22
Sir Angry
Andrew rannte. Autos mit hellen Scheinwerfern rasten an ihm vorbei. Die Tasche schlug auf seinen Rücken. Um ein Haar hätte er sie in dem Hotel gelassen, aber in der Tasche war sein Pass. Ein Selbsterhaltungstrieb hatte ihn dazu gebracht, sie sich über die Schulter zu werfen, ehe er sich aus dem Hotel ins Freie und in die Kälte schleppte. Jetzt rannte er in die Richtung, die ihn in die Schule bringen würde – bergauf –, bis ihm wieder einfiel, was Fawkes gesagt hatte. Er durfte nicht in die Schule zurück. Er blieb stehen, holte sein Handy aus der Hosentasche und wählte eine der gespeicherten Nummern an.
»Hallo, Andrew?«, meldete sich eine formelle, unnatürlich laute Stimme – Fawkes hatte seine Nummer auf dem Display gesehen. Andrew wunderte sich, doch dann wurde ihm klar, dass sein Hausvater so komisch redete, weil er nicht allein war.
»Ist alles in Ordnung in dem Hotel?«
»Ist jemand bei Ihnen?«, fragte Andrew.
»Matron und Mr. Macrae sind hier. Wir haben gerade über dich gesprochen. Ich habe sie aufs Laufende gebracht. Wie ist das Zimmer?«
»Ich kann nicht dort bleiben.«
»Dort?« Fawkes entging das entscheidende Wort keineswegs. Er senkte die Stimme. »Warum? Wo bist du?«
»Ist das Three Arrows alt?«
»Ob es alt ist?« Fawkes war verblüfft. »Das weiß ich nicht. Das musst du Judy fragen.« Fawkes schlug einen unbeschwerten Ton an, um seine Besorgnis zu verbergen.
»Ich habe den Mord gesehen.«
Schweigen an Fawkes’ Ende der Verbindung. Dann murmelte er: »Kannst du das bitte erklären?«
»Ich habe alles gesehen. Auch die Leiche. Und sie hatte Persephones Gesicht! Ich drehe durch, Piers! Ich stehe an einer verdammten Straßenecke und weiß nicht, wohin!«
»Hol tief Luft.« Ein Rascheln. Offenbar war Fawkes in Bewegung, vielleicht ging er in seine Küche, um freier reden zu können. »Bist du noch in dem Hotel?«
»Ein paar Blocks entfernt.«
»Judy wohnt in der Nähe. Geh zu ihr. Ich komme in ein paar Minuten nach.« Fawkes nannte ihm die Adresse und beendete das Gespräch. Überlegte einen Moment, wählte eine Nummer und wechselte ein paar Worte mit Dr. Kahn. Danach sammelte er sich und ging mit einem erzwungenen Lächeln zurück ins Wohnzimmer.
»Alles in Ordnung?«, fragte Macrae. Er trug eine neue Strickjacke und eine graue Flanellhose. Besaß der Typ überhaupt eine Jeans? Seine Augen funkelten argwöhnisch.
»Das ist noch nicht sicher«, gab Fawkes nichtssagend zurück. Er ging zum Schrank und nahm eine Jacke heraus.
»Sie gehen?«, fauchte Macrae ungläubig.
»Ich muss ein paar Dinge regeln. Im Hotel.«
»Was ist das Problem?«
»Es gibt keins. Ich sehe nur nach Andrew.«
»Er lügt«, klagte Matron ihn an. »Wir haben gehört, was Sie am Telefon gesagt haben.«
»Ich habe alles unter Kontrolle«, entgegnete er und ging zur Tür.
»Das haben Sie nicht«, behauptete Matron kalt. »Das haben Sie nie.«
Fawkes blieb im Eingang stehen. Also kommt die Wahrheit endlich aus ihr heraus. Tausend herabsetzende Bemerkungen fielen ihm ein. Fuck you, du fette Kuh. Vielleicht wäre nichts von alldem passiert, wenn du mich mehr unterstützt hättest. Hilfsbereit …? Er war müde und hatte es satt, gegen diese Leute zu kämpfen.
»Ich mache Ihnen ein Angebot. Sie passen auf die anderen Jungs im Haus auf. Ich kümmere mich um diesen einen.«
Andrew kam zitternd wie nach einem Stromschlag an. Dr. Kahn diagnostizierte auf den ersten Blick einen Schock und setzte ihn aufs Sofa, drückte ihm ein Glas Sherry in die Hand und richtete ihm aus, dass Fawkes auf dem Weg hierher war.
Andrew schlürfte den Sherry und zwang sich, gleichmäßig zu atmen.
Das war sie nicht.
Er hatte Persephone in der Klinik zurückgelassen. In Sicherheit. Es ging ihr zwar nicht gut, aber sie war in Sicherheit. Harness konnte sie nicht getötet haben.
Aber wenn er sie krank machen kann, kann er sie auch umbringen.
»Ich muss telefonieren«, murmelte er.
Er holte sein Handy aus der Tasche. Seine Hände zitterten immer noch. Er fand die Nummer des Royal Tredway Hospital und tippte sie ein. Eine Computerstimme schlug ihm mehrere Wahlmöglichkeiten vor, und er entschied sich für die Besucherleitung und wurde ins Lungenzentrum weitergeleitet. Eine Schwester meldete sich, und er fragte, ob er eine Patientin namens Persephone Vine sprechen könne. Er wurde abgewiesen. Er fing an zu streiten: Ich hab sie in Ihr Hospital gebracht!, schrie er. Verbinden Sie mich mit ihr. Es gibt Telefone in den Krankenzimmern; ich hab sie selbst gesehen. Stellen Sie mich einfach durch. Wieder bekam er eine abschlägige Antwort – dieses Mal entschiedener. Dann … dann sagen Sie mir, ob sie okay ist. Bitte. Ist sie … ist sie stabil? Ist ihre Atmung in Ordnung? Die Schwester wollte wissen, wer er war. Ich bin ihr Freund. Ich hab sie zu Ihnen gebracht. Die Schwester erwärmte sich nicht für ihn, aber sie hatte Mitleid und bat ihn, in der Leitung zu bleiben. Er wartete ungeduldig. Ihr Zustand ist stabil, erklärte die Schwester schließlich. Jetzt? Sind Sie sicher?, bohrte er weiter. Wann haben Sie zum letzten Mal nach ihr gesehen?
Sie ist stabil, lautete die Antwort. Ich habe gerade mit dem Pfleger gesprochen. Gut?
Andrew bedankte sich und legte auf.
Dr. Kahn musterte ihn besorgt. »Was ist los?«, wollte sie wissen.
»Kann ich noch so einen haben?«, fragte er und hielt ihr sein Glas hin.
Sie füllte es aus einer schwarzen Flasche auf. Er nippte. Schloss die Augen. Persephone lebte. Wieso hatte er sie dann tot gesehen? Was wollte ihm Harness damit sagen? Dass Persephone die Nächste war? Dass er sie umbringen wollte? Andrew überlief ein Schauer. Er versuchte, das Bild von ihren starren, leeren Augen auszulöschen.
Dr. Kahn war in der Küche und setzte Wasser auf. Zum ersten Mal sah sich Andrew um. Er war überrascht. Ihre herrische Art hätte ein Mies-van-der-Rohe-Haus mit schneeweißen Flächen und viel Glas vermuten lassen. Oder ein unrenoviertes viktorianisches Kuriositätenkabinett mit Großvateruhren und Porzellanfigürchen. Dieses Haus gehörte in keine dieser Kategorien. Dr. Kahn lebte in einem ganz normalen Cottage mit niedrigen Decken, abgenutzten Möbeln, trüben Lampen, abgetretenen Teppichen und Fotos von Verwandten. Dies war kein Elfenbeinturm, sondern ein ganz passabler Zufluchtsort, befand Andrew: Es roch nach staubigen Wolldecken, Dampfheizung und Darjeeling. Nur die Bücher fristeten ihr Dasein im Luxus, stellte er fest. Eingebaute Regale schützten die Bände: antiquarische Ausgaben in Französisch mit Goldrandschnitt; große, in schwarzes Leder gebundene Atlanten; Bildbände über naturalistische Maler und zwei Fächer mit Dickens – offenbar ihr Lieblingsschriftsteller, darunter eine Originalausgabe von Bleak House in grünem Einband und eine farbenfrohe, kitschige Comic-Version von Große Erwartungen. Ein paar Minuten nachdem der Teekessel gepfiffen hatte, traf Piers Fawkes ein. Er trug eine Lederjacke und sah verheerend aus.
»Tut mir leid, dass ich so spät bin. Ich musste Macrae und Matron entkommen. Sie haben alles mitangehört. Gott allein weiß, welchen Ärger sie mir machen werden.« Fawkes nahm den bleichen Andrew auf dem Sofa in Augenschein. Er versuchte ein Lächeln. Andrews Augen waren gerötet; er konnte nicht still sitzen und rang unbewusst die Hände im Schoß.
»Persephone«, sagte Andrew. »Harness will sie umbringen.«
»Es wird ihr nichts passieren.«
»Ich hätte mich ihm selbst anbieten sollen.«
Fawkes wechselte einen ratlosen Blick mit Dr. Kahn.
»Anbieten? Wem, Andrew ?«, fragte er.
»Harness. Dann lässt er die anderen vielleicht in Ruhe. Das will er doch, oder?«
»Andrew …«, begann Fawkes »Selbst wenn du es wolltest, wie solltest du das bewerkstelligen?«
»Keine Ahnung.« Andrews Stimme war tonlos, verzagt. »Ich stürze mich in die Zisterne. Oder ich lasse ihn einfach wissen, dass er mich haben kann, wenn er die anderen zurückgibt.«
Fawkes musterte Andrew forschend. »Wann hast du zum letzten Mal was gegessen, mein Freund?«
»Ich weiß nicht.«
»Geben Sie ihm was«, sagte Fawkes, und Dr. Kahn ging in die Küche, um Sandwichs zu machen. Fawkes ließ sich neben Andrew nieder. »Dies ist kein Schachspiel, wo man eine Figur opfert, um eine andere zu schützen. Wir passen auf dich auf. Wenn wir dich verlieren, hat Harness gewonnen. Bitte sag nie wieder so was Dummes.«
»Was ist mit Roddy und Persephone? Mit Theo? Ihnen ginge es gut, wenn ich nicht …«
»Wenn John Harness nicht wäre«, fiel ihm Fawkes energisch ins Wort. »Er ist derjenige, der ihnen das angetan hat. Du bist nicht schuld. Verstehst du das?«
Andrew nickte widerstrebend.
»Gut. Und jetzt will ich nichts mehr von dir hören, bis du etwas gegessen hast.«
Er sah zu, wie Andrew zwei Käsesandwichs verschlang. Und er spülte mit heißem, stark gesüßtem Tee nach. Dann wischte er sich den Mund mit dem Handrücken ab.
»Biskuits?«, bot Dr. Kahn an.
Andrew aß vier zu einer zweiten Tasse Tee.
»Und jetzt«, kommandierte Fawkes, »rede.«
Andrew seufzte. »Ich habe den Mord gesehen«, sagte er. »Von Anfang bis Ende.« Er schilderte seine Vision.
»Das Three Arrows ist sehr alt«, sagte Dr. Kahn. »Seit dem sechzehnten Jahrhundert steht an der Stelle ein Gasthaus, ein Inn oder eine Herberge.«
»Komisch, Montague sagte etwas, als er das Hotel als vorübergehende Unterkunft für dich empfahl«, sagte Fawkes. »Er meinte, nur Leute, die zum Speech Day herkommen, würden dort logieren.«
»Leute, die zum Speech Day kommen – wie Byron im Jahr 1809?«, fragte Andrew.
»Solche Traditionen halten sich hartnäckig«, meinte Dr. Kahn.
»Dann hätte der Mord im Three Arrows passieren können«, sagte Fawkes. »Vielleicht war Byron ausgegangen, um Freunde zu besuchen. Harness hat Byrons neuen Liebhaber allein in dem Zimmer angetroffen …«
Andrews Gesicht verdüsterte sich. »Eines habe ich noch nicht erwähnt. Sein Opfer war ein Mädchen.«
»Was?«
»Ihre Kappe war verrutscht, und ich habe ihre Haare gesehen. Sie war nur wie ein Junge angezogen.«
»Aber wer war sie?«, wollte Fawkes wissen.
Andrew wirkte schwer getroffen und schrie plötzlich: »Wer war es? Sag es mir!«
Fawkes und Dr. Kahn erschraken.
»Das hat Harness zu mir gesagt«, erklärte er. »Als ich ihn in der Zisterne sah. Wer war es? Sag es mir!« Andrew schwirrte der Kopf. »Zu der Zeit kam mir das vollkommen fehl am Platze vor. Aber jetzt verstehe ich. Er hat die falsche Person ermordet. Und er wusste, dass er zu krank war, um noch einmal zu töten.« Andrew dachte darüber nach. »Er weiß offenbar nicht, wen er ermordet hat. Er muss gestorben sein, ohne es herausgefunden zu haben. Deshalb müssen wir es aufdecken. Aber uns bleibt nicht viel Zeit.«
»Was meinst du damit?«, fragte Fawkes.
»Am Ende veränderte sich das Gesicht des Opfers in das von Persephone«, erklärte Andrew mit belegter Stimme. »Als ob mir Harness sagen wollte, dass sie die Nächste ist.«
»Nicht, wenn wir unsere Sache richtig machen«, widersprach Fawkes. »Was ist das für neues Material, das du in die Tasche gesteckt hast?«
Andrew beförderte einen Ausdruck von Dr. Cades Website, eine detaillierte Chronologie von Byrons Leben in den Jahren 1808 und 1809 zutage. Das Jahr 1809 begann mit vernichtenden Kritiken an seinem ersten Gedichtband. Hours of Idleness. Um die Enttäuschung zu vergessen, führte er ein ausschweifendes Leben, borgte sich Geld für Kleidung, Kutschen, Alkohol, Prostituierte; im Juni fuhr er nach Harrow – wie sich jetzt herausgestellt hatte, zum Speech Day. Und anschließend widmete er sich plötzlich den Vorbereitungen für seine Reise durch Europa.
»Nun, dieses Geheimnis ist gelüftet. Der Mord hat Byron veranlasst, England zu entfliehen«, bemerkte Fawkes. »Er hat eine Tote in seinem Hotelzimmer gefunden und hatte Angst, als Mordverdächtiger vor Gericht zu landen.«
»Oder«, sinnierte Andrew, »er ist weggegangen, weil er am Boden zerstört war.«
»Nur, wenn ihm das Mädchen viel bedeutet hat. Kann das sein?« Dr. Kahn wandte sich an Fawkes.
»Hm?«
»Trotz all der Knaben«, sagte Dr. Kahn, »ist es möglich, auch Frauen zu lieben, wissen Sie. Gibt es irgendwelche Hinweise, dass Byron zu der Zeit eine ernsthafte Beziehung zu einem Mädchen hatte?«
»Einem Mädchen …«
Fawkes zündete sich eine Zigarette an und hielt sich eine Seite der Chronologie vor die Nase. Seine Miene wirkte gedankenverloren, als würde er ein ganz bestimmtes Problem wälzen.
Andrew und Dr. Kahn sahen sich an und ließen ihn in Ruhe.
»Danach war Byron in düsterer, tragischer Stimmung, habe ich recht?«, sagte Andrew. »Er war Childe Harold und trug die Last eines schrecklichen Geheimnisses. Vielleicht war Byron gar nicht verstört, weil er eine Mordanklage fürchtete, sondern weil er wusste, dass Harness jemanden umgebracht hatte. Ich meine, er hat Harness jahrelang geliebt, richtig? Stellen Sie sich vor, Sie kommen dahinter, dass die Person, die Sie geliebt haben, ein psychopathischer Mörder ist!«
Dr. Kahn strahlte. »Wir machen noch einen anständigen Forscher aus dir.«
Andrew brachte ein Lächeln zustande.
»Aber wir sind noch nicht fertig«, fügte sie hinzu. »Wer war Harness’ Opfer? Ich bin ein wenig durcheinander. War es ein Junge oder ein Mädchen?«
»Beides!«, rief Fawkes aus.
Sie sahen ihn an. Er hielt immer noch den Papierbogen in der Hand.
»Wovon reden Sie, Piers?«, erkundigte sich Dr. Kahn.
»Covent Garden.« Er deutete mit der Zigarette auf eine Zeile. »Da steht’s.«
Die Türglocke unterbrach ihn.
»Wer kann das sein?« Dr. Kahn erhob sich verärgert. »Wochenlang hatte ich keinen Besuch, und plötzlich trampelt ganz Harrow durch mein …«
»Einen Moment, Judy.« Fawkes hielt sie am Arm fest. »Andrew müsste im Hotel sein. Falls das jemand von der Schule ist und sie ihn hier finden, bekommt er Ärger.«
Sie sahen Andrew an.
»Sie könnten mich zwangsweise in die Klinik einweisen«, sagte Andrew und fügte nach einer Weile strahlend hinzu: »Dann wäre ich bei Persephone.«
»Ja, eingesperrt in der Tuberkulose-Honeymoon-Suite«, ergänzte Fawkes. »Das würde uns im Fall Harness nicht helfen.«
Es klingelte erneut.
»Komm«, sagte Dr. Kahn und packte Andrews Arm.
Sie zerrte ihn die Treppe hinauf und in ein kleines Lesezimmer mit hellgrünem Diwan unter einer Leselampe und noch mehr Bücherregalen. »Rühr dich nicht von der Stelle, bis ich dich hole.« Die Glocke schlug ein drittes Mal an, und Dr. Kahn hastete die Treppe hinunter.
»Sir Alan«, sagte sie. In der kalten, feuchten Abendluft verwandelte sich ihr Atem in kleine Wölkchen.
»Judy, ich entschuldige mich für den spontanen Besuch. Das ist Ronnie Pickles von der Health Protection Agency. Wir waren im Three Arrows, um mit Andrew Taylor zu sprechen – er ist in ernsten Schwierigkeiten. Nachdem wir ihn dort nicht vorfanden, haben wir im Lot nach ihm gefragt und wurden an Sie verwiesen. Oh, hallo, Piers. Jetzt wird die Geschichte allmählich rund. Dürfen wir hereinkommen?«
Alle vier drängten sich in Dr. Kahns Diele neben der Garderobe und einem Schirmständer.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Dr. Kahn förmlich.
»Das kann Piers Ihnen sagen«, gab Sir Alan zurück. Aber Fawkes bedachte ihn nur mit einem eisigen Blick. Sir Alan fuhr fort: »Andrew Taylor hat möglicherweise Tuberkulose, was an sich schon schlimm genug ist, aber jetzt ist er auch noch verschwunden.«
»Verschwunden?«, wiederholte Fawkes.
»Ihr Stellvertreter hat mich angerufen und erzählt, dass Sie aus dem Haus gestürmt sind, nachdem Sie einen Anruf von ihm erhalten hatten. Ich habe mich mit Mr. Pickles in Verbindung gesetzt und ihn gebeten, mich in der Schule zu treffen und in dieses Hotel zu begleiten; und natürlich – kein Andrew Taylor in Zimmer zwölf.« Sein Blick bohrte sich in Fawkes. »Komisch, Piers, ich bin seit vier Jahren Hausvater im Headland und habe noch keinen einzigen Jungen verloren. Aber innerhalb weniger Monate kommt Ihnen einer abhanden, ein anderer liegt im Hospital, und ein dritter ist tot.«
Fawkes trat einen Schritt auf ihn zu. »Sie haben keine Ahnung, wovon Sie reden.«
»Und meine Tochter liegt im Krankenhaus, weil Sie einen hustenden Schüler auf dem Schulgelände herumlaufen lassen«, fauchte Sir Alan. Er hatte die Maske der Höflichkeit fallen lassen und ging seinerseits auf Fawkes zu. Sie standen dicht voreinander wie zwei Raufbolde auf der Straße. »Ich war an ihrem Krankenbett und denke, ich weiß sehr genau, wovon ich rede.« Die beiden Kontrahenten blitzten sich an. »Sie haben beinahe dafür gesorgt, dass die Schule geschlossen werden muss. Aber das genügt Ihnen anscheinend nicht. Sie verstecken den Jungen – Gott allein weiß, warum – und machen eine echte Katastrophe aus dieser Geschichte. Hören Sie auf herumzupfuschen, und sehen Sie zu, dass der Junge eine anständige Betreuung bekommt.«
»Das kann ich nicht.«
»Das können Sie nicht? Warum, zum Teufel?«
»Weil er nicht weiß, wo er ist«, warf Dr. Kahn eilends ein.
»Tatsächlich?«, höhnte Sir Alan freudlos.
»Piers hat mir den Besuch des Jungen angekündigt, aber er ist nie hier erschienen. Wir haben keine Ahnung, wo er steckt. Womöglich ist er mittlerweile ins Lot zurückgekehrt.«
»Wir kommen gerade von dort«, sagte Pickles. Er sah müde aus und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
»Vielleicht isst er irgendwo etwas oder gönnt sich ein Bier«, erwiderte Dr. Kahn scharf. »Er ist ein Teenager, kein Kleinkind. Er taucht schon wieder auf.«
»Sie scheint es kaltzulassen, dass er die Tuberkuloseerreger überall verbreiten könnte, Dr. Kahn. Ich bezweifle, dass die Behörden Ihre Gelassenheit teilen. Herumlaufen, in einem Lokal essen und in der Öffentlichkeit atmen – das sind genau die Dinge, die er nicht tun sollte. Für Sie ist das vermutlich einfach – Sie haben keine kranke Tochter. Was ist mit Ihnen, Fawkes? Irgendwelche Theorien, wo sich der Junge herumtreiben könnte?«
»Keine.« Fawkes machte noch immer den Eindruck, als hätte er große Lust, ein Stück aus Sir Alan herauszubeißen.
»Nun, ich habe eine.« Sir Alan nahm den Tonfall eines Anwalts an, der einen Zeugen ins Kreuzverhör nimmt, um seine schwache Aussage zu widerlegen. »Andrew Taylor, ein arroganter amerikanischer Schüler, beschließt, gegen die Anweisungen der Schule und die Empfehlung der Gesundheitsbehörde zu verstoßen und trotz des Risikos, das er für andere darstellt, nicht im Three Arrows zu bleiben. Lieber besucht er eine Freundin. Diese Freundin«, fügte Sir Alan mit einem Nicken in Dr. Kahns Richtung hinzu, »gibt ihm ein Sandwich.« Der Teller mit der Brotkruste stand noch auf dem Couchtisch. »Diese Freundin hört, dass jemand von der Health Protection Agency vor ihrer Tür steht, und versteckt ihren Besucher in einem der Zimmer im ersten Stock.« Er deutete nach oben. »Und die Freundin schaltet das Licht ein, während der Vertreter der Gesundheitsbehörde noch vor ihrem Haus steht und das Fenster sehen kann. Nicht gerade ein durchdachter Plan. Vielleicht ist die Freundin nicht so klug, wie sie sich gibt.«
Dr. Kahn lief hochrot an. »Hinaus, Alan.«
»Lassen Sie mich zu ihm«, verlangte er.
»Ich sagte: Hinaus.«
»Führen Sie mich hinauf. Dr. Kahn. Ich möchte mir das Zimmer ansehen.« Er plusterte sich wütend auf, als wollte er an ihr vorbei in die obere Etage rennen.
»Sir Alan!«, schrie Dr. Kahn. »Verschwinden Sie aus meinem Haus, oder ich rufe die Polizei!«
»Nur zu«, höhnte er. »Dann finden die ihn. Daran hätte ich selbst denken können.«
»Piers«, flehte Dr. Kahn.
Fawkes stellte sich in die Mitte der Diele. Aber Sir Alan schnaubte: »Sie bitten einen Poeten, mich zurückzuhalten? Ich würde Sie in der Luft zerreißen, Piers, mit Freuden.« Seine Augen blitzten. »Aber so weit muss ich gar nicht gehen. Sie sind gefeuert, Piers!«
»Was?«
»Dazu sind Sie nicht befugt«, wehrte sich Fawkes fassungslos.
Sir Alan grinste. »Sie haben recht. Das bin ich nicht. Aber der Rektor hat das bereits beschlossen. Als ich ihm erzählte, was vorgefallen ist, hat er keine fünf Sekunden für diese Entscheidung gebraucht.«
Er kehrte ihnen den Rücken zu und stürmte hinaus. Pickles stolperte ihm hinterher. Auf dem Gehweg blieb Sir Alan stehen und schaute zu dem Fenster in der oberen Etage.
»Du hast dich mit der falschen Familie angelegt!«, brüllte er.
Dr. Kahn eilte zur Haustür. »Sir Alan! Hören Sie auf damit!«
Aber er war in Rage. »Du solltest Persephone jetzt sehen«, schrie er. »Sie hat kaum noch Leben in sich. Deinetwegen.« Oben rührte sich nichts. »Ich weiß, was du getan hast«, tobte er weiter. »Ich habe mit Persephone gesprochen. Ja, ich weiß alles. Du bist ein widerlicher Drogen-Abschaum!« Mit deser Beschimpfung marschierte er zu dem Auto am Ende des Gehwegs. Dann drehte er sich noch einmal um. »Wissen seine Eltern, wo er ist, Dr. Kahn? Haben Sie ihre Erlaubnis? Sie beide haben heute Abend viele Verfehlungen auf sich geladen – wollen Sie auch noch eine Anklage wegen Entführung riskieren?«
Er stieg ein und startete den Motor, er wartete gerade so lange, bis Pickles auf den Beifahrersitz sprang, dann raste er mit quietschenden Reifen los. Im Nebenhaus ging das Verandalicht an, und der besorgte Nachbar kam heraus, um nach dem Rechten zu sehen.
»Kommen Sie«, raunte Dr. Kahn und zog den perplexen Fawkes ins Haus.