13
Awesome Aunty
Father Peter beobachtete Piers Fawkes mitleidig. Die meisten Lehrer und Verwaltungsangestellten hatten anfangs große Achtung vor Fawkes gehabt, auch der Kaplan. Eine Zeitlang war Fawkes durch Fernsehinterviews und Fotos in Zeitschriften bekannt gewesen wie ein bunter Hund. Father Peter erinnerte sich an ein spezielles Titelfoto: ein Schwarz-Weiß-Porträt von Fawkes in Pullover auf einem Stuhl und mit einer brennenden Zigarette zwischen Fingern mit schmutzigen Nägeln; er sah verlottert und heruntergekommen aus. Doch das war Jahre her. Die Leute hier in der Schule (wenigstens diejenigen, die über so etwas klatschten) fragten sich, was Fawkes hier zu suchen hatte. Er war nicht gerade der typische Erzieher. Auch kein würdiger Gastdozent. Ziemlich konfus, so hat ihn jemand beschrieben. Und jetzt schien diese Konfusion in etwas Fürchterliches umzuschlagen. Armer Kauz – mit diesem Job hatte er sich mehr aufgeladen, als er geahnt hatte. Vielleicht geht es um den Jungen, der gestorben ist, überlegte Father Peter, als sich Fawkes auf seinem Sofa wand, als würde ihn etwas von innen auffressen. Seine Haut war bleich. Er schwitzte – sein Jackett hatte große Flecken unter den Achseln, und sein Haaransatz war nass. Aber Father Peter entschied, all das mit englischer und klerikaler Zurückhaltung zu ignorieren, den Mann reden zu lassen, wenn er wollte.
»Wie wär’s mit einem Sherry, Piers?«, erkundigte sich Father Peter freundlich.
Als er das hörte, bekam Fawkes einen heftigen Hustenanfall.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte der Kaplan.
Fawkes winkte ab. »Alles bestens«, krächzte er. »Mir geht’s gut.«
Father Peters Lächeln wurde dünner. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Ich, äh …«, begann Fawkes. »Wissen Sie, wie, äh …« Wieder musste er husten.
»Wasser?«, bot der Geistliche an, stand auf und goss Wasser in ein Glas.
Fawkes trank es auf einen Sitz aus.
»Ich hab einen Frosch im Hals.«
»Ja.«
Father Peter wartete.
Endlich platzte Fawkes heraus: »Wissen Sie, wie man einen Geist loswird?«
Jetzt verschwand das Lächeln ganz. »Wie bitte? Sagten Sie gerade, Sie wollen einen Geist loswerden?«
»Ja«, bestätigte Fawkes so beiläufig wie möglich. »Gibt es da ein Gebet? Irgendeine Zeremonie?«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu verraten, weshalb Sie mich das fragen, Piers?«
Fawkes gab eine ausweichende Antwort … es gehe um das Lot-Gespenst, eine Legende, eine Tradition … aber nach Theo Ryders Tod, meinte er, sei das Interesse wiedererwacht … an etwas, dem man die Schuld geben könne, was das Unerklärliche erkläre.
»Wollen Sie damit sagen«, hakte Father Peter nach, »die Jungs machen den Geist für Theo Ryders Tod verantwortlich?«
»Einige Jungs«, stellte Fawkes klar.
»Und Sie dachten, ein Gebet oder ein Exorzismusritual könnte sie beruhigen?«
Fawkes nickte. »Ich muss Sie bitten, diese Sache vertraulich zu behandeln«, fügte er eilends hinzu. »Der Rektor hält mich in diesem Punkt ohnehin für verrückt.«
»Hm«, machte der Kaplan und musterte seinen schwitzenden Gast. »Ja. Nun, das ist ungewöhnlich. Ich habe natürlich schon von dem Lot-Gespenst gehört. Allerdings möchte ich … einem Aberglauben keine Bedeutung beimessen. Verstehen Sie?« Er machte eine Pause. »Und Sie, Piers? Denken Sie, da ist was dran?«
Endlich hörte Fawkes auf, hin und her zu rutschen. »Ich denke«, erwiderte er bedächtig, »dass ich Vorsichtsmaßnahmen ergreifen muss. Ich trage die Verantwortung für die Jungs.«
Father Peter zögerte. »Haben Sie etwas … gesehen?« Das könnte dieses merkwürdige Verhalten erklären. Vielleicht hatte er Angst.
»Ob ich etwas gesehen habe? Nein, nicht persönlich.« Fawkes tupfte sich die Stirn ab. »Aber einige der Jungs schon. Insbesondere einer, sollte ich wohl sagen.«
»Und Sie glauben ihm?«
»Ja.«
»Hm. Außergewöhnlich.« Der Geistliche kaute auf seiner Lippe. Er setzte zusammen, was er soeben von Fawkes erfahren hatte. »Tut mir leid. Verzeihen Sie mir, wenn ich ein wenig begriffsstutzig bin.« Er hielt kurz inne. »Aber wenn die Jungs glauben, dass der Geist schuld an den Geschehnissen und an Theo Ryders Tod ist … und Sie ihnen glauben … dann denken Sie wie Ihre Schützlinge.« Er beobachtete Fawkes aufmerksam. »Habe ich das richtig verstanden?«
»Na ja«, entgegnete Fawkes mit einem verlegenen Lächeln, »wenn ich jetzt ja sage, dann muss ich verrückt sein, oder?«
»Durchaus«, antwortete Father Peter ausdruckslos, wie es nur Briten vermögen, und drückte damit aus: Kann sein oder Ich behalte mir ein endgültiges Urteil vor. Er begegnete Fawkes’ Blick und hatte das Gefühl, zum Kern des Problems vorgestoßen zu sein.
»Und falls ich, der die Verantwortung für sechzig Schüler trägt, verrückt sein sollte, wäre ich fehl am Platze, stimmt’s? Der Rektor hätte recht, wenn er mich von meinen Pflichten entbinden würde.«
Der Kaplan schwieg.
»Wenn ich andererseits«, fuhr Fawkes fort, »tatsächlich glauben würde, dass etwas Übernatürliches und Schädliches sein Unwesen treibt, und nichts unternehme, würde man mich für alles, was geschieht, zur Rechenschaft ziehen.« Die beiden Männer sahen sich an. »Drücke ich mich klar aus?«
»Sehr klar.« Der Geistliche war nachdenklich. »Und wenn ich ein Gebet im Lot spreche – nur als Vorsichtsmaßnahme, um den Schülern in einer schwierigen Zeit Halt zu geben –, wäre das genug?«
»Genau das brauchen wir«, beteuerte Fawkes.
Father Peter strahlte.
Fawkes hatte den Kaplan immer gemocht. Jugendlich, schlank – ein Läufer; immer vergnügt, sozial eingestellt und keiner dieser albernen Kleriker, die darauf aus waren, die Karriereleiter nach oben zu klettern. Fawkes würde eine bessere Meinung von Priestern und ihren Zauberkünsten haben, wenn dieses Vorhaben geglückt war.
»Da ist noch etwas«, kündigte Fawkes an.
»Es ist ziemlich heikel. Ah … können Sie sich noch ein bisschen Zeit lassen?«
»Wie bitte?«
»Können Sie warten? Sagen wir, ein, zwei Wochen.«
»Ich brauche mindestens so lange zur Vorbereitung. Das ist etwas, was ich Spezialistenarbeit nennen würde. Die Church of England macht solche Sachen, aber nicht ohne Voruntersuchung.« Father Peter lächelte so entwaffnend, wie es ihm möglich war. »Um sicherzugehen, dass dies die richtige Lösung für das richtige Problem ist. Haben Sie das Gefühl, dass der Geist gefährlich ist?«
»Sehr sogar.«
»Dann werde ich mich sofort darum kümmern.«
»Eine oder zwei Wochen wären wunderbar«, sagte Fawkes. »Ich bin Ihnen für Ihre Diskretion dankbar.«
»Ist doch selbstverständlich.«
Der Kaplan begleitete seinen Gast hinaus. Als er die Tür zur High Street öffnete, hielt er inne. Sie standen sich in der eisigen Brise gegenüber.
»Sie halten ihn für gefährlich«, sagte der Priester, »deshalb verstehe ich nicht, warum sie noch eine oder zwei Wochen warten wollen. Das erscheint mir ein krasser Widerspruch zu sein.«
»Ich möchte ihn noch eine Weile studieren«, gestand Fawkes. Father Peter riss die Augen auf. »Ich denke, der Geist hat etwas mit Lord Byron zu tun. Wenn Sie ihn zu schnell verscheuchen, dann bekomme ich kein Originalmaterial für mein Stück mehr.«
»Sie scherzen sicherlich.«
Fawkes sagte nichts dazu.
Father Peter musterte ihn kühl. »Sie setzen Ihre Prioritäten falsch, Piers.«
»Ich weiß.« Der Poet zog die Schultern hoch, um sich gegen den Wind zu schützen. »Daran bin ich gewöhnt.«
Dr. Kahn nahm argwöhnisch das Bündel entgegen, als ob ihr Andrew eine Papiertüte voller Pfundnoten überreichen würde.
»Ich hab die Briefe eingepackt, damit das Fett von meinen Fingern nicht draufkommt.«
»Gut gemacht«, sagte sie gleichmütig. »Und wo hast du sie gefunden?«
»In der Zisterne. Unter Wasser in einer Blechdose.«
»Darf ich die Dose sehen?«
Er holte sie aus seinem Rucksack. »Ist das eine spezielle Schatulle für Briefe oder so was?«
Dr. Kahns Büro auf der Ostseite des Bibliotheksgebäudes mit Blick auf die Steinmauer der Kapelle war hell erleuchtet. Eine Mischung aus der Kommandozentrale einer Verwalterin, dem Schlupfwinkel einer Forscherin und einem Lagerraum. Regale reichten vom Boden bis zur Decke, jedes ordentlich unterteilt und beschriftet, gefüllt mit Büchern, Akten und Heftern. Sie thronte an einem Schreibtisch – eine Monstrosität aus Holz, knappe zwei Meter breit, und nippte an einem getöpferten Teebecher mit der Aufschrift Awesome Aunty.
»Briefe?« Sie drehte lächelnd die Büchse in der Hand. »Sie ist für Plätzchen gedacht. Ein Glück für uns. Diese Dosen sind luftdicht, damit das Gebäck haltbar bleibt. Sie konnte kaum die gewünschte Lösung sein. Dein Briefschreiber muss es eilig gehabt haben. Oder vielleicht sollte ich besser sagen: der Empfänger.«
»Sag du es mir«, befahl sie in ihrem eisenharten Ton.
Sie schnitt mit einer Schere die Schnur, die die Briefe zusammenhielt, durch. Andrew zuckte zusammen. Er hatte seinen Fund mit äußerster Vorsicht behandelt und auch die Schnur nicht angerührt.
»Weil … der Empfänger die Briefe in Besitz haben muss und demzufolge die Person ist, die sie gesammelt und in der Zisterne deponiert hat.«
»Ganz genau«, murmelte sie und suchte in einer Schublade nach einer kleinen Box, aus der sie weiße Handschuhe – Latexhandschuhe – nahm. Dann machte sie Platz auf ihrem Schreibtisch.
»Warum schreibt er so kreuz und quer?«, wollte Andrew wissen. »Und drängt die Zeilen so dicht zusammen?«
»Im neunzehnten Jahrhundert war Schreibpapier schwer zu bekommen. Briefschreiber schrieben von links nach rechts wie wir, aber wenn das Papier zu Ende war, fügten sie vertikale Zeilen hinzu.« Sie fuhr mit dem rechten Zeigefinger von links nach rechts, dann von unten nach oben. »Dieser Schreiber hatte eine Menge zu sagen. So was hab ich noch nie gesehen.« Sie runzelte die Stirn. »Furchtbar schwer zu lesen.«
»Ist da eine Unterschrift?«
Sie drehte den Papierbogen um. »Nein.«
»Sind sie von Byron?«
»Unwahrscheinlich. Byron war vermögend und knauserte nicht mit Schreibpapier – insbesondere, da er auch Dichter war.«
»Sind sie von Harness?«
»Was bringt dich auf diesen Gedanken?«
»Wer sonst sollte mich in diesen Raum führen?«, fragte Andrew.
»Ich mag John Harness nicht«, murrte Dr. Kahn. »Und ich traue ihm nicht.«
»Ich weiß. Aber das ist ein Hinweis.«
»Ein Hinweis auf einen Mord von einem Mörder«, stellte sie fest. »Wieso sollte er uns das zeigen? Versucht er sich zu offenbaren? Sich reinzuwaschen?«
»Vielleicht will er, dass wir den Mordfall lösen.«
»Falls John Harness jemanden umgebracht hat, kann ich mir schlecht vorstellen, dass er als Täter entlarvt werden will«, bemerkte sie. »Zumindest zwei Tassen Blut mit Händen aufgefangen«, las sie, nachdem sie die Brille aufgesetzt hatte. »Ich packe diese Briefe zusammen und schicke sie an eine Bekannte. Miss Lena Rasmussen. Sie ist eine Freundin meiner Nichte; eine Archivarin. Sie hat übrigens meinetwegen diesen Beruf ergriffen.«
»Sie haben ihr gezeigt, wie cool er ist.«
Dr. Kahn verzog das Gesicht. »Sie arbeitet in der Wren Library im Trinity College, Cambridge – eine Bibliothek für bedeutende Handschriften und seltene Ausgaben. Gelegentlich machen sie dort eine Pause in ihrer Verehrung für Isaac Newton, um Byron zu huldigen. Ich denke, sie wird wissen, was davon zu halten ist.«
»Danke«, sagte Andrew mit all dem Enthusiasmus, den er aufbringen konnte. Er fühlte sich nicht wohl bei dem Gedanken, die Briefe jemand anderem zu überlassen. »Wird sie … wird sie sich rechtzeitig damit befassen können?«
»Wenn ich sie darum bitte, macht sich Lena sofort an die Arbeit.«
»Wie lange wird es dauern, bis sie die Briefe bekommt?«
»Ich schicke sie per Express. In Ordnung, Andrew ?«
»Ich habe etwas für dich«, sagte sie und deutete auf einige abgenutzte alte Bücher, die am Rand des Schreibtischs gestapelt waren. »Das sind die besten Quellen, die ich über Byron finden konnte. Wir erlauben dir, sie mit ins Lot zu nehmen – ein spezielles Privileg, da wir sie normalerweise nicht ausleihen.« Andrew lächelte über den Pluralis Majestatis, den sie immer verwendete, wenn sie im Namen der Bibliothek sprach. »Wenn ich genauer darüber nachdenke, wäre es mir allerdings lieber, du würdest sie hier lesen.«
Andrew ließ die Schultern hängen. »Warum? Vertrauen Sie mir nicht?«
Sie warf ihm einen Blick zu. »Die Atmosphäre der Vaughan scheint im Moment gesünder zu sein als die im Lot. Ich wüsste dich gern in meiner Nähe und fern von ihm.«
Andrew ging jeden Abend, an dem er keine Theaterprobe hatte, in die Bibliothek. Am ersten Abend entdeckte er, dass Dr. Kahn eine Lesenische in einer Ecke ihres riesigen Büros für ihn frei gemacht und die Bücher in das Regal daneben gestellt hatte. Am zweiten reichte sie ihm einen großen I-HEART-LONDON-Becher mit dampfendem, stark gezuckertem Tee und ein paar in eine Serviette gewickelte Biskuits. Du siehst blass aus, stellte sie fest. Ich kann nicht kochen, aber ich kann Tee aufbrühen. Am dritten Abend warteten noch mehr Bücher auf ihn, und er hatte das Büro ganz für sich (Dr. Kahn besuchte eine Veranstaltung in London). Er blätterte in einem Buch, war jedoch abgelenkt, weil sein Handy summte. Habe die Erlaubnis vom Hausvater, alias Dad, am Samstag nach London zu fahren.
Andrew textete zurück.
Ich habe Probe! Können wir um 1 fahren?
Eine lange Pause. Andrew inspizierte die vergilbten Seiten. Er vermutete, dass Persephone nicht glücklich über seine Nachricht war und ihn entweder absichtlich schmoren ließ oder den Gedanken an ihr gemeinsames Wochenende ganz aufgegeben hatte. Er geriet in Panik.
Ich kann versuchen, die Probe abzusagen, bot er schließlich an.
Mit welcher deiner Freundinnen probst du?
Nicht sicher – Rebecca?
Zwanzig Minuten blieb das Handy still. Andrew bemühte sich um Konzentration.
Vielleicht willst du mit ihr nach London fahren.
Nein, nein! Ich habe gewartet …
Worauf ?
Er nahm einen Band mit Byron-Gedichten, das im Regal hinter ihm stand, zur Hand und schlug ihn auf der Seite auf, die er markiert hatte.
… auf deine namenlose Anmut, die in jede rabenschwarze Strähne gewoben ist, tippte er und wartete ein paar Sekunden.
Dann ist es gut, lautete die Antwort.
Er lächelte.
Dann folgte eine weitere SMS:
Zitiere Byron, und ich schlafe definitiv mit dir.
Wow. Das wartete da draußen. Er lachte, verstummte jedoch schnell, als etwas seine Aufmerksamkeit erregte. Es schien, als füllte sich Dr. Kahns Büro langsam mit Gas. Es stieg vom Boden auf, bis es die Decke erreichte. Eine Präsenz, dicht und bedrückend, raubte Andrew die freudige Erregung. Subtile Geräusche, winzige Laute, die ein menschliches Wesen verursachte – das Rascheln von Kleidung, das Knarren einer Bodendiele –, flüsterten in der dichten Atmosphäre. Dennoch regte sich die Erscheinung nicht. Sie bebte lediglich vor Verlangen, alles zu beobachten. Raubtierhaft. Still. Dann kam nach und nach das Atmen. Es fing leise an, als würde jemand den Arm oder ein Taschentuch an den Mund drücken. Aber es war da. Und schließlich konnte Andrew es richtig hören. Als ob der Beobachter sich keine Mühe mehr machte, seine Anwesenheit zu verbergen.
Andrew umklammerte das Handy in seiner Hand so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. Er schnappte nach Luft und wirbelte herum. Das Telefon flog ihm aus der Hand und fiel klappernd auf den Boden.
Ein leeres Büro starrte ihn an. Dr. Kahns Papiere pulsierten unter den fluoreszierenden Leuchten, als wären sie selbst mit Licht aufgeladen worden. Dann setzten sie sich ab, und dieses kranke, schwere Gas sickerte aus dem Raum, als ob es jemand mit einem Strohhalm absaugen würde.
Andrew hob behutsam sein Handy auf. Vier Nachrichten warteten auf ihn.
Bist du noch da? Ich hab dich abgeschreckt, oder? Oh, verdammt. Es war nur ein Witz. Tausend Dank.
Er tippte ungeschickt in sein Telefon:
Ich bin hier. Jemand hat vorbeigeschaut, das ist alles.
Am Donnerstag saß Dr. Kahn an ihrem Schreibtisch und wartete auf ihn. Ihre Augen waren klein, rund und schwarz-braun und beobachteten ihn über den Brillenrand hinweg, als könnten sie Stahlplatten durchbohren.
»Ich habe dir die beste Sekundärliteratur herausgesucht, die wir in unserer Sammlung haben«, begann sie, ohne abzuwarten, bis er sich gesetzt hatte. »Jetzt möchte ich wissen, was du bisher gelernt hast.«
Andrew verspürte ein nervöses Zittern. Er legte die Hand auf ein Buch – das abgegriffene blaue, Byron in Harrow, von Patrick Burke, herausgegeben 1908 –, als würde es ihm durch elektrische Strömungen Wissen vermitteln.
Byron war zwei Klassen über Harness in Harrow, fing er an.
Byron galt in Harrow als zorniger, exotischer junger Mann. Sein Klumpfuß verunstaltete ihn; die Metallstütze, die ihm die Ärzte verordnet hatten, um die Fehlstellung zu korrigieren, war ihm peinlich; und er war erpicht darauf, sich in Faustkämpfen zu beweisen und im Unterricht aufzufallen. Trotz seines Titels und des Reichtums, den er unerwartet im Alter von zehn Jahren geerbt hatte, war er komplexbeladen nach einer schwierigen Kindheit. Sein Vater war ein Halunke, Schürzenjäger und Trinker – er erhielt den Spitznamen Mad Jack – und hatte Byron und seine Mutter, kurz nachdem er sie wegen ihres Geldes geheiratet hatte, verlassen. Mrs. Gordon, Byrons Mutter, war fettleibig und – zumindest nach Aussage ihres Sohnes – eine jähzornige Wahnsinnige, die große Reden schwang. George Gordon Baron Byron war, vom gesellschaftlichen Standpunkt aus gesehen, einer der höhergestellten Schüler in Harrow, doch sein Klumpfuß und die fragwürdige Erziehung waren für ihn Grund genug, sich immer wieder ins rechte Licht zu rücken.
»Bis dahin nicht schlecht«, befand Dr. Kahn, »aber das alles ist natürlich nichts Neues. Fahr fort.«
Andrew gehorchte.
Byron war auch in sexueller Hinsicht ungewöhnlich. Über seine physische Schönheit wurde viel berichtet. Es gab Hinweise darauf, dass er mit noch nicht einmal elf Jahren von einem Hausmädchen der Familie sexuell belästigt wurde und dass sich ein aristokratischer Nachbar, ein Lord Grey, in ihn verliebte, als er dreizehn war.
»Hauptsächlich Mutmaßungen«, bemerkte Dr. Kahn verdrossen. »Wenn auch nicht notwendigerweise unzutreffend.«
Harness andererseits war schwieriger zu beschreiben. Das, was man über ihn wusste, war hauptsächlich Byrons Briefen zu entnehmen. In Harrow war Harness ein zarter, kränklicher, blasser, aus ärmlichen Verhältnissen stammender Junge aus der Gegend mit wundervoller Singstimme und großer Liebe zum Theater und zur Schauspielerei. Harness fiel Byron auf, weil er wie Byron selbst hinkte. (Ein Regal war ihm in seiner Kindheit in Northolt auf den Fuß gefallen.) Byron empfand Mitgefühl, und seinen Briefen zufolge bot er ihm an: Falls dich irgendjemand schikaniert, sag es mir, und ich verprügle ihn, wenn ich kann. So fing es an. Harness’ Verletzung heilte schließlich aus. Sie taten sich zusammen. In diesem Punkt sind die Informationen ziemlich vage … Andrew zögerte.
»Und?«, drängte Dr. Kahn.
»Darf ich die Lücken mit eigenen Spekulationen füllen?«, fragte Andrew unsicher.
Ihre Mundwinkel zuckten, als sie sich ein Lächeln verkniff. »Das ist eigentlich die Idee, Andrew.«
Andrew fuhr fort: »Das Lot war überfüllt und verwahrlost. Die beiden Schüler liebten sich. Harness stand unter ständigem Beschuss der anderen, weil er zum Stadtpöbel gehörte. Deshalb nahmen die beiden im einzigen Raum des Hauses Zuflucht – in dem Zisternenkeller –, in dem sie ungestört proben konnten oder …«
»Ja?«, drängte Dr. Kahn weiter.
»Sie wissen schon. Sie haben rumgemacht.«
»Das brauchen alle Teenager. Einen Ort, an dem sie sexuell experimentieren können.«
»Richtig. Aus diesem Grund kehrt Harness dorthin zurück. Als Geist. Es ist sein Geheimversteck.«
Dr. Kahn wurde streng. »Aber es gab eine Menge Schüler, die solche Affären hatten. Und es kommen nicht alle zurück, um auf dem Hill zu spuken. Sonst würde sich eine Menge auf der Straße zusammenrotten, und wir kämen gar nicht mehr durch. Was macht diese Liebschaft so speziell?«
Andrew war ratlos. »Ich weiß es nicht.«
»Ich habe einen Grundsatz«, sagte sie. »Er mag dumm erscheinen, aber er hilft mir bei meinen Nachforschungen sehr oft. Möchtest du ihn hören?« Er bejahte. »Such zuerst den Kern und erst dann den Anfang.« Sie zwinkerte. »Beschränke dich nicht auf die chronologische Abfolge. Finde den wichtigsten Teil ihrer Geschichte, darauf kannst du dann aufbauen. Wo haben sie die Liebe am stärksten gefühlt?«
»Im Zisternenkeller.«
»Aber das war nur in Harrow.«
Schweigen.
»Um Gottes willen, Andrew, willst du sagen, du hast nur diese Bücher gelesen. Sind dir die Markierungen, mit denen ich Byrons Briefe versehen habe, nicht aufgefallen?«
»Diese Briefe sind später geschrieben worden«, protestierte er. »Zum Beispiel 1807.«
»Du passt nicht richtig auf«, schalt sie ihn. Und zu Andrews Überraschung kam sie auf ihn zu, beugte sich über ihn, schlug die Bücher vehement auf und klopfte sie flach.
»Vorsicht mit den Büchern!«, rief er und zog sich ein wenig zurück, um sich in Sicherheit zu bringen.
»Diese werden nach wie vor gedruckt«, erwiderte sie. »Bloße Informationen.«
Andrew, rügte sie, beschränke sich zu sehr auf die Zeit in Harrow. Dabei könne er die Antwort in der Cambridge-Periode finden, wo Byron immatrikuliert war und Harness ihm nachfolgte.
»Da«, sagte sie und tippte mit dem Zeigefinger auf eine Seite.
Andrew las:
AN ELISABETH PIGOTT, 1806 (eine Freundin aus Kindertagen, die ihn nicht verurteilen würde, erläuterte Dr. Kahn)
Er hängt wahrscheinlich mehr an mir als ich an ihm. Während meines ganzen Aufenthalts in Cambridge haben wir, Harness und ich, uns jeden Tag getroffen, Sommer wie Winter, ohne auch nur einen ermüdenden Augenblick zu erleben, und uns jedes Mal mit wachsendem Widerwillen getrennt. Ich hoffe, Du wirst uns eines Tages zusammen erleben. Er ist das einzige Wesen, das ich schätze, obwohl ich viele andere gernhabe. Er hat mir gerade in der vergangenen Woche einen Ring geschenkt, einen Karneol, den er aus eigener Tasche bezahlt hat. Er hat ihn mir furchtsam dargeboten, als könnte ich ihn zurückweisen. Ich war weit davon entfernt und sagte lediglich, meine einzige Besorgnis wäre, dass ich ein so kostbares Liebespfand verlieren könnte.
»Was sagt dir das?«, wollte Dr. Kahn wissen.
»Er schätzt Harness.«
»Unsinn«, explodierte sie. »Harness hat ihm einen Ring geschenkt! Mit einem zweitklassigen Stein, aber er hat ihn mehr gekostet, als er sich leisten konnte, und er wäre beinahe in Ohnmacht gefallen vor Angst, als er ihn Byron überreichte. Und wann schenkt man sich einen Ring, Andrew ?«
»Wenn man heiratet«, antwortete er verdruckst.
Sie blätterte wütend in einem anderen Buch, in einem Gedichtband, und las vor: »Da ist eine Stimme, deren Ton so zärtliche Gefühle in meiner Brust weckt. Ich würde einen Engelschor nicht hören …« Harness war Schauspieler mit einer wundervollen Singstimme, erinnerst du dich? Damit hat der das Stipendium in Harrow und in Cambridge bekommen: im Chor. Schön, sehen wir weiter.« Sie schlug die nächste Seite auf. »Da ist es. Es gibt zwei Herzen, die so süß im Gleichtakt erschauern, dass sie, Puls an Puls, beide schlagen oder stillstehen. Puls an Puls heißt Haut an Haut, nicht wahr? Da geht es nicht um etwas Unerfülltes, sondern um zwei Menschen, die in jugendliche Liebe gehüllt sind.
Es gibt zwei Seelen, die gemeinsam
in einem sanften Strom treiben,
und wenn sie sich trennen – trennen? – o nein!
Sie können sich nicht voneinander lösen – sie sind eins.«
Dr. Kahns Blick ruhte auf den Zeilen. »Sie können sich nicht voneinander lösen«, flüsterte sie. »Siehst du das Datum?« Sie hielt Andrew das Buch vor die Nase.
»1807«, sagte er ruhig.
»Ja. 1807.«
Sie zog einen Stuhl an Andrews Seite, setzte sich, kreuzte die Arme über den Büchern und redete ernst und nachdrücklich mit ihm wie mit einem Kollegen. Byron, sagte sie, habe von einem Leben mit Harness geträumt. Von einem Leben wie in einer heterosexuellen Ehe. Aber er habe sich getäuscht. »Wie sehr, werden wir in Kürze enthüllen«, versprach sie. »Aber zuerst wollen wir die Phantasie, die er um ihr gemeinsames Leben gesponnen hat, untersuchen.« Sie legte Andrew einen anderen Brief an Pigott vor. Harness wechselt im Oktober in ein Handelshaus, und wir werden uns wahrscheinlich nicht sehen, bis meine Unmündigkeit endet …
»Bis er volljährig wird«, erläuterte Dr. Kahn. »Das heißt, dass es Byron kaum erwarten kann, all das Geld, das er zusammen mit dem Anwesen in Newstead erben sollte, in die Finger zu kriegen. Hast du Newstead Abbey schon gesehen? Sie ist großartig. Groß, grau, mittelalterlich. Überall Pfauen. Schon wenn man in den Park einbiegt, fühlt man sich erhaben.«
Aber Byron war immer verschwenderisch, gab reichlich Geld für vornehme Kutschen, Spirituosen und Kleider aus. Schließlich war er gezwungen, Newstead Abbey, das seit dem fünfzehnten Jahrhundert im Besitz der Familie war, zu verkaufen. Wie ein Popstar, der schnell pleitegeht, weil er sich luxuriöse Häuser, teure Autos und jede Menge Tand zulegt, erklärte sie.
Andrew staunte über den unerwarteten Vergleich. »Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe Nichten«, entgegnete sie scharf. »Lies.«
Andrew folgte der Aufforderung.
Harness wechselt im Oktober in ein Handelshaus, und wir werden uns wahrscheinlich nicht sehen, bis meine Unmündigkeit endet. Ich werde ihm die Entscheidung überlassen, ob er durch meine Beteiligung als Partner in die Firma einsteigen …
Das bedeutet, führte Dr. Kahn aus, dass Byron beabsichtigte, wie ein Sugardaddy die Karriere seines Freundes zu sponsern. Wie ein Ehemann, der seiner Frau eine Lizenz als Immobilienmaklerin verschafft.
… oder ob er ganz bei mir wohnen will.
Andernfalls, ergänzte sie, würde Byron Harness zu einer Hausfrau machen.
Er soll die Wahl haben. Ich liebe ihn mehr als jedes andere menschliche Wesen, und weder Zeit noch Distanz hat die leiseste Auswirkung auf meine (ansonsten wankelmütige) Zuneigung.
Andrew hielt inne. »Er war seiner Zeit ein wenig voraus, wie ich sehe. Aber … die Engländer tolerieren Schwule, stimmt’s? Sehen Sie sich Mr. Baldridge an.« Er bezog sich auf den Naturwissenschaftslehrer, der mit seinem Lebensgefährten zusammenwohnte.
»Eigentlich sollte ich dich nicht drauf hinweisen müssen, dass sich die Zeiten inzwischen geändert haben, Andrew. Damals verstieß Homosexualität gegen das Gesetz. Sie hätten nie ein solches Leben führen können. Niemals. Homosexualität war nicht nur illegal, sondern ein Kapitalverbrechen, das mit sofortigem Tod bestraft wurde.«
Andrew sah betroffen auf.
»Das ist eine Enttäuschung, was? Nachdem du diese Gedichte und die Briefe gelesen hast.« Sie strich über das aufgeschlagene Buch. »Zweifellos fühlten Byron und Harness genau so. Trotzdem kann ich Byron diese Illusionen verzeihen«, fuhr sie nachdenklich fort. »Cambridge ist ein magischer Ort, nicht so geschäftig und übersichtlich wie Oxford. Cambridge ist wie gemacht für Geheimnisse. Das wirst du hoffentlich einmal selbst sehen. Mauern trennen die Studenten von der Stadt. Von England. Schließen all das aus und die Studenten und ihre Angelegenheiten ein. Es ist ein wunderbarer Ort, sich zu verlieben«, schweifte sie ab. »In den Backs im Juni. Das Laub und die Rasenflächen sind saftig grün und leuchten golden in der Sonne. Und alle trinken. Pimm’s, Wein – jeden Tag Partys. Stelldichein im Schutz der tiefhängenden Äste. Die Jungs, schlank und schön – auch wenn sie das bei dem vielen Alkohol nicht verdient haben, aber so ist es eben, wenn man zwanzig ist. Was gibt es Schöneres als einen verstohlenen Kuss auf eine sonnenverbrannte Wange nach einem Tag im Freien?«
Sie verstummte.
Nach einer Weile sagte sie sarkastisch, nachdem sie Andrews erstaunten Blick gesehen hatte: »Du willst sicher wissen, ob ich aus Erfahrung spreche. Selbstverständlich. Ich war nicht immer … so alt wie heute.«
Er wartete; sie lächelte geheimnisvoll, gab jedoch nicht mehr preis.
»Ich habe Schwierigkeiten, dies alles mit dem, was ich von Harness gesehen habe, in Einklang zu bringen«, gestand Andrew schließlich. »Sein Gesicht drückte … pure Wut aus. Nichts Freundliches. Nichts von dem, was hier beschrieben wird.«
»Dann haben wir ein Teil des Puzzles übersehen. Du musst in die Wren Library gehen und in Erfahrung bringen, was in den Briefen steht, die du gefunden hast. Ich werde eine Mail an meine Freundin schicken. Du wirst Trinity zu Gesicht bekommen, Andrew. Aber nimm dich in Acht. Du weißt jetzt, was dort vorgefallen ist. Wie sehr sich Byron und Harness ineinander verliebt haben. Ernsthaft verliebt.« Sie deutete auf das Buch mit den Briefen. »Je kostbarer der Schatz, umso grimmiger der Drache, der ihn bewacht.«