindest bis sich der Erreger als resistent gegen diese Mittel herausstellt. Soviel ich gehört habe, könnte er afrikanischen Ursprungs sein. Ja? Das erste Todesopfer?« Andrew dachte an Theo und seine sonnenverbrannte Familie. Er nickte. »Dann bekommt Ihr Freund Roddy Injektionen. Einige haben unerfreuliche Nebenwirkungen. Nierenschädigung. Sogar den Verlust des Hörvermögens. Also  – ich möchte, dass Sie ganz aufrichtig sind. Habe ich mich verständlich gemacht?«

Wieder nickte Andrew. Er fühlte sich einsam und eingeschüchtert von dem Arzt.

»Wie ist Ihre Beziehung zu Roddy?«

»Wir sind Zimmernachbarn.«

»In einem Schülerwohnhaus?«

»Ja.«

»Roddy und der andere Junge, der Südafrikaner – standen sie sich nahe?«

»Nein, nicht besonders.«

»Gar nicht?«

»Na ja, sie haben jahrelang in einem Haus gewohnt.«

»Ich werde deutlicher, Andrew. Schulen wie Harrow haben einen gewissen Ruf.«

»Okay.«

»Kennen Sie das Wort buggery in Amerika?«

Buggery bedeutete Anal- oder Oralverkehr. Andrew schnaubte. »Sehr komisch.« Der Blick des Arztes stellte klar, dass es ihm bitterernst war. »Ja, ich kenne das Wort«, antwortete Andrew sarkastisch.

»Haben Sie in Harrow mal etwas in dieser Richtung erlebt?«

»Nein.«

Andrews Gesicht glühte. Nein, abgesehen von dem Intermezzo in dem kalten Steinkeller, ob es nun real war oder nicht; nein, abgesehen von den Jungs mit den riesigen unbeschnittenen Penissen, die im Bad eine Vergewaltigung verüben wollten; nein, abgesehen von dem weißhaarigen Jungen mit dem verzerrten Gesicht, der ihm ein Taschentuch um den Hals geschlungen hatte …

»Oder etwas davon gehört? Sagen wir, zwischen Roddy und dem afrikanischen Jungen?«

»Nein. Warum fragen Sie mich das?«

»Hat sich Roddy mit HIV angesteckt?«

»Soll das ein Witz sein?«

Plötzlich kam ihm Dr. Minos sehr nahe  – Maske an Maske. »Sehe ich aus, als würde ich scherzen, Junge?«

Die Schwester schaute von ihrer Arbeit auf.

»Er ist siebzehn Jahre alt«, wandte Andrew ein. »Er ist hetero. Gesund. Nein. Ich meine, ich weiß nichts davon.«

»Nimmt er Drogen? Spritzt er sich was?«

Andrew hielt kurz den Atem an. »Definitiv nicht.«

»Und der andere?«

»Theo? Nein.«

»Was ist mit Ihnen? Haben Sie Analverkehr, oder spritzen Sie sich Drogen?«

»Nein.« Wieder lief sein Gesicht rot an. John Harness zählte nicht, sagte er sich. Er gehörte nicht zu den Lebenden. Und das Heroin – nun, das war Monate her, und er hatte es nur geschnupft. »Warum fragen Sie?«

Dr. Minos trat zurück. »Sie haben es selbst gesagt. An einem Tag kein Krankheitszeichen, am nächsten dem Tode nahe. Der Erreger ist sehr aggressiv. Wissen Sie, wie lange es normalerweise dauert, bis ein Tb-Patient solche Symptome wie Ihr Freund zeigt?«

»Nein.«

»Zwei Monate. Nach Ihrer Aussage, nach der Aussage aller, hat es bei Roddy nur vierundzwanzig Stunden gebraucht. Genau wie bei dem Ersterkrankten.«

»Theo.«

»Die einzige Erklärung ist, dass Roddy und Theo HIV-infiziert sind.«

Andrew schüttete den Kopf. »Das glaube ich nicht!«

Der Arzt lächelte bekümmert. »Wie gut kennen Sie die beiden Jungs?«

Andrew antwortete nicht, doch Dr. Minos schien das nicht zu stören.

»Sie hätten 1986 hier sein sollen«, sagte der Arzt. »Aus heiterem Himmel –  im Verlauf eines Sommers  – hatten wir erst zehn, dann zwanzig und schließlich viele Dutzende Tuberkulose-Patienten hier. Dabei ging es nicht um asiatische oder afrikanische Immigranten, die hergekommen sind, um Arbeit zu finden. Nein, es waren ordentliche Engländer – so schwach, dass sie nicht mehr gehen konnten. Viele Männer. Das Haus war voll. Wir mussten Betten frei machen und zusätzliches Equipment anschaffen und weitere Ärzte einstellen. Das Haus war überbelegt. Wir und das Pflegepersonal arbeiteten achtzehn, zwanzig Stunden täglich. Wir dachten, wir hätten es mit einer Epidemie zu tun. Ich ging todmüde nach Hause und konnte trotzdem nicht schlafen. Ich lag wach in meinem Bett und überlegte, wie wir London vor einer neuen Seuche bewahren können. Damals wussten wir noch nicht, dass HIV-Infizierte besonders anfällig für Tb sind. Das Immunsystem, das Sie und mich vor den Bakterien schützt, ist bei Aidspatienten geschädigt.« Er legte eine Pause ein. »Und auch jetzt ist das die einzige Erklärung.«

»Und wenn sie das HI-Virus nicht haben? Heißt das dann, dass es ein besonders bösartiger Erregerstamm ist?«

»Nein. Ein Tb-Erreger allein kann nicht derart potent sein. Wenn sie nicht mit HIV infiziert sind …« Dr. Minos zuckte mit den Schultern. »Dann weiß ich auch nicht …«

»Aber was ist mit Theo? Man hat uns gesagt, er hatte –« Andrew suchte nach dem Wort – »Sarkoidose.«

»Tatsächlich?« Er nickte. »Das ergibt einen Sinn. Der eine hat nekrotische Granulome, der andere nicht nekrotische.«

»Wie?«

»Auf dem Obduktionstisch sehen sie gleich aus. Eine Verwechslung. Beide verursachen Gewebeveränderungen in der Lunge. Die Lunge verwandelt sich sozusagen in Käse. Die Kultur von der Gewebeprobe hat den Irrtum sicher richtiggestellt.«

Andrew stellte sich vor, wie graue Klumpen von Theos Lunge in einer Petrischale vermodern. Ihm wurde übel.

Und plötzlich hatte er das Bild von John Harness vor Augen. Die eingefallenen Wangen, die weiße Haut. Den wilden, verzweifelten Blick.

»Dann ist der rasche Krankheitsverlauf ein Mysterium?«, bohrte Andrew weiter. »Etwas, was Sie sich nicht erklären können.«

»Stimmt.«

»Kann dieses – wie heißt es noch mal? Mycobacterium in einem Gebäude überleben? Zum Beispiel in einem Studentenwohnhaus?«

»Für wie lange?«

»Zweihundert Jahre?«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall.«

»Wie sieht man aus, wenn man Tb hat? Wenn man nicht oder nur unzureichend wie vor zweihundert Jahren behandelt wird?«

»Eine Behandlung wie vor zweihundert Jahren: Das habe ich in Afrika oft genug gesehen. Die Patienten sind zaundürr. Man hungert, weil man wegen der Läsionen im Rachen nicht essen kann. In einem späteren Stadium hustet man Blut. Aber an diesem Punkt …!«

»Die Atmung – ist sie rasselnd, ein Röcheln?«

»Das kommt vor.«

»Wie klingt das?«

Dr. Minos richtete den Blick zur Decke und überlegte. »Es gleicht dem Gurgeln einer Wasserpfeife«, sagte er. »Nekrotisches Sekret. Teigige abgestorbene Zellen, verflüssigt durch die Infektion.« Er musterte Andrew. »Warum wollen Sie das wissen? Haben Sie solche Symptome beobachtet?«

Andrew ignorierte die Frage. »Sind Menschen – lebende Menschen, die diese Symptome haben, ansteckend?«

»In hohem Maße. Selbst Verstorbene sind noch infektiös. Zum Glück hat sich der Pathologe, der die Autopsie am Ersterkrankten vorgenommen hat, nicht angesteckt.« Wieder sah er Andrew argwöhnisch an. »Gibt es da etwas, was Sie mir erzählen möchten?«

»Nein.« Andrew schüttelte den Kopf.

»Sicher?« Dr. Minos ließ ihn nicht aus den Augen.

»Ich bin nur neugierig.«

Wir tun unser Bestes, um Ihnen dieses Stadium zu ersparen. Sie erhalten hier die bestmögliche ärztliche Versorgung. Deshalb werden Sie zunächst einer vierteiligen Untersuchung unterzogen. Der erste Teil waren die Röntgenaufnahmen  … Andrew hörte nicht mehr zu. Sein Puls raste. Er erinnerte sich an die Gestalt, die sich über Theo gebeugt hatte. An das Ächzen und Röcheln. Schwester Rachel wird den nächsten Test durchführen, erklärte der Arzt. Er und die Schwester tuschelten miteinander. Etwas schräger. Ja, so. »Spüren Sie das?«, fragte er Andrew. Er zuckte zusammen, als er den Stich im Arm fühlte. »Wir spritzen eine winzige Menge Tuberkulin unter Ihre Haut und warten ab, ob es eine Reaktion gibt. Ein guter Standardtest. Aber er wird uns lediglich verraten, ob Sie jemals infiziert wurden, nicht ob die Infektion aktiv oder latent ist. Rachel wird Ihnen jetzt Blut abnehmen für die Untersuchung Nummer drei.«

Andrew wandte sich ab, als ihm die Schwester eine Staubinde um den Arm legte, nach der Vene suchte, zustach und zwei Röhrchen mit seinem Blut füllte.

»Jetzt kommt Nummer vier. Rachel, ist alles bereit?«

»Kommt jetzt der lustige Teil?«, scherzte Andrew.

»Der Teil, der den Stich mit einer Nadel lustig aussehen lässt«, erwiderte der Doktor. »Eine letzte Ermahnung. Tun Sie, was man Ihnen sagt. Reden Sie nicht über die Untersuchung. Beunruhigen Sie die Leute nicht. Wenn Sie krank werden und unseren Anweisungen zuwiderhandeln, erwirken wir in null Komma nichts einen richterlichen Beschluss und eine Zwangseinweisung in die Isolierstation. Haben Sie mich verstanden?« Dr. Minos sah ihn ernst an. »Wir sperren Sie ein. Ganz recht. Wenn wir nicht Ihre volle Kooperation bekommen. Eine Schule ist der schlimmste Ort für Panik. Ich hab es erlebt – es ist chaotisch.« Er zog die Handschuhe aus und warf sie zusammen mit seinem Mundschutz in den Abfalleimer. Dann drückte er einen ordentliche Dosis Desinfektionsmittel auf die Handfläche und ging.

»Nur noch ein Test, wie?« Andrew täuschte Heiterkeit vor. »Wie schlimm kann der sein nach dem Blutabzapfen?«

Schwester Rachel hielt ihm die Tür auf. »Wir gehen in einen anderen Raum.«

Sie führte ihn zu einer Tür mit der Aufschrift SPUTUMINDUKTIONSRAUM. Rachel klopfte an und öffnete die Tür zu einem kleinen, rechteckigen Raum mit zwei transparenten Plastikkabuffs auf der rechten Seite. Sie sahen aus wie Minitelefonzellen. Eine Technikerin erhob sich und sprach leise mit Rachel über die Geräte.

»Gut«, sagte die Technikerin, eine kleine, schlanke Farbige, zu Andrew. »Setzen Sie sich in die Kammer, und atmen Sie durch diesen Schlauch.« Sie zeigte auf den ziehharmonikaartigen Schlauch, der in der Kammer hing. »Und dann füllen Sie den Becher mit Ihrem Sputum, dem Auswurf. Nicht mit Spucke. Nur mit dem dicken Schleim. In Ordnung?«

»Ganz und gar nicht«, erwiderte Andrew. »Was atme ich da ein?« Mit einem Mal hatte er Wahnvorstellungen. Pumpten sie ihn mit Tuberkulin voll?

»Luft mit Salzwasserdampf. Das stimuliert den Husten. Wir brauchen die Probe, damit wir eine Kultur anlegen können.«

Andrew begriff, dass er keine Wahl hatte, und setzte sich in die Kammer. Sie war sehr eng. Der Stuhl war niedrig. Er hörte die Motoren über seinem Kopf summen und spürte einen Zug in der Kammer. Eine Art Ventilator saugte die Luft aus der Kammer – um sie sauber zu halten für den nächsten Patienten. Er legte den Schlauch an den Mund und atmete ein. Und zuckte zusammen – es brannte im Hals. Aber es brachte ihn zum Husten, und er spuckte einen Schleimbatzen in den Becher. Die Technikerin nickte aufmunternd und sagte etwas. Aber er hörte sie nicht bei dem Summen. Er nahm noch einen Atemzug durch den Schlauch. Hustete wieder und spuckte. Sein Hals schmerzte. Rachel stand in der Ecke und sah ihm zu. Er starrte die Frauen aus seinem summenden Gefängnis an. Er war eingesperrt und beobachtete die Lebenden, die Gesunden, Freien. Plötzlich fühlte er sich John Harness verbunden. Die Einsamkeit eines Kranken. Und alle betrachten einen mit teilnahmslosem, angewidertem Blick. Sie sagen nicht: Der Ärmste, wie kann ich helfen? Sondern: Wie kann ich mich davor schützen, das zu bekommen, was er hat? Er saugte an dem Schlauch. Der Würgereflex setzte bei seinem fünften Versuch ein, beim neunten öffnete er den Mund und kotzte.