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Das Gesicht unter dem Kissen

Andrew hob seine Tasche auf und trat in den Lift, eine winzige Box, in der nur ein Mensch Platz hatte. Bei der Fahrt nach oben fühlte er sich einsamer denn je. Man hatte ihn aus der Schule entfernt. Außer seinem Hausvater und einem Beamten wusste kein Mensch, wo er war. Und er hatte Persephone, die Blut hustete, im Krankenhaus zurückgelassen. Aus Deiner Liebe besteht mein Dasein hier und im Jenseits. Doch das waren Byrons Worte, nicht seine  … nein, Harness hatte das geschrieben. In Andrews Kopf verschwamm alles. Das Summen des Aufzugs wurde zu einem Pochen. Die Deckenleuchte schien grell. Die Stockwerke in diesem Haus konnten nicht höher sein als in jedem anderen, dennoch erschien es Andrew, als würde er zwanzig Minuten in dem Fahrstuhl stehen. Er lehnte an der Wand und versuchte zu atmen, aber die Luft war schwer und drückend. O nein, schoss es ihm durch den Kopf, es ist dieses Gefühl!

Die Tür glitt auf, und er taumelte in einen düsteren, diesigen Flur.

Warum ist die Beleuchtung so schlecht? Ich sollte dem Mädchen am Empfang Bescheid sagen.

Er hatte erwartet, mehr von dem Einrichtungsstil zu sehen, der ihn in der Lobby erwartet hatte: pinkfarbene Wände, teilweise Holzvertäfelung, struppiger roter Teppich. Stattdessen ein schmaler Gang mit Holzboden. Drei oder vier Türen mit Klinken aus schwarzem Zinn. Weiß getünchte Wände.

Er wandte sich nach links – und wich zurück. Beinahe wäre er auf jemanden, der dort stand, geprallt. Auf jemanden in einem schwarzen Umhang.

Entschuldigung, ich habe Sie nicht gesehen.

Eine unsichtbare Kraft schob die Worte in seine Kehle zurück. Ihm war, als stünde der Flur unter Wasser, das ihm den Atem raubte und das Sprechen unmöglich machte. Ihm schien nichts anderes übrigzubleiben, als stocksteif dazustehen.

Die Gestalt rührte sich auch nicht.

Ist er auch erstarrt?, fragte sich Andrew.

Aber nein – er spürte, dass sich diese Person ungehindert bewegen konnte. Trotzdem stand sie nur da, als würde sie rasten. Sie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab. Die Schultern hoben und senkten sich, als wäre der Schwarzgewandete nach dem Treppensteigen außer Atem.

Ich kenne diesen Ort.

Hinter Andrew die schmale Stiege mit Holzgeländer. Auf dem Absatz ein Wandhalter mit Kerze.

Andrew war in seinen Träumen diese Treppe hinaufgegangen, hatte sich an dem dürftigen Geländer hinaufgezogen, als würde er einen Berg besteigen.

Und plötzlich geschahen mehrere Dinge auf einmal.

Erstens: Die Gestalt setzte sich in Bewegung.

Zweitens: Andrew konnte wieder hören. Knarrende, schwerfällige Schritte auf den Holzdielen. Eine Hand, die über die Wand strich. Dann das Geräusch, das er am meisten fürchtete: der rasselnde, feuchte, schwindsüchtige Atem.

Dieses Röcheln begleitete Harness wie ein boshaftes, behäbiges Ungeheuer. Andrew wurde sich bewusst, dass er Harness nachging, als wären sie mit einem Seil aneinandergebunden. Er hatte das Gefühl, als wären sie eins, und spürte Angst und Erregung, als er vor einer der Türen stehen blieb.

O ja, der Augenblick ist gekommen. Ich bin bereit.

Er bekam kaum Luft. Zu große Erregung.

Harness presste die Hände auf die Brust. Bitte, nicht jetzt. Er sank gegen die Wand und legte den Kopf an den kühlen gekalkten Putz, dann hob er den Blick und beruhigte seine Atemzüge. Er musste alle Zweifel, ob er die physische Kraft oder die moralische Stärke besaß, ein Leben auszulöschen, fahren lassen. Er hörte den Jungen in dem Zimmer! Das Wesen, das sein Denken und seine Vorstellungen beherrschte, seinen Hass schürte. Dieser Junge war ihm jetzt so nah, dass er sein Schlurfen und Schniefen auf der anderen Seite der Tür hören konnte. Das allein schon war ein Wunder  – Harness hatte es geschafft; er hatte ihn gefunden, selbst unter diesen Umständen –, das alle Hindernisse zunichtemachte. Die Rettung stand bevor. Er würde seinen Feind ermorden. Und anschließend Wonnen mit seinem Geliebten genießen – beschützt, verhätschelt, umsorgt werden, bis er gesund war und in dem Luxus leben konnte, den er sich vorgestellt hatte. Er brauchte nur ein wenig Willenskraft aufzuwenden.

Harness streckte die Hand aus. Berührte die Klinke. Kühl, glatt. Die Tür ließ sich öffnen. Harness hatte Glück – der Junge war achtlos gewesen und hatte den Riegel nicht vorgeschoben.

Und da war er, der junge Mann. Allein. Das Zimmer wurde nur durch das Licht, das durch die Vorhänge sickerte, erleuchtet. Er stand vornübergebeugt da und kramte in einer offenen Truhe. Die Tür stieß gegen die Wand. Der Junge richtete sich auf. Er trug eine Haube, unter der hellbraunes Haar hervorschaute. Kleine Stupsnase, große Augen mit langen Wimpern und ein fein geschwungener, rosiger Mund – er war tatsächlich hübsch. Zierliche Figur mit zu großen Kleidern. Er war unterernährt und hatte raue Hände mit schmutzigen, rissigen Fingernägeln. Mit geübtem Auge ordnete Harness den gesellschaftlichen Stand seines Widersachers ein, um zu entscheiden, welche Hebel er ziehen musste. Konnte er ihn mit seiner Harrow-Cambridge-Aussprache herausfordern? Oder mit der affektierten Wortwahl eines Geschäftsmannes? Oder sollte er sich für Cockney-Englisch entscheiden, um ihm zu zeigen, dass er mit allen Wassern gewaschen war und sich nicht ins Bockshorn jagen ließ? Er hatte all diese Rollen parat.

Wer sind Sie?, wollte der Junge wissen.

Ein Augenblick des Zweifels. Hat er geantwortet? Mit ihm gesprochen?

Eiseskälte überkam Harness. Er lächelte freundlich und machte die Tür zu. Der Junge starrte ihn verwundert an. Harness ging einen Schritt auf ihn zu.

Was soll das?

Die Tatenlosigkeit des Jungen verschaffte Harness einen Vorteil … Er machte einen Satz vorwärts.

Mit dem Überraschungsmoment auf seiner Seite gelang es ihm, die Hände um den Hals seines Rivalen zu legen. Der Junge war schmächtiger, als Harness gehofft hatte, aber er war temperamentvoll. Versuchte, die Möbel umzutreten, und schrie um Hilfe. Sie rangen auf dem Boden. Schließlich griff Harness –  für einen erhabenen Moment befreit von seinen Atembeklemmungen und gestärkt durch einen kräftigen Adrenalinstoß – nach einem Kissen, legte es auf das Gesicht des Jungen und drückte und drückte. Das triumphale Grinsen auf seinem Gesicht wurde immer breiter. Ja. ja, schluck das, wenn du kannst. Diese Worte kamen ihm über die Lippen, während er sich – selbst als sich sein Opfer nicht mehr regte – aus reiner Freude an seiner Überlegenheit weiterhin auf das Kissen stützte.

Irgendwann sank er vollkommen erschöpft zurück. Er schloss die Augen und wischte sich das Kinn ab.

Er machte die Augen wieder auf.

Er hatte eine Idee.

Er würde seinem Geliebten sagen, was er getan hatte. Nicht mit Worten, sondern mit einem Zeichen. Einem Symbol. Mit müder Hand nahm er den Ring ab, den er seit dem Tag zuvor an seinem linken Ringfinger trug. Nahm die noch warme Hand seines Widersachers und steckte ihm den Ring an. Er ging nicht ganz über den Finger, aber das spielte keine Rolle. Es war sogar noch besser, weil er sofort auffiel. Sein Geliebter würde ihn sehen und alles verstehen.

Mit einem zufriedenen Lächeln kämpfte sich Harness auf die Füße. Er war in Schweiß gebadet, und allmählich wurde ihm kalt. Das Adrenalin, das ihn vom Meilen entfernten London bis hierher (im Geheimen) gebracht hatte, verebbte. Die Substanz, die er sich vom Kinn gewischt hatte, klebte an seiner Hand, zwischen den Fingern. Er betrachtete sie genauer. Blut. Sein eigenes? Von einer Wunde? Nein, es war aus seinem Mund getropft. Und vor diesem roten, klebrigen, feuchten Blut hatten ihn die Ärzte gewarnt; das rostfarbene, ältere Blut war besser. Dies hier war arterielles Blut.

Seine Hochstimmung verflog. Er schwankte. Blieb nur noch eines: Er musste das Kissen hochheben und seinem toten Feind ins Gesicht schauen. Um den Triumph voll auskosten zu können.

Er streckte die Hand nach dem Kissen aus und zog an einem Zipfel. Das Gesicht. Ja, es färbte sich blau; ja, der Mund war verzogen – ein Tod im Kampf. Das alles nahm Harness jedoch kaum wahr. Denn als er das Kissen wegzog, kamen auch … geflochtene Haare zum Vorschein.

Frauenhaar.

Das lange Haar war unter der Kappe verborgen gewesen.

Eine Frau. Harness hatte eine Frau getötet.

Er warf das Kissen beiseite und öffnete wütend und mit blutiger Hand das Hemd des Leichnams. Er sah Bandagen über dem Brustkorb und riss sie auf: Frauenbrüste. Zusammengedrückt durch die Bandage. Verwirrung überflutete ihn. Eine Frau? Ein verkleidetes Mädchen? Wo war der Junge, von dem er gehört hatte? Wo war sein Rivale? Wer war die Person, die er umgebracht hatte? Warum war sie hier? Eine Diebin? Eine Fremde? Ein Zimmermädchen? Eine Gespielin?

Er starrte die Tote an und begriff, dass er die falsche Person ermordet hatte. Und – was noch bedeutender war – er wusste, dass er nicht mehr die Kraft hatte, noch einmal zu töten. Vorher würde er sterben. Das war ihm jetzt klar. Der Schock durchbohrte Harness’ Brust wie ein Spieß. Der Schleim in seiner Lunge machte sich bemerkbar. Harness fiel. Er war auf allen vieren, als ihn der schlimmste Hustenanfall, den er je erlebt hatte, erschütterte. Er begann in den Hüften und rollte vorwärts, bis er seine Zähne erreichte; mit der zweiten Welle kam ein Schwall aus Blut. Er kroch durch die Pfütze. Seine Kutsche wartete. Er hatte genug bezahlt, um unliebsame Fragen – auch nach dem Blut an seinen Knien – zu verhindern. Aber würde er den Weg zu seinem Gefährt schaffen? Er würde sich vorwärtsschleppen müssen. Er hielt sich am Fenstersims fest und kämpfte sich Stück für Stück auf die Beine. Mit angehaltenem Atem machte er sich auf den Weg  … beeile dich  … Die nackte, kindische Angst, festgenommen und ins Gefängnis geworfen zu werden, packte ihn. Er wischte sich sorgfältig das Gesicht mit einem Taschentuch ab …

Andrew stand in dem Hotelzimmer Die Stille pulsierte nach dem Sturm der Gewalt. Er befand sich immer noch in seiner Vision, in Harness’ Welt. Er hielt die Augen geschlossen, dennoch wusste er, was er sehen würde, wenn er sie öffnete. Die Tote auf dem Boden. Das Gesicht des Opfers. Du bist der Dreh- und Angelpunkt in alldem, Andrew. Du bist am nächsten dran. Es ist richtig, wenn du die Führung übernimmst, hatte Dr. Kahn gesagt.

Er wollte die Führung nicht übernehmen.

Aber du musst, sagte er sich. Du bist aus einem ganz bestimmten Grund hier. Wenn du nicht herausfindest, wer Harness’ Opfer war, dann werden deine Freunde – unschuldige Menschen – sterben. Er schlug die Augen auf.

Die bedrückende Vision bestürmte ihn erneut. Die Schreie entstanden tief in seiner Brust und brachen sich Bahn – Entsetzensschreie.

Der Leichnam hatte das Gesicht von Persephone.

Es ist nur eine Vision, es ist nicht real.

Sie ist nicht tot, sie ist nicht tot.

Schwarze Locken umrahmten das Gesicht.

Locken, die er gerochen und geliebt hatte, die sein Gesicht gekitzelt hatten.

Die grünen, toten Augen waren offen.