17
Tränen im Trinity
Andrew beschloss beinahe sofort, sich heimlich auf den Weg nach Cambridge zu machen. Aber er hatte nie die Absicht, Persephone mitzunehmen. Das hatte sich einfach ergeben.
Etliche SMS erwarteten ihn, als er ins Lot zurückkam, sie waren im Abstand von einigen Minuten seit seinem überstürzten Aufbruch zum Hospital eingegangen.
Du solltest anrufen, um mir zu sagen, dass du stirbst, wenn du meine Stimme eine Stunde lang nicht hörst.
Du hast es versäumt, das zu tun.
Eine labilere Frau würde Klamotten zerfetzen etc.
Ich lackiere meine Fußnägel.
Heute ist eine Menge passiert, textete er zurück.
Wirklich? Wichtigtuer. Erzähl.
Also rief er sie an und berichtete.
»Mein Gott, Andrew, sie glauben, dass du Tb hast? Wie auch immer …« Sie wurde ernst. »Das war bestimmt ein großer Schreck.«
»Der Geist verursacht diese Krankheit.«
»Das kann nur ein Scherz sein.«
Er legte ihr seine Argumente dar. Sie hörte ihm geduldig zu.
»Und was willst du tun?«, fragte sie nach einer Weile.
»Nach Cambridge? Wozu?«
»Um die Briefe, die ich gefunden habe, zu holen. Eine Wissenschaftlerin, die Dr. Kahn kennt, hat sie. Eine Archivarin. Ich muss erfahren, was drin steht. Sie haben etwas mit Harness zu tun. Das weiß ich.«
»Wann willst du losfahren?«
»Morgen ganz früh. Bevor die anderen mich sehen.«
Persephone schwieg einen Moment. »Warum steigen wir nicht heute Abend in einen Zug?«, fragte sie. »Gemeinsam?«
»Heute Abend? Wo sollen wir übernachten?«
»Agatha besucht das Trinity, schon vergessen? Sie wird uns ihr Zimmer überlassen. Sie verbringt sowieso die meisten Nächte bei Vivek.«
»Und was ist mit Sir Alan? Duldet er so was?«
»Ich schleiche mich aus dem Haus«, sagte sie, als wäre das die nächstliegende Lösung.
»Wird er das nicht merken?«
»Ich erfinde eine Ausrede.«
»Welche zum Beispiel?« Andrew war es gar nicht recht, Sir Alan in diese Geschichte irgendwie miteinzubeziehen.
»O Andrew«, gab sie zurück. »Er hat dich eingeschüchtert wie alle anderen. Ich weiß, wie ich mit Daddy umgehen muss.«
Andrew führte weitere Gründe an, warum es besser war, dass sie nicht mitkam. Er glaubte, dass Harness die Krankheit verbreitete, aber was, wenn er sich irrte? Wenn er selbst ansteckend war?
»Also keine Küsse«, sagte sie.
»Und der Unterricht?«
»Ich hab doch gesagt, dass ich mir was einfallen lasse.«
»Das klingt nicht, als bräuchtest du meine Erlaubnis.«
»Ich schicke Agatha eine SMS. Sie wird ganz aus dem Häuschen sein.«
Sie trafen sich am King’s Cross. Alle Cafés und Zeitungsstände waren geschlossen. Die Bahnsteige waren beinahe menschenleer. Der Acht-Uhr-einundvierzig-Zug nach Cambridge fährt auf Gleis acht ein, dröhnte es aus dem Lautsprecher. Andrew lächelte, als Persephone auf ihn zukam.
»Du hast es geschafft«, sagte er.
Sie schlang die Arme um ihn und küsste ihn – lang und leidenschaftlich.
»Wir haben gesagt: keine Küsse«, schalt er, als er nach Luft schnappte.
»Jetzt haben wir dieselbe Krankheit.« Sie grinste.
»Selber Haarschnitt. Selbe Krankheit.«
»Nichts kann uns trennen.« Sie verschränkte ihre Finger mit seinen.
Der Zug war leer. Persephone lehnte sich ans Fenster und legte die Beine auf Andrews Schoß. Die Lichter im Abteil flackerten. Sie beobachteten, wie erst London, dann kleinere Orte und die orangefarbenen und gelben Lichter an ihnen vorbeiflogen. Dann war alles dunkel.
»Ich hatte eine Abtreibung.«
Andrew blinzelte. »Was? Wann?«
»Letztes Jahr. Ich war schwanger von Simon.«
Andrews Brust wurde eng.
»Darauf hat Rebecca angespielt. So, jetzt weißt du’s.«
Andrew war sprachlos. All die Fragen, die er stellen wollte – Wie ist das? Tut es weh? Warst du danach erleichtert, oder hast du dich schrecklich gefühlt, wie die Abtreibungsgegner behaupten? So, als hättest du jemanden getötet? –, erschienen ihm zudringlich und falsch. Hieß das, dass Simon und ihre gemeinsame Vergangenheit für immer einen besonderen Platz in ihrem Leben einnahmen, einen Platz, den er selbst nie erobern konnte? Es war ein erbärmlicher, kindischer Gedanke. Trotzdem machte er ihm zu schaffen.
»Okay«, brachte er heraus.
»Willst du jetzt noch mit mir zusammen sein?«
»Ja.«
»Dann ist es gut.«
»Sonst noch was?«, fragte er.
»Vorerst nicht.«
Der Zug raste durch einen Bahnhof. Andrew erhaschte einen Blick auf Persephones Gesicht. Ihre Augen waren traurig. Vielleicht war dies die Antwort auf eine seiner Fragen.
»Ich hoffe, wir finden etwas in den Briefen«, wechselte er das Thema. »Roddys Zustand ist ernst. Und ich bin daran schuld.«
»Wieso? Du hast den Geist doch nicht durch Hexenzauber heraufbeschworen.«
»Wenn ich nicht nach Harrow und ins Lot gekommen wäre, würde Theo vielleicht noch leben. Und Roddy wäre nicht krank geworden.«
»Aber dann hättest du mich auch nicht kennengelernt«, sagte sie. »Mir ist kalt.«
Sie schmiegte sich an ihn, und er legte den Arm um sie.
Als sie den vergleichsweise kleinen Bahnhof in Cambridge verließen, kamen sie auf einen Verkehrskreisel. Dort waren Hunderte von Studentenfahrrädern an einem Ständer festgekettet. Sie gingen, hüpften beinahe Hand in Hand den Boulevard entlang. Persephone kannte den Weg von früheren Besuchen bei Agatha. Hin und wieder blieben sie stehen und küssten sich, drückten sich in Nischen oder Eingänge und steigerten ihre Vorfreude auf das Kommende. Andrew ließ sich treiben, gestattete sich diese kleine Flucht. Irgendwann nahm er am Rande wahr, dass die Straßen schmaler wurden und von Steingebäuden mit gotischen Fenstern gesäumt waren. Persephone ergriff seine Hände und schob sie unter ihre Bluse.
»O mein Gott, du hast keinen BH an. Ich verliere die Beherrschung.«
»Noch nicht«, flüsterte sie. »Erst oben.«
»Wir sind da?«
Persephone förderte einen Schlüssel zutage, und sie rannten die steinerne Treppe hinauf. Ein verstaubter Radiator verbreitete Hitze in Agathas Zimmer. Andrew nahm die Umgebung mit einem Blick in sich auf: Dickes Federbett, Fotos von lächelnden Freunden, ein Computer, Erkerfenster mit Blick auf die Trinity Street. Dann schaltete Persephone das Licht aus. Sie küssten sich und warfen ihre Kleider auf den Boden, Persephone drückte Andrew aufs Bett. Sie waren sehr rücksichtsvoll. Ist es so richtig. Soll ich noch ein Stück rücken? Persephone setzte sich auf ihn. Sie fingen langsam an. Andrew beobachtete ihr Gesicht. Sie hielt die Augen geschlossen und presste konzentriert die Lippen zusammen. Der Schein von der Straßenlaterne tauchte sie in fahles Licht – eine Winternymphe: schlank, hell, traurig. Ich liebe dich, sagte er. Sie hielt kurz inne, ansonsten reagierte sie nicht. Sie war auf etwas aus, was ihr sein Körper geben konnte, sie wollte ein Rätsel lösen, einen Preis erbeuten. Sie beugte sich zu ihm. Ihre Haare kitzelten sein Gesicht. Rutschte tiefer und drückte sich fester an ihn. Dann nahm sie seine Hände und legte sie auf ihre Brüste. Sie rieb sich an ihm. Ein Schaudern, ein langes Stöhnen. Sie warf sich nach vorn und vergrub das Gesicht an seinem Hals. Bist du okay? Sie kuschelte sich noch mehr an ihn. Ihre Schultern zitterten. Sie weinte. Tränen benetzten seinen Hals, das Ohr, die Wange.
Ein paar Sekunden später setzte sie sich auf und wischte sich lachend die Tränen weg. Ihr Körper fühlte sich weich an, mit der sandigen Glätte einer attischen Statue.
Sie seufzte. »Ich hab’s geschafft!«, verkündete sie. Und setzte verlegen hinzu: »Ich bin gekommen!« Ihre Augen funkelten. Sie kicherte, dann warf sie sich neben ihn aufs Bett. Das Licht von der Straße beleuchtete ihr Gesicht. Sie betrachtete die Decke, als wäre sie der Nachthimmel.
»Es fühlt sich echt gut an«, sagte sie erstaunt.
»Ich weiß.« Er lachte.
Sie sprang auf. »Ich muss Agatha anrufen.« Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Handy.
»Warte. Das kann nur ein Scherz sein. Jetzt?« Er stützte sich auf einen Ellbogen. »Und was ist mit mir?«
Sie klappte das Telefon auf.
»Ich muss es ihr sagen«, erklärte sie. »Es ist in ihrem Zimmer passiert.«
Sie dösten – Tiere im Winterschlaf. Der Wind peitschte die altmodischen Sprossenfenster, der Heizkörper strahlte Wärme aus, auf dem schmalen Bett lagen Agathas bestickte Kissen. Eigentlich hätte Andrew daran denken müssen, dass vor zweihundert Jahren Lord Byron ein solches Zimmer bewohnt haben musste, aber er tat es nicht. Vor acht Stunden war er zerschlagen und angeekelt von sich selbst aus dem Royal Tredway Hospital gekommen, und jetzt lag er an einem geheimen Ort glücklich, sicher und zufrieden in Persephones Armen. Er schloss die Augen und schlief sofort tief und fest; er war ein U-Boot, das in einen ruhigen Ozean abtauchte und durch Seegras pflügte; ein großer goldener Fisch mit schillernden Schuppen dümpelte außer Sichtweite im Dunkeln; Schatzkisten lagen im Schlamm.
Als er aufwachte, umwirbelte ihn die Luft, so dicht wie der Ozean. Nur ein kleiner orange glühender Lichtpunkt durchdrang den Nebel. Andrew starrte ihn verschlafen an und versuchte zu entscheiden, ob er zu seinem Traum gehörte. Oder kam das Licht von der Straße? Erst als es sich näherte, überkam ihn Angst. Es war eine Kerze. Dahinter eine Gestalt. In diesem Zimmer. Agatha? Hatte sie etwas vergessen? Sie würde keine Kerze brauchen, antwortete sein Verstand. Dann sah er ihn. Er war wieder nackt. Dieses Mal schneeweiß und hager; ein Hautlappen hing schlaff vom knochigen Brustkorb. Seine Haltung war gebeugt, und er bewegte sich nur zentimeterweise vorwärts. Die Lippen waren aufgesprungen, wiesen rote Flecken auf. Die Augen waren fast ganz in den Höhlen versunken, und jeder Atemzug war die reinste Qual. Er muss entsetzlich frieren, dachte Andrew und hatte plötzlich Mitleid. Harness starrte sie an – dies war der Blick einer Person, die den Geliebten mit jemand anderem im Bett vorfindet – nicht unerwartet. Dann konzentrierte er sich auf Andrew, dem ein eisiger Schauer über den Rücken lief. Er nimmt mich wahr. Andrew wollte sich bewegen, aber er war wie gelähmt. Harness stellte die Kerze auf den Boden. Die Matratze quietschte, als ein Gewicht sie niederdrückte. Er kann sich unmöglich zu uns ins Bett legen!, protestierte Andrew im Stillen. Wieder ein Quietschen, diesmal etwas schwächer. Er kann nicht mehr viel wiegen. Harness war ins Bett gekrochen und saß jetzt rittlings auf Persephone, dabei stützte er einen Arm neben Andrew aufs Bett. Sein Hüftknochen stand so weit vor, dass er einen Schatten warf. Er stank nach Urin wie ein Obdachloser und nach verwesendem Fleisch. Der weiße Kopf war nur Zentimeter von Andrews entfernt, und Andrew roch den faulen Atem. Harness beugte sich über Persephone. Sein schlaffer Penis streifte die Bettdecke. Andrew wand sich, kämpfte gegen die Lähmung an oder versuchte es, trotzdem konnte er nichts tun, nur stumme Schreie ausstoßen. Er wusste, was Harness vorhatte. Harness legte die Hände an Persephones schlafendes Gesicht, teilte ihre Lippen mit einem knochigen Finger und hauchte seinen feuchten, gurgelnden Atem in ihren Mund. Dann hustete er. Der Husten schien in den Hüften zu entstehen und sich wellenartig nach oben zu bewegen und bebend im Kopf zu enden. Harness wandte sich ab und drückte die Hand auf den Mund, als hätte er Schmerzen. Dann kam die nächste Welle – Hüften, Bauch, Brust, Hals. Harness gab ein Geräusch von sich, das klang, als würde jemand ein nasses Handtuch zerreißen, und erbrach etwas Zähflüssiges in Persephones Mund und über ihr Gesicht. Im Kerzenschein sah Andrew die Farbe des Schleims – er war blutrot. Harness schloss die Augen, seine Miene war schmerzverzerrt. Gleich darauf schaute er Andrew an. Seine Lippen waren blutverschmiert Der Ausdruck in den tiefliegenden Augen wirkte verzweifelt und anklagend, als wäre das alles Andrews Werk; seine Untreue zog diese tragischen Konsequenzen nach sich, und Harness sah sich lediglich als ausführendes Organ. Ein Quietschen. Die Erscheinung verließ das Bett. Das Kerzenlicht wurde schwächer.
Andrew schwirrte der Kopf, und plötzlich war alles schwarz.