24
Eine durchwachte Nacht
Sir Alan stand in der Tür des Krankenzimmers. Für einen Augenblick wandte er den Blick von Persephone und richtete ihn auf seine Frau.
Dankbarkeit durchflutete ihn. Zum Glück musste er dies nicht allein ertragen. Eindrucksvoll: ihr Rückgrat gerade wie immer – sogar auf diesem unbequemen Besucherstuhl; glänzender Goldschmuck auf der nach den morgendlichen Bädern im Meer auf Ydra oder einer der anderen Inseln in der Nähe von Athen gebräunten Haut; klassisches griechisches Profil; graue Fäden im schwarzen Haar (während er fast keines mehr auf dem Kopf hatte) und natürlich makellos gekleidet mit einem knielangen Rock und perfekt gebügeltem Pulli. Sie brachte Ordnung und den Duft nach Blumen in den Trübsinn und das Chaos dieser Station. Am liebsten wäre er zu ihr geeilt, um sie zu umarmen, zu küssen und mit ihr zu weinen. Aber er wusste, was dann geschehen würde. Sie würde ihn abwimmeln wie einen unwillkommenen, lästigen Vertreter an der Haustür. Groll würde sich zwischen sie drängen und sie auseinandertreiben.
Alan hatte sie immer begehrt. Er hatte sie wegen ihrer exotischen Erscheinung und ihres Stils geheiratet. Woher hätte er wissen sollen, dass Griechinnen ihrer Generation so gottverdammt keusch waren und ein Leben führten wie Dreizehnjährige; dass sie mit Freundinnen kicherten und bei den vielen Familientreffen aufblühten; dass sie sich ständig zum Tee und zu Einkaufsbummeln verabredeten und ihre Männer behandelten wie Jungs auf dem Schulhof ? Aber die Vines gehörten nicht zu der Sorte, die sich professionellen Rat suchten; Alan hätte beinahe laut gelacht, als er sich seine Frau auf der Couch eines Psychologen vorstellte. Sie hatte keinen Elektra-Komplex. Sie war Elektra. Groß, vollbusig mit einer Neigung zu Temperamentsausbrüchen. Selbstanalyse war den Griechen ziemlich fremd. Alan und seine Frau hatten sich im Laufe der Zeit einfach immer mehr voneinander entfernt. Und wenn sie sich jetzt begegneten, attackierten sie sich wie alte Feinde.
»Du solltest auch einen Mundschutz tragen«, mahnte er.
Lady Alcina Fidias Vine drehte sich trotzig zu ihm um. »Ich trage keinen Mundschutz.« Ihr Akzent war deutlich nach dem monatelangen Aufenthalt in Griechenland. »Diese Ärzte haben keine Ahnung, wovon sie reden.«
Sir Alan konnte sie nur bewundern – diese Art, wie sie die Aufgeblasenheit von Autoritäten zunichtemachte. Aber er musste in dieser Situation seine Pflichten erfüllen – der vernünftige Mann sein, der die Verantwortung übernimmt.
»Nein? Was fehlt Persephone dann?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Alcina unglücklich.
Sir Alan nahm einen Stuhl und trug ihn durchs Zimmer, um sich neben seine Frau zu setzen.
»Sei vorsichtig«, schalt sie ihn. Sie saßen nebeneinander und betrachteten ihre kranke Tochter.
»Sie will nicht trinken oder essen«, sagte Alcina.
Alan war Persephone nahe genug, um zu sehen, wie schwach sie in den letzten Stunden geworden war. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihre Haut war kalkweiß. Ihr Mund stand offen. Die Brust hob und senkte sich langsam; ihre Glieder und der Kopf waren reglos, als hätte sie jede Energie verlassen.
»Das Sauerstoffgerät«, sagte Sir Alan und stand auf. »Haben sie sie vorhin nicht mit Sauerstoff beatmet?« Er trat ans Bett und wickelte den Schlauch von der Sauerstoffflasche.
Die Tür ging auf, und Dr. Minos kam herein. »Was machen Sie da?«
»Ich sehe sie an«, polterte Sir Alan verlegen, weil er erwischt worden war, als er sich an Klinikeigentum zu schaffen gemacht hatte. »Sie ringt um Atem. Vorhin noch hat sie Sauerstoff bekommen.«
»Sauerstoff hilft nicht.«
»Sie hat Fieber«, kreischte Lady Vine. »Die Antibiotica, die Sie ihr geben, wirken nicht.«
Dr. Minos musterte sie kühl. »Wir verabreichen ihr keine Antibiotica, sondern antimycobakterielle Mittel.«
»Moment«, meldete sich Sir Alan wieder zu Wort. »Warum hilft Sauerstoff nicht? Und die Medikamente schlagen nicht an?«
Dr. Minos nahm Persephones Krankenkarte aus der Hülle am Fußteil des Bettes und überflog sie. Die Vines warteten schweigend. Er schob die Karte zurück in die Hülle, dann wandte er sich den Eltern zu und bedachte sie mit einem mitfühlenden Blick, der keinen Zweifel daran ließ, was er ihnen eröffnen musste.
»Die Erkrankung Ihrer Tochter ist sehr weit fortgeschritten.«
Alcina stellte einige Fragen und erhielt knappe, entschiedene Antworten. Irgendwann ließ der Arzt sie allein. Sie waren verzweifelt. Sir Alan unterdrückte den Drang, sein kleines Mädchen zu berühren, ihren Puls, ihre Atmung zu fühlen, sie in den Arm zu nehmen und seine eigene Gesundheit irgendwie auf sie zu übertragen. Aber er konnte nur hilflos an ihrem Bett stehen. Er ertappte sich dabei, wie er ihre Atemzüge zählte, um sicherzugehen, dass sie sich nicht veränderten; und er zwang sich, sich vorzustellen, dass sie tiefer und energischer Luft holte.
Andrew saß an Dr. Kahns Esstisch. Papiere waren rund um ihn verteilt. Er starrte auf den blinkenden Cursor auf dem Laptop-Bildschirm.
»Was machst du?«, fragte Dr. Kahn.
»Ich schreibe diesen Essay.« Sein Tonfall klang gequält, ärgerlich.
»So?«
»Wie? Ich sitze und schreibe.«
»Wie willst du anfangen, wenn du deine Gedanken und Unterlagen nicht sortiert hast?«
»Ich habe keine Zeit, irgendwas zu sortieren«, gab er zurück. »Mir bleibt nur eine Nacht. Ich muss es einfach hinter mich bringen. Sonst wird Persephone …« Er beendete den Satz nicht.
Dr. Kahn ließ sich neben ihm nieder und faltete die Hände auf dem Schoß. »Also, was wirst du schreiben?« Sie versuchte, die Situation zu beruhigen.
Er gab ihr eine wütende Antwort. Ich weiß es nicht. Alles. Was soll ich schreiben? Einen forensischen Bericht über den Mord an Mary Cameron? Dr. Kahn wollte wissen: Wer sind deine Zuhörer? Andrew gönnte ihr kaum einen Blick und sank in sich zusammen. Sie ließ nicht locker. Was willst du ihnen vermitteln? Was sollen sie verstanden haben, wenn du fertig bist? Andrew kämpfte mit sich. Dr. Kahn sah ihre Chance und machte ihm einen Vorschlag, den er annahm. Und nach wenigen Minuten waren sie und Andrew damit beschäftigt, das Material auf dem Tisch – Bücher, Ausdrucke, Notizen – zu ordnen. Dann traten sie zurück und betrachteten zufrieden ihr Werk.
»Das ist eine Menge Arbeit«, stellte Andrew fest. »Wie spät ist es?«
»Sechs Minuten nach halb elf.« Sie sahen sich an. »Ich koche Kaffee«, sagte sie lächelnd.
»Kann ich hierbleiben?«
»Natürlich«, antwortete sie.
Andrew setzte sich wieder an den Computer und starrte bis um 22:41 auf den Cursor. Dann hämmerte er auf die Tastatur ein.
Lord Byron, tippte er, verliebte sich 1801 in John Harness, als Letzterer das war, was wir in Harrow einen Remove nennen. Mit Sicherheit ahnte damals keiner von beiden, dass ihre Freundschaft mit einem Mord enden würde.
Dr. Kahn stellte einen Becher mit heißem Kaffee auf den Tisch. Sie spähte ihm über die Schulter und las, was er bisher zustande gebracht hatte.
»Sehr gut«, befand sie.
»Danke. Nur noch zwanzig Seiten. Das dauert die ganze Nacht.«
»Viel Glück.«
Er drehte sich verzweifelt zu ihr um. »Gehen Sie schlafen?«
»Nächte durchzumachen ist was für junge Leute.«
»Ich kann das nicht allein!«
»Du hast alles, was du brauchst.«
Er wandte sich wieder dem Bildschirm zu. »Ich kann das nicht«, wiederholte er.
Dr. Kahn blieb hinter ihm stehen. Sie spürte die ungestüme Teenager-Energie, die in Wellen von ihm ausging. Gammastrahlen – nennt man so nicht die Energie, die tibetische Mönche ausstrahlen, wenn sie meditieren? Was war dann das, was sie jetzt fühlte? Ein Zeta-Strahl? Sie lächelte. Teenager. Überbordende Hormone, Zorn, Frustration, Konfusion. Er war wie eine Maus, die in einem Versuchslabor ständig mit dem Kopf gegen die Begrenzung eines Labyrinths stieß, obwohl der Ausgang ganz nah war. Er sieht ihn nicht, dachte sie.
Dr. Kahn fragte sich, ob sie ihm etwas von dieser Energie entziehen, ihn erden konnte. Sie berührte ihre Schüler selten. Oh, den Kleinen tätschelte sie manchmal den Kopf oder den Rücken, wenn sie besonders unwiderstehlich waren; aber sie gehörte nicht zu den Menschen, die ständig andere umarmten. Sie war sich bewusst, dass ein halbwüchsiger Junge, insbesondere in einem Internat, ein launisches Wesen war, mit dem man keine Spielchen trieb. Launisch. Ja. Das ist der springende Punkt. Man muss ihm diese übersprudelnde Energie nehmen. Dr. Kahn streckte eine Hand aus und hielt sie unsicher hoch. Sie hatte einen Moment des Zweifels – sieh dir nur dieses fleckige, faltige Ding mit den kurzen Fingern und den unweiblichen Nägeln an; sie hatte ihre Hände noch nie besonders gemocht. Dann legte sie sie auf Andrews Schulter. Er drehte sich nicht um. Im Geiste sprach sie eine Beschwörung aus: Du kannst arbeiten, Andrew. Dies ist ein kleiner Segen, der dich unterstützen soll. Du kannst arbeiten, Andrew. Sie zog die Hand nicht zurück. Sie fühlte sich wärmer an. Pulsierte. Mit Zeta-Energie.
Sie bemerkte eine Veränderung in seinem Körper. Er beugte sich vor und tippte ein paar Worte und löschte sie wieder. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und tat es dann doch nicht. Was?, fragte sie. Ach, nichts, murmelte er. Er tippte wieder, diesmal einen ganzen Satz. Mehr – einen Absatz.
Ja. Sie nahm behutsam die Hand von seiner Schulter – er merkte es nicht einmal. Es hat funktioniert. Sie staunte, als sie einen Stich verspürte. Hatte sie sich entschieden, Andrew Taylor zu mögen? Ja, schon vor einiger Zeit. Ihre Besprechungen in der Bibliothek waren nicht rein akademisch gewesen. Sie waren Freunde geworden. Und sie wünschte sich, sie könnte bei ihm bleiben; ihren Beitrag leisten und ihn vorantreiben. Sie wusste, wie man einen Essay verfasste. Aber sie diente ihrer Freundschaft am besten, wenn sie sich zurückzog und ihn die Arbeit allein machen ließ. Sie lächelte ein wenig betrübt – das Schreiben ging ihm jetzt flüssig von der Hand – und schlich aus dem Zimmer.
Andrew tippte. Er hatte einen Krampf in der Hand und rieb sie. Immer wieder sah er nach, wie viele Seiten er schon hatte. Dies war nicht etwas, was man einfach einem Lehrer abgeben musste. Es musste Sinn ergeben und verständlich für Zuhörer sein. Für den eigentlichen Zuhörer, wie Dr. Kahn deutlich gemacht hatte: John Harness. Einmal stockte er und geriet in Panik. Er hatte den roten Faden verloren! Aber er las noch einmal alles durch und erkannte die Logik. Der Textaufbau war folgerichtig. Andrew empfand Stolz. Er war sich selbst begegnet in dem Mäuselabyrinth – dem Andrew, der er vor einer Stunde gewesen war, als er entschieden hatte, diesen speziellen Gedankenstrang in den Essay aufzunehmen, und er … gefiel sich: Ihm gefiel die Entscheidung, die ein wacher Verstand getroffen hatte. Aber ihm blieb nicht die Zeit, das auszukosten. Andrews Finger flogen über die Tastatur, während er den Gedanken weiterverfolgte.
Irgendwann klopfte jemand an die Haustür. Andrew schaute benommen auf und trottete zur Tür. Fawkes stand vor ihm. Andrew grunzte nur und kehrte zurück ins Esszimmer.
Fawkes folgte ihm und ließ einen Redeschwall ab. »Ich hab ihn gefunden, endlich. Father Peter«, sagte er, während sich Andrew wieder an den Laptop setzte. »Weißt du, wo er war? In Newcastle. Er hat sich ausbilden lassen – denk nur. Dort gibt es ein ganzes Team von Geistlichen, die sich mit paranormalen Phänomenen beschäftigen. Die Church of England ist ziemlich abgefahren. Aber ich beschwere mich nicht. Er hat gerade alles mit mir durchgesprochen – was wir morgen machen werden. Es ist ziemlich kompliziert. Hörst du mir zu?«
»Das ist gut«, sagte Andrew geistesabwesend. Er nahm eines der Bücher aus dem Stapel, studierte eine alte Landkarte und fuhr mit dem Finger eine Grenzlinie entlang.
»Wo ist Judy?«
»Sie schläft.«
»Oh, klar.« Fawkes schaute auf seine Uhr. »Es ist ein Uhr. Kann ich dir helfen?« Er umrundete den Tisch und sah sich Andrews Unterlagen an.
Andrew gab keine Antwort.
»Ich störe dich, wie ich sehe. Ich lasse dies hier. Sehen wir uns morgen früh?«
»Okay.«
Andrews Finger traktierten das Keyboard. Wieder eine Seite fertig. Er hielt inne – er brauchte das Material über Mary Cameron – und schaute sich um. Scheiße – das hat Piers. Im Lot. Es würde wertvolle Zeit kosten, aber ich muss es holen. Ob Piers noch wach ist?
In diesem Moment entdeckte er den Schnellhefter auf dem Couchtisch. MARY CAMERON stand in blauen Blockbuchstaben auf der Hülle.
Oh, klar. Piers war hier. Er hat die Unterlagen gebracht.
Dankbar nahm Andrew die Akte an sich. Sie sah genauso aus wie die über John Harness, sie war nur dicker. Gedichte und Briefe und ein paar Fotokopien von akademischen Studien über das Leben einer Prostituierten in der Regency-Ära. Er blätterte sie durch.
Abtreibungen, stand da, konnten durch etliche »Hausmittel« durchgeführt werden. Eines war Schwefel; die betroffene junge Frau musste viele Hundert Köpfe von Streichhölzern kauen und schlucken.
Andrew warf sich aufs Sofa und fing an zu lesen, um mehr über das Leben des Mädchens zu erfahren, das in einer Juninacht vor zweihundert Jahren gestorben war. Wie hatte Harrow damals ausgesehen? Ohne Asphalt und Straßenleuchten. Nur Wald und Wiesen in voller Blüte zu der Jahreszeit. Er las konzentriert und überhörte fast das Klingeln seines Handys. Piers? Ist es nicht ein bisschen spät für ihn? Dann kam ihm ein Geistesblitz: Persephone! Sie ruft an. Es geht ihr besser! Er schnappte sich sein Telefon. Und drückte auf die grüne Taste – den Namen und die Nummer auf dem Display nahm er nur am Rande wahr.
»Hi, Dad«, sagte er leise.
Sein ganzes Sein schrumpfte in sich zusammen, als er zuhörte. Er klopfte lustlos auf eine Computertaste. L … L … L … erschien auf dem Bildschirm.
»Deine Mutter steht neben mir. Wo bist du? Die Schule hat angerufen und gesagt, dass du den Campus verlassen hast!«
»Im Haus einer Bekannten.«
»Wo?«
»Ein paar Blocks von der Schule entfernt.«
»Stimmt es, dass du Tuberkulose haben könntest?« Die Stimme seines Vaters klang fast hysterisch.
»Anscheinend waren wir die ganze Zeit dem Erreger ausgesetzt. In der U-Bahn … du weißt. An vielen Orten.«
»Aber der Junge, der gestorben ist … war es Tb oder diese andere Krankheit?«
»Nein, es war Tb.«
Er hörte, wie seine Eltern miteinander redeten.
(Was hat er gesagt? Stimmt es?
Ja – der Junge ist an Tb gestorben.
O mein Gott! Lass mich mit ihm sprechen.
Nur noch eine Minute.)
»Wo bist du, Andrew?«
Er erklärte seinem Vater, dass er sich bei der Schulbibliothekarin, mit der er sich angefreundet hatte, aufhielt, weil ihn die Schule in ein heruntergekommenes Hotel einquartieren wollte, um ihn von den anderen Schülern fernzuhalten.
»Gut. Bleib dort. Ich komme und hole dich da weg.«
»Dad, nein, warte …«
Doch sein Vater redete einfach weiter; bei der schlechten Verbindung gingen die Feinheiten unter. »Ich weiß nicht, worauf wir uns da eingelassen haben mit dieser Schule«, schäumte er. »Es sollte ein Ort sein, an dem du dich hinter deine Bücher klemmen kannst. Stattdessen ist es eine Katastrophenzone. Ich hätte dich genauso gut in den Irak schicken können. Fühlst du dich krank?«
»Bist du sicher?«, fragte sein Vater hoffnungsvoll.
»Nein«, gestand Andrew. »Alles hängt von dem Essay ab, den ich gerade schreibe.«
»Was? Du redest Unsinn. Hast du Fieber?«
Das Gespräch ging noch einige Minuten in diesem Stil weiter. Schließlich gab Andrew Dr. Kahns Adresse durch. Bis sein Vater in Heathrow landen würde, war alles, die Séance und Father Peters Gebete, schon vorbei. Ob sein Vater kam oder nicht – das machte dann keinen Unterschied mehr. Andrew versprach, ihn am Mittwoch um acht Uhr morgens im Haus von Dr. Kahn zu erwarten. Dreißig Stunden. Früher konnte Mr. Taylor nicht hier sein. Dann würden sie gemeinsam nach New York fliegen. Irgendwann drückte Andrew mit zittrigem Finger auf die rote Taste.
Es war zwei Uhr siebzehn. Die Stille im Haus dröhnte.
Er war kurz davor, Harrow zu verlassen.
Würde er Persephone wiedersehen? Erinnerungen bestürmten ihn an nächtliche Anrufe. Tausende SMS und gemailte Fotos, die Anlass zum Grübeln gaben (wer ist der Typ, der den Arm um dich legt?). Er hatte es vorausgesehen: eine Fernbeziehung. Eine internationale Fernbeziehung. Teuer und unbefriedigend, hatte eine kosmopolitische Klassenkameradin dazu gesagt. Und all das hing natürlich von Persephones Überleben ab. So oder so – er würde sie verlieren.
Er hätte am liebten losgeheult und wollte nur noch schlafen.
Das durfte er nicht. Er musste seine Arbeit beenden. Mit vor Müdigkeit tauben Armen und schweren Lidern nahm er sich wieder die Mary-Cameron-Akte vor und schrieb weiter – erst einen Buchstaben nach dem anderen, doch dann kam er in Fahrt.
Piers Fawkes schreckte aus dem Schlaf. Gespenster und Wölfe fielen in seinen Traum zurück: Kruzifixe, dunkle Canyons und Gefahr.
Und ein immergrüner Zweig.
Dieses Bild hatte sich eingebrannt. Tautropfen auf den Fichtennadeln. Zu viel, Father Peter, urteilte er.
Er erhob sich von dem Sofa, auf dem er eingeschlafen war. Er fühlte sich, als hätte er einen Kater. Das ist nur die Erschöpfung, sagte er sich. Ich bin nüchtern – Gott sei Dank.
Sein Telefon klingelte. Es war noch dunkel draußen. Blinzelnd warf er einen Blick auf die Uhr. Zehn nach fünf.
»Hallo?«, brummte er. Er lauschte. Er bat die weibliche Stimme, das noch einmal zu wiederholen. »Nein, nicht ich«, erwiderte er. »Aber ich werde die Eltern anrufen. Was ist passiert?« Wieder hörte er zu. Sein Magen krampfte sich zusammen. Ihm blieb nichts anderes als Bosheit. »Das sollte ihnen genügend Zeit geben, zum Hospital zu kommen. Gut. Danke.« Damit legte er auf.
Er ging zum Küchenfenster und zog den Vorhang auf. Nur ein schwacher Schimmer im Osten. Er hätte viel Geld hergegeben, um gerade jetzt die Sonne zu sehen und Vogelgezwitscher zu hören. Ein zerdrücktes Zigarettenpäckchen lag auf der Küchentheke. Er trug ein weißes T-Shirt und die Hose vom Tag zuvor. Der Rücken tat ihm weh. Er steckte sich die letzte Zigarette aus dem Päckchen an und lehnte sich an die Theke.
»Verdammt«, sagte er laut.
Es war neunzehn nach fünf. Er würde bis sechs Uhr warten, ehe er Roddy Sloughs Eltern anrief. Sie waren geschieden. Wen sollte er zuerst verständigen? Die Mutter war Trinkerin; ein redseliger Liz-Taylor-Typ in Pelz; sie würde hysterisch werden. Er beschloss, erst mit dem Vater zu sprechen – mit dem großgewachsenen ernsten Peter Slough –, dann konnte der sich mit der Mutter herumschlagen. Alles andere würde er Macrae überlassen.
Er ging zum Computer und öffnete den Mail-Account. Vierundachtzig Nachrichten seit gestern Abend – aufgeregte Anfragen.
Treffen die Gerüchte zu?
Epidemie in der Schule?
Harrow wird geschlossen?
Er öffnete nur die mit dem Vermerk »höchste Priorität«:
Kurzfristige, aber dringliche Versammlung des Essay Club am Dienstagabend um neunzehn Uhr.
Die Mail stammte von Dr. Kahn, die alle elf Mitglieder des Clubs zusammenrief – ohne Erklärung, dafür mit einem Betreff: Andrew Taylor, Abschlussklasse, The Lot (Fawkes), stand da. Die Wahrheit über den Lot-Geist.
Fawkes riss die Augen auf, als er den Titel des Essays las. Doch dann wurde ihm klar, warum sie ihn gewählt hatten: Es hatte keinen Sinn, mit irgendetwas hinter dem Berg zu halten; sie mussten nicht mehr vor dem Rektor katzbuckeln. Fawkes war bereits gekündigt. Andrew hatte man aus der Schule entfernt. Es war riskant, anzukündigen, dass Andrew plante, sich wieder aufs Schulgelände zu wagen. Aber vielleicht fiel es niemandem auf. Ronnie Pickles und der Rektor hatten nichts mit dem Essay Club zu tun. Fawkes registrierte, dass Dr. Kahn seinen Namen in Klammern hinter The Lot gesetzt hatte, nicht den von Macrae. Im Grunde sollte Macrae an der Zusammenkunft teilnehmen, um sich den Vortragenden, einen Lot-Bewohner, anzuhören und zu unterstützen. Aber Macrae stand nicht als Empfänger auf der Verteilerliste.
Gut. Macrae hätte Andrew Ärger machen und – wer weiß – Fawkes’ Teilnahme verhindern können.
Aber da stand ein anderer Name auf der Liste, der Fawkes’ Blick auf sich zog.
Alan Vine.
Verdammt. Dr. Kahn hatte die Einladung an die üblichen Teilnehmer verschickt. Sie hätte Sir Alans E-Mail-Adresse herausnehmen sollen. Mit dieser Mail verriet sie der letzten Person, die davon Kenntnis haben sollte, wo sich Andrew aufhielt.
Fawkes kochte sich eine Kanne Kaffee. Böse Vorahnungen machten sich bemerkbar.
Natürlich hast du dieses Gefühl – du hast gerade die Nachricht erhalten, dass einer deiner Schüler – ehemaligen Schüler – im Sterben liegt.
Fawkes starrte auf das dunkle Fenster. Er fühlte … nichts. Trotzdem konnte er die allgegenwärtige Weisheit und Rhetorik, die sich in seinem Kopf abspulte wie ein Tickerstreifen, nicht ausschalten:
Tod, der echte Tod, inspiriert nicht. Er bewegt einen nicht dazu, Elegien anzustimmen; nicht sofort. Erst zieht er einen in Tatenlosigkeit und Verzweiflung.
Armer Roddy.
Er versuchte sich zurechtzulegen, was er Roddys Eltern sagen sollte. Aber etwas Hässliches, das er nicht verscheuchen konnte, nagte an ihm. Es wuchs, als würde ein schlechter Geruch in seine Wohnung strömen.
Das hatte er schon einmal empfunden.
Adrenalin belebte Fawkes’ erschöpften Körper. Er fühlte dieselbe Präsenz, die ihm und Andrew Tage zuvor in seinem Arbeitszimmer solche Angst gemacht hatte. Er sah sich im Wohnzimmer um, suchte nach etwas – nach einer Spur dieser Präsenz. Aber er entdeckte nichts Bedrohliches. Er befahl seinem Verstand, die Kontrolle zu übernehmen, dieses Gefühl zu überwinden, als sein Blick darauf fiel. Beinahe hätte er es übersehen. Vor wenigen Wochen wäre der Anblick das Natürlichste von der Welt für ihn gewesen.
Neben dem Fernseher stand eine blaue Ginflasche. Zu zwei Dritteln voll. Dieselbe Flasche, die er vor einer Woche weggeworfen hatte. Damals hatte er diese Flasche zusammen mit allen anderen in einen doppellagigen Müllbeutel gesteckt und in die Tonne geworfen. Mittlerweile hatte die Müllabfuhr die Tonne sicher längst geleert.
Mit anderen Worten – die Flasche hatte in seinem Wohnzimmer nichts zu suchen.
Aber sie stand da und wartete geduldig auf ihn. Fawkes’ Herz pochte. Er war allein mit der Flasche. Er konnte machen, was er wollte. Kein Mensch sah ihn. Es war fünf Uhr morgens. Und ihm bliebe genügend Zeit, um wieder nüchtern zu werden. Außerdem war er aus dem Dienst entlassen. Er hatte keinerlei Verpflichtungen mehr. Er konnte seinen Rausch ausschlafen und dennoch rechtzeitig zum Treffen des Essay Club kommen. Piers Fawkes spürte eine Präsenz. Sie schwebte, neigte sich zu ihm und beobachtete ihn mit teuflischer Schadenfreude.
Fawkes durchquerte das Zimmer und packte die Flasche am Hals.