20
Wo ist er jetzt?
»Wo ist er jetzt, Piers?«, fragte der Rektor in einem Ton, den er in letzter Zeit immer anschlug, wenn er den Hausvater des Lot vor sich hatte: unmutig und verächtlich. Fawkes war im Verlauf eines akademischen Jahres und zweier Monate vom Status des angesehenen Poeten auf die Ebene einer ungebildeten Reinigungskraft gesunken, die so dämlich und nutzlos war, dass man Fragen nur lautstark und mit einer gewissen Strenge stellen konnte, wollte man zu ihr durchdringen.
Furcht und Schuldgefühle bestürmten Fawkes – ein Alptraum. Mein Gott, ich verdiene eine solche Behandlung. Ich habe keine Antwort! Erst bin ich für den Tod eines Schülers, dann für die Erkrankung eines weiteren … und jetzt für das Verschwinden eines dritten verantwortlich.
»Wie bitte?«, sagte Fawkes, um Zeit zu gewinnen.
»Hören Sie doch zu, um Gottes willen! Wo ist der Junge?« Wieder zauderte Fawkes. Colin Jute deutete das als Unverständnis. »Andrew Taylor!«, rief er. »Sicherlich wissen Sie, wer das ist, oder?«
Fawkes war sich bewusst, dass er bei der eilends in Jutes Büro einberufenen Konferenz am wenigsten willkommen war. Er hielt sich im Hintergrund und lehnte neben den Fotos von Jutes tennisbegeisterten Kindern an der Wand. Er bemühte sich, sie nicht herunterzustoßen und noch mehr Schmähungen von Jute auf sich zu ziehen.
Der Raum war voll. Man hatte zusätzliche Stühle hereingebracht. Zwei Repräsentanten der Health Protection Agency bekamen die Ehrenplätze – zwei antike Stühle mit Armlehnen an Jutes Schreibtisch. Miss Palek mit dem schwarzen Haar und den kaffeebraunen Augen saß aufrecht und unerschütterlich da. Dieses Mal war sie in Begleitung eines älteren, fülligen Herrn mit weißem Haarkranz. Anfangs verlieh seine Anwesenheit dieser Veranstaltung einen gewissen Ernst, bis Fawkes einen näheren Blick riskierte und sah, dass der Hemdkragen des Mannes zwei Nummern zu groß war und dass er auf seinem Stuhl herumzappelte wie ein Fünftklässler. Er war ein reiner Bürokrat. Als er sich als Ronnie Pickles vorstellte, musste Fawkes unwillkürlich grinsen.
Auf dem Sofa hatte die Kommunikationsmanagerin Georgina Prisk Platz genommen, dreißig Jahre alt, blond (und umwerfend, wie Fawkes niedergeschlagen feststellte: strahlende Haut, volle Lippen, große blaue Augen); sie kaute aufgeregt an ihrem Stift – endlich ein Drama, das ihrer Talente wert war! Sir Alan war verhindert. Er habe es mit einer Familienangelegenheit zu tun, hatte Jute vage angedeutet, und Fawkes fragte sich erschrocken, ob Andrews Verschwinden und Sir Alans Abwesenheit irgendwie miteinander in Zusammenhang standen. Er hatte mehrmals versucht, Persephone auf ihrem Mobiltelefon zu erreichen, ohne Erfolg. Das kann nicht sein, beruhigte er sich, so viel Pech kann selbst ich nicht haben. Owen Grieve, Hausvater im Rendalls, fast zwei Meter groß und aufrecht, setzte sich neben Georgina. Zudem waren Mr. Montague, der ironische Senior Master, und Dr. Rogers, der Schularzt mit den behaarten Händen, anwesend. Jute kündigte an, dass Father Peter noch erwartet wurde. Das machte Fawkes Hoffnung, und er spitzte die Ohren, um nicht zu verpassen, wenn die Tür aufging.
Jute übernahm die Leitung der Konferenz, setzte sich auf die Schreibtischkante – eine imposante Pose, einer Führungspersönlichkeit angemessen.
Er fasste die Situation zusammen. Ein Junge tot. Ein Junge krank. Zwei Schüler, die möglicherweise Träger des Erregers waren. Einer von ihnen hielt sich noch auf dem Schulgelände auf.
»Die Eltern Ihres Haussprechers waren hier, um ihn abzuholen?« Jute feuerte die Frage regelrecht auf Fawkes ab.
»Ja. Heute Morgen.«
»Setzen Sie das auf die Negativliste, Georgina: Haussprecher verlässt den Ort des Geschehens.« Jute bedachte Fawkes mit einem giftigen Blick.
Anrufe von Eltern gingen ein, fuhr er fort. Anfragen von Medien?, wollte er von Georgina wissen.
Sie hatte ihre Notizen parat: der Harrow Observer – der Redakteur des Gesundheitsressorts, sagte sie. Times U.K. Nachrichten. Sie hassen uns ohnehin. Einer dieser Klatschreporter für Labor … Sky TV. Sie haben uns angedroht, ein Kamerateam herzuschicken.
»Wir müssen reagieren. Und unsere Freunde von der H … P … A«, dröhnte Jute, als würde die Abkürzung allein schon Angst und Schrecken verbreiten, »sind hier, um uns zu helfen. Sie werden uns beraten und mitentscheiden, ob die Harrow-Schule – zum ersten Mal in ihrer Geschichte, aus gesundheitlichen Gründen geschlossen werden soll.«
Owen Grieve murmelte etwas und bat Miss Prisk, das zu wiederholen – hatte er richtig gehört? Die Schule schließen? Montague nutzte die Gelegenheit, Jute zu korrigieren, aber kein Mensch interessierte sich dafür, dass Harrow im Jahr 1840 schon einmal wegen Diphtherie evakuiert worden war.
Miss Palek ergriff das Wort – so leise, dass alle anderen gezwungen waren, still zu sein und gut zuzuhören; sie informierte sie, dass die HPA kein Interesse daran hatte, den Schulbetrieb einzustellen. Im Gegenteil, sie empfahlen dringend, die Schüler hierzubehalten.
Jute reckte zufrieden das Kinn. »Etwas anderem hätte ich auch niemals zugestimmt«, erklärte er.
»Es ist nur logisch«, führte sie aus. »Andernfalls würden sich die Schüler in alle Richtungen Großbritanniens, sogar der Welt verteilen. Damit würden sie den Erreger weit streuen. Wenn dann eine Pandemie entstünde, wären Sie dafür verantwortlich.«
Jute wurde sichtlich mürrisch.
Ronnie Pickles beugte sich vor. »Das Beste wäre«, begann er mit einem leichten Cockney-Akzent im Tonfall eines menschlichen Jack Russel, »der HPA zu gestatten, die Untersuchungen zu beenden. Wir werden eine Ausgangssperre verhängen, die Schule unter Quarantäne nehmen und Hauttests bei allen Schülern durchführen müssen. Sofort. Und dann noch einmal in acht oder zwölf Wochen. Und für diejenigen mit positiven Resultaten? Eine besondere …«
»Ausgangssperre?«, rief der Rektor.
»Zwölf Wochen Quarantäne?«, setzte Montague beunruhigt hinzu.
Das führt zur Rebellion. Wie soll das gehen? Wird der Unterricht weiter stattfinden? Alle nur auf das Schulgelände beschränkt? Was sollen wir den Eltern sagen? Pickles wurde bleich; offensichtlich wunderte er sich, dass er nicht für seinen gründlich durchdachten, strikten Plan gelobt wurde.
Der springende Punkt ist, sagte Georgina, dass wir unser Vorhaben zwar erklären, aber die Worte Ausgangssperre oder Quarantäne nicht erwähnen. Wir geben ihm gar keine Bezeichnung und unterlassen alle Verlautbarungen …
Was hat es mit diesen Hauttests auf sich?, schrie Dr. Rogers, um sich verständlich zu machen.
Pickles begann zu antworten, doch Jute übertönte alle, um die Ordnung wiederherzustellen: »Schon gut, schon gut.« Er machte Ronnie Pickles herrisch klar, dass eine Ausgangssperre nicht in Frage käme und dass sie keine Hauttests zulassen würden. Dies ist eine Schule, kein Hospital.
Pickles straffte die Schultern und wandte sich an die anderen. »Vielleicht kann jemand eine Alternative vorschlagen?«
Miss Palek konnte. Sie habe den inneren Kreis der letzten bestätigten Infizierten festgesteckt, sagte sie – die Bewohner des Hauses Lot. (Sie nickte Fawkes zu. Jutes Miene wurde noch finsterer.) Wie die Praxis gezeigt hatte, war es das Beste, die Aktionen auf die betroffenen Jungs zu beschränken. Sie wurden bereits getestet, und jetzt musste man nur noch die Ergebnisse abwarten. Das Resultat der aussagekräftigen Blutuntersuchung würde frühestens morgen eintreffen. Demnach mussten sie nur die nächsten vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden überbrücken, in denen die Eltern Sturm laufen würden. Dies war die kritischste Zeit, weil Unsicherheit herrschte. Die beiden Jungs – und nur die – während dieser Periode nach Hause zu schicken war die beste Option.
Allerdings, fügte sie hinzu, komme einer dieser Schüler aus Amerika. (Fawkes nickte.) Ihn nach Hause zu schicken wäre unklug. Sie würden niemals einen Patienten mit Verdacht auf Tb in ein Verkehrsflugzeug setzen. Sie überlegte eine Weile. Vielleicht konnte man ein anderes Arrangement für den Amerikaner in den nächsten vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden treffen – ein Arrangement, mit dem sich die Eltern einverstanden erklären und sie alle so extremen Schritte wie Tests an allen Schülern vermeiden konnten.
Die Anwesenden dachten über diesen vernünftigen Vorschlag nach.
»Wo ist er jetzt, Piers?«, wollte Jute wissen.
Fawkes wurde rot.
Er hatte keine Ahnung, wo Andrew Taylor steckte.
In der Nacht zuvor hatte Fawkes eine nagende Unsicherheit gespürt. Er war ohnehin nervös und unruhig gewesen nach dem Tag im Hospital und den unheilvollen Warnungen. Er wollte Andrew sehen und sich überzeugen, dass ihn diese verheerende Krankheit nicht niedergestreckt hatte. Er war durch den dunklen Flur gegangen, der die Wohnung des Hausvaters mit den Schülerquartieren verband. Alles war still. Er war keuchend in den dritten Stock gestapft, schaute bei Rhys vorbei, der gerade seine Sachen packte: Seine Eltern bestanden darauf, ihn nach Hause zu holen.
In Andrews Zimmer brannte kein Licht. Es wirkte unbewohnt. Die Vorhänge waren offen, obwohl es längst dunkel draußen war. Er wählte Andrews Mobilnummer und hinterließ eine Nachricht.
Stunden später sah er noch einmal nach – mit demselben Resultat.
Fawkes schlief wenig. Am Morgen – nachdem er sich alle möglichen Missgeschicke, Verbrechen und Tragödien ausgemalt hatte, ging er noch einmal los und fand Andrews Zimmer genauso vor wie am Abend.
Bei Tagesanbruch verabschiedete er Rhys neben dem Volvo der Eltern (er hatte sie gebeten, eine diskrete Zeit für den Aufbruch zu wählen), dann meldete sich die Panik erneut. Er rief Dr. Kahn an: Wie, zum Teufel, der Name ihrer Bekannten bei dieser Bibliothek lautete? (Wren, berichtigte sie ihn gelassen. Lena Rasmussen.) Nach etlichen Anrufen im College hatte er Lenas Nummer herausgefunden, doch er erreichte nur die automatische Stimme, die ihm sagte, dass der Teilnehmer der Nummer … zurzeit nicht erreichbar sei. Endlich setzte er sich hin, um in aller Stille durchzudrehen. Er rauchte eine Zigarette nach der anderen, bis ihm schlecht wurde und er loslaufen musste, um eine Unterrichtsstunde über die verdammte Emily Dickinson zu halten.
Amerikaner. Sie waren überall, nur nicht dort, wo man sie brauchte.
Seine Gedanken waren abgeschweift.
»Wie bitte?« Er klang so nutzlos, wie er sich fühlte.
»Hören Sie doch zu, um Gottes willen«, rief der Rektor. Alle Blicke waren auf Fawkes gerichtet. »Wo ist der Junge? Andrew Taylor! Sicherlich wissen Sie, wer das ist, oder?«
»Natürlich. Er ist im Lot und ruht sich aus. Möglicherweise hat er heute den Unterricht versäumt. Ich habe ihn gebeten, den anderen fernzubleiben. Sie wissen schon – so lange, bis die Testergebnisse da sind.«
Alle schwiegen. Fawkes war nicht sicher, ob ihm irgendjemand glaubte. Es gab eigentlich keinen Grund, an seiner Aussage zu zweifeln. Abgesehen von der Tatsache, dass sie reine Erfindung war.
»Irgendwelche Ideen?«, forderte Jute alle Anwesenden heraus. »Wo sollen wir ihn unterbringen? Wir sollten ihn für einen oder zwei Tage aus der Schule entfernen. Das ist doch der Sinn, oder nicht? Ist jemand bereit, ihn aufzunehmen?«
Betretenes Schweigen.
»Das war ein Scherz«, sagte Jute matt.
»Wir quartieren ihn im Three Arrows ein«, schlug Montague vor. »Das ist ein Inn am Fuß des Hügels«, erklärte er Miss Palek und Ronnie Pickles. »Es ist verstaubt und schäbig – dort bleibt er sicher für sich allein. Manche Eltern übernachten am Speech Day in dem Haus, aber ich kann nicht behaupten, jemals andere Gäste dort gesehen zu haben. Wie dieses Inn überleben kann, ist mir ein Rätsel, aber das ist ja nicht unser Problem.«
»Ich schaue mir das an«, verkündete Ronnie Pickles. »Ich will sichergehen, dass die Unterkunft geeignet ist.«
»Abgemacht. Fawkes und Sie, Mr. Pickles, bringen den Jungen zu dem Inn.«
Jute winkte sie hinaus. »Georgina, Owen, Sie tragen ein paar Argumente zusammen. Stimmen Sie sie mit mir ab. Wir sprechen zuerst mit den Kollegen und Angestellten, dann mit den Eltern …«
Alle erhoben sich und gingen mit gesenkten Köpfen an Fawkes vorbei oder schenkten dem Gebrandmarkten ein verkniffenes Lächeln. Schließlich gesellte sich Ronnie Pickles zu ihm; ihm war nicht entgangen, dass der Hausvater einen schweren Stand in dieser Schule hatte, deshalb zwinkerte er ihm einschmeichelnd zu. »Bereit, die Schule zu einem sichereren Ort zu machen?«, fragte er.
»He«, antwortete Fawkes. »Dann sind wir also Komplizen, was?«
Pickles stutzte. »Komplizen … wie Verbrecher? Sie müssen ein richtig schlechtes Gewissen haben. Wir tun Gutes!« Er schlug Fawkes auf den Rücken und grinste.
Sie gingen zur dunklen feuchten High Street. Fawkes war nervös; er kontrollierte sein Handy und steckte sich eine Zigarette an. Pickles wartete geduldig. Fawkes fiel nichts ein, womit er die Situation retten könnte. Der verdammte HPA-Mann wollte ihn zum Lot begleiten. Er würde sehen, dass Andrew nicht da war. Was dann? Würde er Alarm schlagen? Eine Menschenjagd organisieren?
Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, schlenderte er in Richtung Lot und stellte Pickles banale Fragen. Er nutzte die Zeit, in der Pickles redete, zum Nachdenken. Er zermarterte sich das Gehirn, mit welchen Ausflüchten er sich herausreden könnte.
Oh, zu schade. Er ist wahrscheinlich in der Bibliothek.
Wo er andere Schüler anstecken könnte? Nein, lass dir was anderes einfallen.
Oh, das hab ich ganz vergessen, er trifft sich mit einem Freund seiner Familie in London.
Und er fährt mit der U-Bahn? Grauenvoller Gedanke!
Zu schnell kamen sie vor dem Lot an.
»Ich war noch nie in einem Wohnhaus eines Jungeninternats«, sagte Pickles neugierig. »Hier leben die Sprösslinge von den Reichen und Berühmten, oder?«
Fawkes stieg die Außenstufen hinauf wie ein Mann, der zum Schafott ging. Was werden sie mit mir machen?, fragte er sich. Hatte die Gesundheitsbehörde die Befugnis, ihn zu verklagen? Wegen Gefährdung der öffentlichen Gesundheit? Vielleicht konnten sie einen Arrest oder eine Gefängnisstrafe empfehlen. »Tut mir leid«, erklärte Fawkes. »Kann ich Ihnen eine Tasse Tee anbieten? Wie ungehobelt, dass ich das vergessen habe! Es ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, dabei müssen Sie …«
»Mir geht’s gut«, schnitt ihm Pickles das Wort ab. »Bringen wir’s hinter uns. Danach … vielleicht ein Bier in dem Inn?« Wieder ein Zwinkern. Fawkes malte sich in düsteren Farben aus, wie er mit diesem Bürokraten versumpfte.
»Lange Treppe«, entschuldigte sich Fawkes. »Wollen Sie ein wenig rasten?«
»Ich schaffe das schon.«
Sie erreichten Andrews Flur. Durch die Ritze unter seiner Zimmertür schimmerte Licht. Fawkes’ Herz machte einen Satz. »Ah!«, quietschte er mit hoher Stimme. »Da ist er!«
Fawkes stieß die Tür auf. Andrew saß in Schuluniform an seinem Drucker und nahm die Blätter heraus, die das Gerät ausspuckte. Er hatte schon einen ganzen Stapel in der Hand. Er drehte sich um, sah seinen Hausvater und sprang auf.
»Wo waren Sie? Wir müssen zu Dr. Kahn – sofort! Persephone ist krank! Ich weiß, warum – es ist schlimmer, als wir dachten …«
Pickles kam hinter Fawkes ins Zimmer. Andrew verstummte.
»Es ist noch jemand krank geworden, sagen Sie?«, hakte Pickles nach.
»Ah.« Andrew war wie vom Donner gerührt. Fawkes machte ihn mit dem Mann von der HPA bekannt. Das gab ihm Zeit, sich zu erholen. »Nur jemand … aus dem Theaterstück, das wir proben.« Er strich sich über den Hals. »Halsentzündung.«
»Andrew«, begann Fawkes – sein Blick bohrte sich in Andrew und übermittelte ihm, den Mund zu halten. »Du musst ein paar Sachen zusammenpacken.«
Hatte Pickles Verdacht geschöpft? Er saß schweigend auf dem Rücksitz. Andrew hatte auf dem Beifahrersitz des mit Zigarettenbrandlöchern übersäten Citroën Platz genommen und starrte geradeaus. Es war ihm gelungen, Fawkes beiseitezunehmen, um ihm im Flüsterton zu erzählen, was mit Persephone geschehen war.
»Hast du mit Sir Alan gesprochen?«, wollte Fawkes wissen, als Andrew zum Ende kam.
»Nein! Ich hatte keine Zeit. Ich bin gerade erst zurückgekommen.«
»Er muss davon erfahren.«
»Sie ist bei Bewusstsein und wird die Schwestern bitten, ihm Bescheid zu geben.«
»Warum bist du gefahren, Andrew ?«, zischte Fawkes aufgebracht. »Und wieso, zum Teufel, hast du sie mitgenommen? Ich hab dir doch gesagt …« Mr. Pickles kam auf sie zu und sah sie fragend an. Sie warfen Andrews Reisetasche in den Kofferraum und schlugen die Klappe zu.
Nebel hatte sich über den Hügel gesenkt. Sie fuhren höchstens eine halbe Meile, doch auf der kurvigen Straße ohne Gehsteige kam ihnen der Weg viel länger vor. Andrew hatte das Gefühl, Abschied zu nehmen – vom Campus, dem Hügel, den Geschäften mit den hübsch gemalten Ladenschildern, den schmiedeeisernen Geländern und Stützpfeilern. Das alles war ihm vertraut geworden. Außerhalb dieses geschützten Bereiches, in dem das Wissen von Jahrhunderten kultiviert wurde, kam sich Andrew wie ein Ausgestoßener vor. Innerhalb der Campusgrenzen hatte die Vergangenheit ein Zuhause gefunden. Nur ein Ort wie Harrow, dachte er finster, als Fawkes die Green Lane hinunterfuhr, kann einen John Harness beherbergen.
Nach wenigen Minuten schwenkte Fawkes auf einen kleinen Parkplatz neben einer staubigen Durchfahrtsstraße ein. Er zog ruckartig die Handbremse hoch. »Wir sind da.« Andrew warf einen Blick auf den Hügel zu ihrer Linken und begriff, dass sie einen weiten Bogen um das Dorf auf der Nordseite gemacht hatten. Der Turm der Kapelle ragte fast direkt über ihnen in die Dunkelheit.
Das Haus neben ihnen war nur durch eine einen Meter hohe Ziegelmauer von der Straße getrennt. Es war typisch für diese Gegend: ein verwinkeltes, altes Gebäude mit zu vielen Anbauten und Eingängen und dicken Farbschichten. Ein geschnitztes Schild, das von Neonlicht beleuchtet wurde, wies das Haus als The Three Arrows aus. Die vorbeidonnernden Lastwagen und die pinkfarbenen Wände im Inneren sowie der winzige, lieblos eingerichtete Frühstücksraum wirkten allerdings gar nicht malerisch.
»Es ist nicht zu übersehen, warum sie sich für dieses Inn entschieden haben«, stellte Pickles fest. »Trostlos.«
Eine unfreundliche junge Frau mit Brille begrüßte sie am Empfang. Sie nahm Fawkes’ Kreditkarte und Andrews Ausweis an sich.
»Müssen Sie sich noch umsehen, Mr. Pickles?«, wollte Fawkes wissen. »Das Zimmer inspizieren?«
»Hm? Nein.« Pickles hatte die Hände in den Taschen und betrachtete die Gemeinschaftsräume wie ein gelangweilter Tourist. Er schien das Interesse an dem ganzen Unternehmen verloren zu haben. Fawkes vermutete, dass ihm Pickles seine Begleitung nur angeboten hatte, um dem Rektor mit dieser Heldentat zu imponieren; doch jetzt, nachdem er keinerlei Bedrohung in dem Hotel entdeckt hatte, hätte er nichts dagegen, Feierabend zu machen. Fawkes rief sich ins Gedächtnis, dass Pickles ein kleiner Beamter, kein Antiterrorexperte war. Das Bier war – zu Fawkes’ Erleichterung – vergessen. Pickles tippte auf seine Armbanduhr und bat, zu seinem Wagen gebracht zu werden, damit er nach Hause fahren konnte.
Fawkes nahm Andrew zur Seite. »Bist du okay?«
»Ja, alles bestens.«
»Hast du in Cambridge etwas herausgefunden?«
Andrew erzählte Fawkes, was sie über Harness’ Mordabsichten aus den Briefen erfahren hatten.
»Eifersucht. Das ergibt Sinn.« Fawkes kaute an seinem Daumennagel. »Was sollen wir unternehmen?«
»Ich fange mit dem Essay an. Ich habe die Akte über Harness, meine Notizen und die Sachen, die ich von Dr. Cades Website ausgedruckt habe, mitgebracht. Aber ich weiß immer noch nicht, wen Harness getötet hat oder weshalb er so besessen davon ist.«
»Dein Essay muss nicht perfekt sein. Wir brauchen nur etwas, um Harness mit Fakten über ihn und den Mord zu konfrontieren. Wahrscheinlich war Byrons neuer Freund das Opfer. Meinst du nicht?«
»Doch«, erwiderte Andrew. »Okay.«
»Guter Mann. Ich komme zurück, sobald ich diesen Idioten losgeworden bin.«
Sind Sie bereit, Mr. Fawkes?, rief Pickles, der schon an der Tür stand, wie aufs Stichwort.
Fawkes winkte ihm.
»Was ist mit Father Peter?«, wollte Andrew wissen.
»Ich kann ihn nicht erreichen.«
»Scheiße.«
»Ganz genau. Wirst du zurechtkommen?«
»Klar.« Andrew zuckte mit den Schultern.
Fawkes drückte ihm den Zimmerschlüssel in die Hand – mit dem rechteckigen Plastikanhänger glich er eher dem Toilettenschlüssel einer Tankstelle. Ich komme, Mr. Pickles, informierte er seinen Gast. Andrew drehte sich zum Aufzug um. Ihm wurde schwer ums Herz – er hatte den Mutigen nur gespielt, um Fawkes nicht noch mehr zu beunruhigen. Er fragte sich, ob es außer ihm noch andere Gäste gab. Es war ein lausiges Hotel. Doch John Harness war ihm schon zu eigenartigeren Plätzen gefolgt. Andrew schauderte. Er wirbelte herum, um Fawkes zu bitten, bei ihm zu bleiben.
Aber er hörte nur noch, wie die Reifen des Citroën auf dem Parkplatz knirschten. Er war allein.