10

Vorschlaghämmer

Fawkes saß auf seiner Veranda unter einem Vordach, Schreibblock auf dem Schoß, Stift in der Hand. Regentropfen trommelten auf den Eisentisch, den der letzte Hauslehrer dagelassen hatte (Fawkes hatte ihn seinem Vorgänger abgekauft, weil er wusste, dass er zu faul oder zu beschäftigt sein würde, sich selbst um neue Verandamöbel zu kümmern), und spritzten auf seinen Block. Das Papier wellte sich, die Schrift verschwamm leicht. Aber Fawkes rührte sich nicht von der Stelle. Dieses Fleckchen war sein Refugium, trotz Regen. Es gab keine Fenster, aus denen man ihn hätte beobachten können. Hier konnte sich Fawkes mit Kaffee vollpumpen, rauchen und schreiben. Hier brachen sich alte Instinkte Bahn  – Gewohnheiten von dreißig Jahren. Er kehrte in ein Urstadium zurück; hörte den Rhythmus all der Literatur, die er in seinem Leben gelesen hatte: Eine ganze Reihe von Dichtern trommelten betonte und nicht betonte Silben in ein Schema. Der zweite Akt des Stückes ging flüssig voran – schneller, als er schreiben konnte. Seine Finger zitterten vor Aufregung – nicht, redete er sich ein, vom Gin, der seinen Blutkreislauf belebte. Er las das Geschriebene noch einmal. Es hatte eine Melodie. Es brauchte noch den Feinschliff, aber das war nicht mehr so schlimm. Die Hauptsache war, dass er eine Goldader gefunden hatte.

Er klappte den Block zu, ging in die Mitte der Veranda, ließ sich vom Regen durchweichen und drehte das Gesicht zum Himmel. Der Rhythmus hallte noch in ihm wider.

»Sir?«

Fawkes zuckte zusammen. »Guter Gott! Was machst du hier? Wie spät ist es, Andrew ?«

»Kurz vor acht.« Andrew, in Sakko mit Krawatte, stand in der Verandatür. »Tut mir leid. Ich habe geklingelt, aber Sie haben nicht reagiert.«

»Das heißt, dass niemand zu Hause ist.«

»Aber Sie sind da.«

»Nein, das bin ich nicht!«

»Ich habe den Namen herausgefunden«, erzählte Andrew voller Eifer. »Von … Sie wissen schon …«

»Ah.« Fawkes versuchte, sich möglichst gleichgültig zu geben, und blieb auf der Veranda stehen, als ob ihn der Regen nicht stören würde. »Judy hat dir geholfen. Sehr gut. Die allmächtige Kahn kennt ihre Archive, stimmt’s?«

»Soll ich … zu Ihnen rauskommen?«

»Nein.« Fawkes schob sich an Andrew vorbei und schnappte sich das Handtuch, das in der Küche über einem Stuhl hing, um sich abzutrocknen.

»Was haben Sie da draußen gemacht?«, wollte Andrew wissen.

»Mit den Göttern kommuniziert.«

»Wie geht es den Göttern?«

»Sie sind wieder da.« Fawkes führte ihn ins Wohnzimmer, ließ sich aufs Sofa fallen und steckte sich eine Zigarette an. »Zum großen Teil dank dir, Andrew.«

»Wirklich?«

»Mm. Allmählich verstehe ich: Das Stückeschreiben gewinnt Energie von den Schauspielern. Einen Byron zu haben … und du bist ihm sehr, sehr ähnlich, das weißt du doch, oder? Nun, das ist verdammt inspirierend.«

Fawkes grinste. Andrew merkte, wie sehr sich Fawkes anstrengte, ihm zu zeigen, dass er scherzte, doch gerade das deutete darauf hin, dass er die Wahrheit sagte.

»Das ist gut«, erwiderte Andrew.

»Also, was hast du von Judith erfahren? Brauche ich einen Drink, um die Neuigkeiten zu verkraften?« Fawkes stand auf und ging in die Küche, wo er eine halbvolle blaue Ginflasche liebevoll zwischen den Händen drehte.

»Piers«, sagte Andrew, »es ist noch nicht mal neun Uhr morgens.«

Fawkes verzog das Gesicht. »Das war natürlich ein Witz.« Er brauchte einen Moment, um sich von der Flasche zu trennen. »Was hast du herausgefunden?«

Andrew warf einen Blick auf den Zettel, auf dem er sich Notizen gemacht hatte. »Der Junge war der Einzige, der im Lot wohnte und in The White Devil mitgespielt hat. Sein Name lautet John Harness. Er hat die Schule 1807 verlassen. Demnach muss das Stück …«

Fawkes fuhr zusammen. Seine Hand zuckte so sehr, dass er die Ginflasche auf den Boden fegte.

Er fluchte, sank auf ein Knie und fing an, die Scherben einzusammeln. Andrew sprang auf und steuerte ein feuchtes Küchentuch bei, um den Schnaps aufzuwischen.

»Hast du gerade John Harness gesagt?«, rief Fawkes aus. »John Harness?«

»Ja. Wissen Sie, wer er ist?«

»Bist du sicher, dass das sein Name ist? Hat das Judy bestätigt?« Die Glasscherben flogen in den Abfalleimer.

»Ja, sie hat mir geholfen, ihn zu finden.«

»Weiß sie etwas über ihn?« Fawkes stand vor Andrew und sah zu, wie er den Boden saubermachte.

»Ob sie etwas weiß?« Andrew sah zu Fawkes auf. Er war ein wenig blass geworden. »Sie … sie sagte, dass er ein Stipendiat war.« Andrew richtete sich auf und schüttelte die Glasscherben aus dem Tuch in den Mülleimer. »Er stammte aus der Gegend, seine Familie war arm. Die anderen Schüler hackten auf den Stipendiaten herum.«

»Ja, das stimmt. Aber dieser spezielle Stipendiat wurde von einem älteren Jungen, der für seinen Jähzorn bekannt war, verteidigt. Falls dich irgendjemand schikaniert, sag es mir, und ich verprügle ihn, wenn ich kann.«

Andrew stutzte. »Das hat sie mir nicht erzählt. Aber sie meinte, Harness könnte Byron gekannt haben. Sie waren zur selben Zeit hier.«

»Zur selben Zeit?«, spottete Fawkes. Dann betrachtete er durch das Küchenfenster den weißgrauen Morgen.

»Äh … Mr. Fawkes? Piers?«

Fawkes spürte, dass ihm die Gänsehaut wie pelzige Spinnen den Rücken hinaufkroch. »Ob das die Existenz deines Geistes beweist oder nicht, kann ich nicht sagen, Andrew«, murmelte er. »Aber es ist ausgesprochen seltsam.« Fawkes wandte den Blick nicht vom Fenster ab.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Andrew.

Fawkes setzte sich in Bewegung. »Komm mit.« Er ging voran ins Wohnzimmer, riss die Schreibtischschubladen auf und stieß sie fluchend wieder zu. »Komm.«

Andrew trottete hinter Fawkes die schmale Treppe hinauf. Er war nicht gerade scharf darauf, Fawkes’ private Räume zu sehen angesichts des Zustands in den Zimmern, in denen er Gäste empfing. Im oberen Stockwerk war es düster und stickig. Im Bad, dessen Tür offenstand, lag ein Handtuch auf dem Boden. Das Waschbecken sah irgendwie haarig aus, und eine offene Zahnpastatube lag auf dem Rand wie ein verwundeter Soldat auf dem Feld. Sie kamen am Schlafzimmer vorbei (ungemachtes Bett, schmutzige Unterhose auf der Decke) und betraten das Arbeitszimmer – ein nur karg möblierter Raum mit heruntergelassenen Jalousien, der ziemlich unbewohnt wirkte. In einer Ecke lag ein Stapel von unterschiedlich dicken Schnellheftern. Fawkes kauerte sich vor sie, stand wieder auf und hielt Andrew einen dünnen Hefter hin. Er beobachtete aufmerksam die Reaktion des Jungen.

»Was ist das?«, wollte Andrew wissen.

»Das ist die Akte von John Harness«, erklärte Fawkes. Andrews Augen wurden groß. »Ich habe eine Akte über alle bedeutenderen Liebschaften Byrons angelegt.«

»Liebschaften?«, wiederholte Andrew verwirrt und nahm den Hefter entgegen. Er enthielt Fotokopien von Gedichten.

»Nicht von allen. Nur von den bedeutenderen. Er hatte Hunderte.« Fawkes beäugte den Stapel auf dem Boden und seufzte. »So was macht man, wenn man eine Schreibblockade hat. Recherchieren. Fakten sind der Weg zur Wahrheit.«

»Und warum haben Sie eine Akte über John Harness? Sie waren Schulfreunde, kein Liebespaar.«

»Ah, ihr naiven Amerikaner«, stöhnte Fawkes. »John Harness war Byrons Liebhaber. In Harrow«, präzisierte er, als er Andrews schockiertes Gesicht sah. »Zu ihren Zeiten war so etwas nichts Unübliches. Kleine Liebesaffären unter Jungs. Harness und Byron ›gingen miteinander‹. So hieß das damals. Byron war fasziniert, weil Harness wie er hinkte. Ein Unfall in der Kindheit. Letzten Endes heilte Harness’ Verletzung aber aus. Byron war sein Beschützer. Der ältere, robustere Junge setzte sich für den kleineren ein. Noch so eine Sache, in der Byron schwer zu fassen ist. Das Beschützerverhältnis verwandelt sich in Romantik. Sie schrieben sich leidenschaftliche, eifersüchtige Briefe. Auch das war nicht ungewöhnlich. Was allerdings bemerkenswert war, ist, dass sich das Ganze zu etwas anderem entwickelte. Sie studierten beide in Cambridge. Und es wurde eine Beziehung. Eine echte Beziehung. Die Gelehrten ignorierten das ein Jahrhundert lang und machten den homosexuellen Teil von Byrons Leben zum Tabu. Die meisten Beweise wurden weggewischt.« Fawkes tippte auf die Akte. »Aber Harness ist eindeutig da  – in Gedichten und Briefen. Ein Gesicht, das einem von diesen Blättern entgegenblickt.«

Andrew hielt den Ordner, als wäre er aus Uran. »Harness ist der weißhaarige Junge«, sagte er.

»Wenn John Harness tatsächlich dein Geist ist«, fuhr Fawkes fort, »dann bist du in einer ausgesprochen heiklen Lage.«

Andrew gefiel das Wort Lage in diesem Zusammenhang gar nicht. Er sah Fawkes argwöhnisch an – kannte er Einzelheiten von seiner Begegnung mit dem Jungen in der Zisterne?

»Was meinen Sie damit?«, hakte er nach.

»Na ja … er ist Harness. Du bist Byron.«

»Ja, im Theaterstück …«

»Persephone ist die Ähnlichkeit sofort aufgefallen.« Fawkes lehnte sich an die Wand, verschränkte die Arme und betrachtete Andrew. »Verstehst du nicht?«

»Nein«, entgegnete Andrew eigensinnig.

»Vielleicht denkt der Geist, dass du Byron bist.« Fawkes’ Lippen kräuselten sich zu einem faszinierten Lächeln.

»Dass ich sein Geliebter bin?«, sagte Andrew absichtlich ungläubig.

Fawkes starrte ins Leere. »Vielleicht ist er deshalb zurückgekommen. Er hat dich gesehen. Oder gefühlt. Was auch immer. Er wollte mit dir in Kontakt treten. Glaubst du, dass er dir etwas erzählen kann? Über Byron? Gott, das ist verrückt, aber faszinierend – eine unfassbare Gelegenheit!« Fawkes lachte vor Aufregung. »Wir könnten eine Séance abhalten, um John Harness herbeizurufen. Hat er irgendetwas über Byrons Manfred gesagt?«

»Ich rufe ihn nicht herbei«, wehrte Andrew unwirsch ab. »Ich hab gesehen, wie er Theo umbrachte.«

Fawkes runzelte die Stirn. »Gut. Ich muss sagen, das hilft mir nicht, deine Sicht von Theos Tod zu übernehmen. John Harness ein Mörder? Der arme, schwule Junge mit dem verletzten Fuß? Das ist nicht meine Vorstellung von einem kaltblütigen Mörder.«

»Warum? Wie war Harness?«, wollte Andrew wissen.

»Er wurde immer wie ein Opfer behandelt. Du weißt schon: Byron spielte eine Zeitlang mit ihm, dann ließ er ihn fallen.« Fawkes zuckte mit den Schultern. »Außerdem gibt es keine Berichte über einen Mord. Allerdings ist Harness’ Leben nur spärlich dokumentiert.«

»Ich dachte, Sie glauben mir«, murrte Andrew.

»Ich glaube dir, dass du etwas beobachtet hast«, sagte Fawkes. »Aber nur weil du gesehen hast, wie John Harness Theo getötet hat, heißt das noch lange nicht, dass er wirklich der Mörder war. Der Rechtsmediziner hat die Todesursache bestimmt. Sarkoidose, oder wie das heißt. Möchtest du die Polizei anrufen? Willst du ihnen erzählen: ›Theodore Ryder wurde von einem Geist umgebracht! Name: John Harness. Wohnsitz: das Jenseits. Nein, das liegt nicht in Middlesex.‹«

Andrew verdrehte die Augen. »Das können wir nicht sagen.«

»Meine Rede«, gab Fawkes zurück.

Andrew überlegte. Plötzlich spürte er, wie sich etwas Schweres über ihn senkte, etwas Ungesundes, und er nahm ganz deutlich Unglück, Selbstzweifel und Wut wahr. Das alles war so greifbar, dass es seine Sinne infiltrierte wie ein scheußlicher Gestank; das mentale Äquivalent zu Verwesungsgeruch. Er wurde schläfrig und ängstlich zugleich. Die Luft im Raum war heiß und schal geworden und weckte den Wunsch, in diesem krank machenden Nebel zu schlafen. Andrew sah Fawkes an, der ihn mit großen Augen anstarrte.

»Spüren Sie etwas?« Das Sprechen fiel Andrew schwer. Seine Worte schienen in der dichten Atmosphäre abzusterben.

Fawkes nickte. »Wir müssen weg von hier«, erklärte er mit Mühe.

Andrew ließ die Harness-Akte fallen, bückte sich, um die Blätter aufzuheben. Dort standen Titel wie The Cornelian und An Thyrza. Andrew war wie hypnotisiert von diesen Überschriften und begann zu lesen.

»Komm.« Fawkes zupfte an seinem Ärmel. Andrew drückte die Kopien an seine Brust und ließ sich aus dem Zimmer auf den kleinen Flur zerren. Dort fiel das Atmen ein wenig leichter. Fawkes polterte die Treppe hinunter. Als er unten angelangt war, drehte er sich um und realisierte, dass Andrew noch oben stand. Verträumt, geistesabwesend.

»Andrew!«, brüllte er.

Andrew kam zu sich und folgte. Gemeinsam schauten sie hinauf zu dem Flur, dem sie gerade entflohen waren.

»Das war sehr merkwürdig«, stellte Fawkes fest.

Sie bewegten sich nicht vom Fleck, als ob sie darauf warten würden, dass sie etwas einholte. Aber nichts kam auf sie zu.

»Ich … das hat mir nicht gefallen«, flüsterte der Hauslehrer vorsichtig. »Ist es das? Hast du das schon erlebt?«

Andrew nickte. »Ja.«

»Du bist tapferer, als ich dachte. Komm, setzen wir uns ins Wohnzimmer.«

Das taten sie. Beide nahmen auf dem Sofa Platz und blickten in die Ferne, bis sich ihre Sinne erholt hatten.

»Ich glaube kaum, dass ich dieses Zimmer in der nächsten Zeit betreten werde.« Fawkes schnitt eine Grimasse.

Andrew schwieg. Sie verharrten noch eine ganze Weile und starrten trübsinnig vor sich hin. Plötzlich fing Fawkes an, in einem satten Bariton zu singen oder zu rezitieren; in einer Stimme, die Poesie kannte, wusste, welche Vokale man dehnen musste, um eine Melodie zu kreieren, und die dem Sarkasmus, der in seinen normalen Gesprächen lauerte, widersprach:

»Lest man know not

That he on dry land loveliest liveth,

List how I, care-wretched, on ice-cold sea,

Weathered the winter.«

»Byron?«, fragte Andrew nach einer Pause.

»Pound«, korrigierte Fawkes.

»Was bedeutet das?«

»Ah, Kinder – wer will schon wissen, was Gedichte bedeuten? Sie bedeuten nicht – sie drücken aus. Es sind Lieder. Wenn du mitfühlst, dann gibst du ihnen eine Bedeutung  – hier oben.« Er tippte sich an die Stirn. »Dieses Gedicht trägt den Titel The Seafarer. Es geht um jemanden, der in See sticht in einer Zeit vor Navigationssystemen und Funkgeräten. Als man noch vollkommen und unwiderruflich allein auf hoher See war.«

Andrew dachte nach. »Wir sind allein?«

»In dieser Sache … ja.« Fawkes lächelte dünn. »Willkommen, Andrew Taylor, auf eiskalter See.«

Ein paar Minuten später machte Fawkes die Tür hinter Andrew zu. Sein erster Gedanke galt den oberen Räumen. Die Wolke schien sich aus seiner Wohnung verzogen zu haben. Sollte er hinaufgehen und nachsehen? Nein, danke!, lautete die prompte Antwort. Fawkes ging rauchend in seinem Wohnzimmer auf und ab und spähte immer wieder verstohlen zur Treppe. Wie sollte er es nachts allein in seinem Schlafzimmer aushalten? Im nächsten Moment ging ihm ein Licht auf – dieses Gefühl, diese Wolke hat sich nicht in meinem Arbeitszimmer festgesetzt, dachte er voller Mitgefühl und Angst, sie folgt dem Jungen. Dem Amerikaner.

Fawkes sank nachdenklich auf sein Sofa. Gott, was für eine grässliche Vorstellung. Wie konnte er das arme Kind beschützen?

Doch während er dasaß, eine zweite Zigarette rauchte und noch eine, änderte sich die Richtung seiner Gedanken. Er drückte die dritte Zigarette aus. Zauderte. Dann nahm er sein Telefon und wählte eine Londoner Nummer. Er sprach mit einer Sekretärin. Dann war er gezwungen, etliche Minuten zu warten. Schließlich rief er freudig : »Tomasina! Hier ist noch mal Piers. Erinnern Sie sich an mein Stück über …? Richtig. Es gibt da einen Aspekt, den ich dämlicherweise nicht erwähnt habe. Ich war eitel, wie gewöhnlich, und hoffte, dass die Poesie allein ausreichen würde. Aber was, wenn es auch ein wissenschaftliches Element gibt? Ich habe neues Material über eine von Byrons Liebschaften gefunden – über einen homosexuellen Liebhaber. Es ist gerade erst ans Licht gekommen. Also können wir die Publikation des Theaterstücks sozusagen in eine literarische Entdeckung verpacken.«

Tomasina wollte wissen, ob die Geschichte dokumentiert und wirklich neu war.

»Brandneu«, antwortete er. »Ich arbeite an der Dokumentation, aber ich bin hier an der Quelle, in der Harrow School, die Byron besucht hat. Und die Story, na ja … wie es scheint, hat einer von Byrons kleinen Freunden, der auch in Harrow in die Schule gegangen ist und sein Gespiele war, einen Mord begangen. Davon wurde bis jetzt nie etwas bekannt.«

Tomasinas Begeisterung war geweckt, und sie dachte laut über eine Werbekampagne nach. Wir machen es zu einem wissenschaftlichen und zu einem literarischen Ereignis. Zu einer Story außerhalb des Buches …

Fawkes grinste und ließ sie reden. Er ging mit dem Telefon am Ohr in die Küche und goss sich, während sie plapperte, einen Drink ein.

Die Geschichte der Antike fühlte sich an wie eine Zwangsjacke. Boudicca, Schutzwälle, Kriege mit Speeren und der literarische Stil von Tacitus  … Sir Alan Vine grinste sich durch die Unterrichtsstunde und überflutete die Klasse mit der Säure seiner nasalen Stimme. Andrew saß an seinem Pult in den Leaf Schools – so benannt, weil das kleine Ziegelgebäude am bewaldeten Nordhang des Hügels stand. Er träumte und betrachtete die Bäume. Ihr Laub schien vergiftet in den Herbst gekommen zu sein und war, krank von all dem Regen, nass und braun. Er sehnte den Moment herbei, in dem Sir Alan auf die Uhr schaute und die Stunde beendete. Als die Glocke endlich schrillte, sprang Andrew auf. Er hatte eine andere Vine im Kopf.

Der Korridor füllte sich mit Jungs. Hüte, Jacketts, Stimmengewirr. Fünfzig Halbwüchsige drängten sich im Flur – die einen verließen die Klassenräume, die anderen kamen. Andrew bahnte sich seinen Weg durch die Menge.

Hey.

So eilig?

Er erreichte sie und umfasste ihren Ellbogen.

»Ich muss dir etwas erzählen«, zischte er.

»Andrew.« Persephone erhob warnend die Stimme. »Kennst du Seb?«

Andrew bemerkte den großgewachsenen Rothaarigen, mit dem sich Persephone bei der Probe abgegeben hatte. Aus der Nähe sah er sogar noch besser aus – kantiges Kinn, athletische Figur und der verletzte Ausdruck eines Jungen, dem man gerade ein Plätzchen aus der Hand genommen hatte. Andrew fiel wieder ein, was Rebecca, das Mädchen mit dem kurzen Rock, gesagt hatte. Sie kennt jede Menge Jungs.

Andrew runzelte die Stirn. »Hi.«

»Der berühmte Andrew Taylor«, erwiderte Seb gedehnt.

»Würdest du uns entschuldigen?«, fragte Andrew.

»Natürlich. Wir sehen uns am Donnerstag, Miss Persephone.« Seb verabschiedete sich mit einer spöttischen Verbeugung und legte die Hand an die Hutkrempe. Persephone lachte. Ihre wundervollen Augen leuchteten. Seb bedachte Andrew mit einem scharfen Blick. Ich sehe sie zweimal die Woche im Englischunterricht, sagten seine Augen. Glaub ja nicht, dass ich das Feld räume.

Andrew schaute ihm nach. Er war verdammt lässig.

»Ein neuer Freund?«, fragte er sarkastisch.

»Seb ist der klügste Junge in meiner Klasse. Wir diskutieren über ›The Pardoner’s Tale‹.«

»Er scheint nicht gern zu gehen.«

»Bist du jetzt mein Anstandswauwau?«, gab sie zurück. »Mal sehen – ich habe Jungs in meinem Englischkurs: Und … in Kunst! Und in Biologie! Mein Gott! Da sind überall Jungs! Ich bin hier nicht sicher.«

Er schäumte. Ein paar Schritte legten sie schweigend zurück. Dann lief er weiter. »Es war wichtig«, schnaubte er. »Aber vergiss es.«

Andrew, rief sie ihm nach.

Er lag auf seinem Bett und starrte die Tapete an.

In seinem Kopf raste eine Büffelherde durch die Landschaft, zertrampelte den Boden und wirbelte Steine auf.

Dennoch nahm er das stille Zimmer wahr.

Ich hasse diesen verdammten Ort.

Andrew hörte Schritte. Er bereitete sich auf eine Bemerkung an Roddy vor. Doch nach dem üblichen Klopfen und Türaufreißen schlug Roddy einen anderen Ton als üblich an. »O Mann, steh auf, du hast Damenbesuch.«

»Danke, Roddy, du bist ein Gentleman«, stellte eine weibliche Stimme fest. Roddy wurde rot und zog sich zurück, um das Kompliment zu verdauen. Andrew blieb auf dem Bett liegen.

»Soll ich gehen?«, fragte Persephone, als die Tür geschlossen war.

»Ist es überhaupt erlaubt, dass du herkommst?«

»Ironischerweise kommen hier Mädchenbesuche in Schülerzimmern so selten vor, dass es diesbezüglich keine Regel gibt.«

Andrew grunzte. »Das ist aber auch die einzige Regel, die sie vergessen haben.«

»Gut für mich. Und für dich.«

Die Luft knisterte. Persephone strahlte: die weiße Bluse, ihre Locken, ihre aufrechte Haltung ; keck, geheimnisvoll, feminin, duftend. Sie verlieh dem schäbigen, kleinen Zimmer Würde. Einerseits schämte sich Andrew für sein rüdes Benehmen, andererseits verspürte er den Drang, seine Gekränktheit und den Ärger zu zeigen.

Zu seiner Überraschung setzte sich Persephone neben ihn aufs Bett.

»Du hast mich einfach stehenlassen«, sagte sie.

»Ich habe etwas Wichtiges herausgefunden. Der Geist ist real. Sogar Fawkes glaubt es. Er denkt, der weißhaarige Junge war Byrons Geliebter in Harrow.«

»Fawkes?« Sie war erstaunt. »Das denkt er?«

»Ja, Fawkes. Du glaubst mir immer noch nicht, oder?«

»Ich bin nicht sicher. Er denkt, der Junge war Byrons Geliebter? Das ist seltsam. Ich dachte, Byron …«

»Er hat an beiden Ufern gegrast. Zumindest eine Zeitlang.« Andrew nahm die zerfledderte Akte zur Hand. »Gedichte über den Geliebten.«

Sie nahm ihm den Hefter ab und blätterte. »Deine Obsession ist eigenartig«, erklärte sie.

Andrew legte sich verletzt zurück.

»Kann man die Tür absperren?«, wollte sie unvermittelt wissen.

»Nein«, murrte er. »Keine Tür …«

Ihre Lippen lagen auf seinen. Er widerstand ihr eine Mikrosekunde, dann öffnete er den Mund. Ihre Zungen berührten sich. Andrew setzte sich auf.

»Ich dachte, ich bin eigenartig.«

»Ein bisschen«, sagte sie. »Vielleicht sogar sehr.« Sie lachte.

»Was ist mit Seb?«, fragte Andrew bitter.

Sie runzelte die Stirn. »Verdirb es nicht.« Dann fügte sie hinzu: »Wenn du normal wärst, würde ich dich nicht mögen.«

Sie küsste ihn wieder. Ihre Hände –  weiß, klein, sommersprossig – nestelten an den Knöpfen ihrer Bluse. Andrew blieb das Herz stehen. Sie fasste nach hinten und öffnete den Verschluss ihres BHs, und plötzlich waren ihre Brüste im fahlen Tageslicht zu sehen  – blass, auch mit Sommersprossen und größer, als es sich Andrew erträumt hatte. Sie bot sie ihm dar wie ein Opfer, als wollte sie damit sagen: Wenn du mir nicht glaubst, dass ich dich mag, hier ist der einzige Beweis meiner Aufrichtigkeit, den ich dir geben kann. Andrew hätte dieses Angebot ein wenig traurig gefunden, hätte er das Denken nicht eingestellt. Warum war ihr erstes und instinktives Mittel, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sich zu entblößen und darzubieten? Aber er dachte nicht. Als er wieder zu Atem kam, kniete er sich vor sie hin und nahm ihre Brüste zart in beide Hände – sie fühlten sich kühl an  –, und seine Beobachtungsgabe schwand. Er leckte und liebkoste die Brüste wie ein Verhungernder, der sich über eine Schüssel mit Süßigkeiten hermacht. Bis er genug hatte und sie ihn zu sich heraufzog. Komm her. Andrew küsste sie, knabberte an ihrem Hals und hoffte verzweifelt, dass dies zu mehr führen möge. Sie löste sich von ihm. Erhob sich. Zog sich wieder an. Er sah ihr voller Qualen zu.

»Warum kommst du nicht zu mir nach Hause«, schlug sie mit blitzenden Katzenaugen vor. »Am nächsten Heimfahrwochenende.«

»Zu dir  …« Das Sprechen bereitete ihm Mühe. »Ins Headland House.«

»Nein, zu meiner Mum. In Hampstead. Sie ist in Athen. Wir machen uns ein schönes Wochenende.«

Adrenalin schoss durch Andrews Adern – vor Schreck. Er fürchtete sich vor dem Sex, vor dem Moment der Wahrheit. »Okay.«

Er versuchte die Erinnerung, die ihn belastete, zu verdrängen. An das demütigende (extrem seltsame) Ritual im Keller mit John Harness  – jetzt konnte er ihn beim Namen nennen.

John Harness war Byrons Liebhaber.

Vielleicht denkt dieser Geist, dass du Byron bist.

Seine Stimmung verdüsterte sich, und er fürchtete, dass Persephone seine Gedanken erraten könnte.

»Ich mag dich, Andrew.«

»Okay.«

»Mehr hast du nicht dazu zu sagen?«

»Du machst mich irgendwie sprachlos.«

Das gefiel ihr. »Gut.«

Dann überschattete Unsicherheit ihr Gesicht. Vielleicht konnte sie seine Gedanken lesen.

»Wirst du kommen?«, fragte sie.

»Klar.«

Sie lächelte wieder und machte mit der vordergründigen Würde einer Schauspielerin ihren Abgang.

Der Abendunterricht, der um 17  Uhr  15 im Fastdunkel endete: Französisch. Ein Junge radebrechte ein paar Zeilen eines Dialogs, als jemand an die Tür klopfte und eine Nachricht brachte – für Andrew. Ohs, Ahs und Miauen ertönten.

Sein Hausvater musste dringend mit ihm sprechen.

Auf dem Weg zu ihm spielten sich alle möglichen Schreckensszenarien in Andrews Geist ab. Sein Vater war pleite. Er musste weg aus Harrow. Doch sobald er das Lot betrat, wurde deutlich, dass ihn keines dieser Melodramen erwartete.

Fawkes ging im Talar im Foyer auf und ab und wirbelte zu Andrew herum. Andrew wurde sofort argwöhnisch. Fawkes’ Augen waren rot umrandet; er schwankte leicht und überspielte seinen Zustand mit künstlicher Ruhe und einem Mona-Lisa-Lächeln – zweifellos, um sich den Anschein von Zuversicht und Sicherheit zu geben, ohne Erfolg. Er machte eher den Eindruck, als würde er einer Konversation lauschen, dem steten und immer bezaubernden Fest in seinem Blutkreislauf.

Neben Fawkes standen zwei Handwerker, die mit den Füßen scharrten, beide gelangweilt, weil man sie warten ließ, und skeptisch, weil der Hausvater betrunken war. Um diese drei Männer hatten sich neugierig ein paar der jüngeren Schüler geschart. Andrew sah, warum. Die Arbeiter, in staubigen mit Farbspritzern übersäten Sweatshirts und Jeans, hielten Vorschlaghämmer in den Händen. Die Griffe waren knapp einen Meter lang, die Köpfe so groß wie Ziegel.

Fawkes winkte Andrew zu sich. »Komm her.« Über die Schulter rief er: »Einen Moment noch, Leute.«

Er legte die Hand auf Andrews Schulter – eine kumpelhafte Wir-sind-alte-Freunde-Geste (vielleicht wollte er den Handwerkern zeigen, wie dicke er und Andrew waren) und führte ihn zur Treppe, wo sie ein paar Worte unter vier Augen wechseln konnten.

Der ältere Arbeiter verdrehte die Augen. »Wir sind bereit, wenn Sie es sind, Sir.«

»Uns bleiben dreißig Minuten, bis die nächste Unterrichtsstunde zu Ende ist und die Jungs ins Haus strömen«, flüsterte Fawkes nahe an Andrews Ohr.

»Okay …«, erwiderte Andrew unsicher. »Was ist los? Warum haben Sie mich holen lassen?«

»Wir können den Raum finden!«, verkündete Fawkes mit einem trunkenen Grinsen.

»Finden …« Andrew war verwirrt.

»Diesen Raum«, wiederholte Fawkes ungeduldig. »Den Raum  … aus der Vergangenheit  … in dem John Harness und du … Er könnte noch vorhanden sein. Hier im Haus. Diese Gebäude sind wie Labyrinthe. Wenn du ihn finden kannst  …« Er vollzog eine große Geste. Andrew wartete. Fawkes beugte sich nah zu ihm und blies ihm seinen Gin-Atem entgegen. »Das wäre der Beweis.«

»Der Beweis wofür?«

»Dass dein Geist existiert!«

Andrew wand sich. »Ich brauche keinen Beweis.«

»O doch, und ich auch. All das Zeug – The White Devil, Lord Byron, John Harness  – es könnte nur in deinem Unterbewusstsein herumspuken. Komische Zufälle, das ja, aber kein Beweis. Kein Mensch weiß genau, wie Harness aussieht. Es gibt keine Porträts. Aber es gibt einen Ort, an dem wir uns umsehen können.« Fawkes kam noch näher. »Denk daran, was wir mit dem Stück erreichen wollen. Das ist eine Eins-zu-einer-Million-Chance  … eine Ergänzung. Eine Entdeckung. Der Geist kehrt zurück? Versucht uns etwas zu sagen? Es könnte wichtig sein. Sehr, sehr wichtig.«

Andrew musterte Fawkes. »Sie meinen, es würde Ihnen das Gefühl geben, sehr wichtig zu sein.«

Fawkes wich verletzt zurück. War er so leicht zu durchschauen? Er musste sich zurücknehmen, durfte sich nicht so verzweifelt zeigen.

»Ich gebe es zu. Ich will, dass das Stück einzigartig wird. Ich möchte gut sein. Ich wünsche mir, dass es veröffentlicht wird.« Er lachte verbittert. »Daran ist nichts falsch. Und du kannst mir helfen.«

Andrews Ton war ernüchternd: »Ich bin nur ein Darsteller in Ihrem Stück.«

Fawkes’ Augen blitzten. Seine Aussprache mochte undeutlich sein, doch sein Verstand arbeitete rasch dank der alkoholischen Inspiration. »Wir helfen nicht nur uns, Andrew. Wir helfen Theo

Andrew sah seinen Hausvater scharf an.

»Du hast es selbst gesagt. Wie er gestorben ist. Es ist passiert. Es ist real. Allerdings wird uns das niemand glauben«, fuhr Fawkes fort. Wieder legte er eine Hand auf Andrews Schulter. »Sind wir es Theo nicht schuldig – du und ich –, dass wir Gewissheit schaffen?«

Andrew kam sich vor wie ein Bluthund. Ein ganzer Rattenschwanz von Leuten folgte jedem seiner Schritte, als er, wie durch eine Witterung angezogen, durchs Haus trabte. Als Erstes musste er die richtige Treppe finden. Er begann in seinem Zimmer, ging den Korridor entlang, doch dann sah er, dass der Westflügel umgebaut worden war, und machte kehrt. Seine Entourage geriet ins Stocken und war gezwungen, sich murrend zusammenzudrängen, um ebenfalls umzudrehen. »Wir bekommen eine Führung durchs Lot, Reg – haben wir ein Glück, was?«, krächzte der ältere Handwerker, Dick. Die Stiele ihrer Vorschlaghammer stießen gegen die Wände und schlugen kleine Stücke Putz heraus. Schließlich stieg die gesamte Gruppe die Treppe im Westflügel hinunter. Fawkes beobachtete jede Bewegung von Andrew mit Argusaugen.

Unten hielt Andrew an. Er drehte sich langsam um die eigene Achse, und wieder mussten die Arbeiter mit ihren Werkzeugen ausweichen. Die Tür mit dem verbeulten Messingknauf müsste …

»Hier«, sagte er.

»Bist du sicher?«, kreischte Fawkes.

Selbstverständlich bin ich nicht sicher, dachte Andrew gereizt, aber er beherrschte sich. Die Handwerker hatten bereits ihre Zweifel geäußert. Sie haben etwas erfunden, was Installationen betrifft, Mr. Fawkes. Zisternen werden heutzutage nicht mehr gebraucht. »Ja«, antwortete Andrew laut.

Alle zwängten sich in die Nischen und Gänge im Kellergeschoss – alle sieben. Andrew, Fawkes, die beiden Arbeiter und drei kleinere Jungs, die mitgegangen waren, um zu sehen, was als Nächstes passierte.

»Und jetzt?«, wollte Dick von Fawkes wissen.

Fawkes zögerte einen Moment. »Und jetzt … brechen Sie durch!«

»Die Wand durchbrechen? Machen Sie Witze?« Der Handwerker strich mit der fleischigen Handfläche liebevoll über die cremegelbe Wand. »Sie ist neu verputzt. Wir haben sie erst im letzten Jahr repariert.«

»Dick …«, mahnte Fawkes.

»Also schön«, brummte Dick. »Die neue Farbe – wir werden alles wieder herrichten müssen.«

Jetzt hatten Dick und Reg ihren Befehl und gingen, wenn auch kopfschüttelnd, ans Werk. Sie schritten den Raum ab und berechneten, wie viel Platz sie zum Ausholen hatten. Sie zogen Schutzbrillen aus Plastik über, stellten sich breitbeinig hin, packten ihre Hämmer und fingen an zu schlagen. Der Lärm war ohrenbetäubend. Die Wand bekam Dellen. Farbe und Putz brachen und flogen in weißen Splittern, in Stücken und schließlich in großen Platten durch die Gegend. Metallstangen wurden sichtbar. Es staubte. Mehr Schüler tauchten auf, standen auf der Treppe, tuschelten, baten um Erklärungen und erhielten vage Antworten. Mittlerweile sahen fast zehn Schüler dem Treiben zu. Und es kamen immer mehr. Fawkes ignorierte sie – sein Blick war unverwandt auf das Geschehen gerichtet. Bis Matron kam.

»Was, zum Teufel, ist hier los?«, fragte sie und bahnte sich einen Weg die Treppe hinunter. Die Jungs machten ihr Platz. »Meine Wohnung zittert wie bei einem Erdbeben.«

»Wir forschen ein bisschen«, erwiderte Fawkes.

»Forschen?« Sie betrachtete das Chaos. »Sie zerstören das Haus!«

»Wir zerstören es nicht, Matron …«

»Dieser Junge sagt, dass etwas hinter der Wand ist«, sagte Dick vor Anstrengung keuchend und zeigte auf Andrew. »Eine alte Zisterne, behauptet er.«

»Woher will er das wissen?« Matron funkelte Andrew an. Der wünschte, sich in ein Loch verkriechen zu können. Dann blinzelte sie misstrauisch. »Ich hoffe, das hat nichts mit diesem Lot-Gespenst-Unsinn zu tun.«

Fawkes schaute erschrocken in die Gesichter der anderen Jungs. Sie starrten ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

Dick grinste. Jetzt bekommt er Ärger.

»Diese Sache hier ist von historischem Interesse«, erklärte Fawkes mit all der herrischen englischen Arroganz, die er in sich hatte. »Es geht nicht um Geister, Matron. Und jetzt bitte, gestatten Sie uns, dass wir unsere Arbeit fortsetzen.«

»Arbeit!«, schnaubte Matron und stapfte schimpfend die Treppe hinauf. Fawkes bedeutete Dick und Reg weiterzumachen.

Trotz seiner scheinbaren Tollpatschigkeit war Dick ein Meister mit dem Vorschlaghammer. Er und Reg bewegten sich wie eine Maschine in gleichmäßigem Rhythmus, holten abwechselnd aus und schlugen zu. Etwa nach dem zehnten Schlag verschwand Regs Hammer halb in der Wand. Dick stoppte. Eine Weile gafften sie nur. Fawkes strahlte. Ist es das? Ist es das, Dick?

Jetzt droschen die Hämmer noch schneller auf das Hindernis ein und brachen ein großes, rautenförmiges Stück Wand heraus. Reg versetzte ihm einen heftigen Tritt mit seinem massiven gelben Stiefel. Die Wand stürzte nach innen ein. Ein klaffendes Loch von etwa eins zwanzig Höhe und sechzig Zentimeter Breite war entstanden. Dick schob seine Schutzbrille auf die Stirn, ging vor dem Loch auf die Knie und spähte hindurch. Sein Kopf verschwand, und als er ihn wieder zurückzog, sagte er missgünstig : »Wie’s aussieht, haben Sie einen neuen Keller, Mr. Fawkes.«

Eine Leiter und eine große Taschenlampe mit orangefarbenem Griff wurden geholt. Reg schob die Leiter durch das Loch und sicherte sie. Andrew zog Jackett und Krawatte aus. Warum will er da hinunter?, fragten die Zuschauer. Reg ging mit der Taschenlampe voran. Dann bestätigte er, dass die Leiter sicher stand.

Andrew kroch rückwärts durch das Loch. Die Jungs kamen näher und schauten ihm nach. Dicks finsteres, zweifelndes Gesicht war das Letzte, was Andrew sah, ehe er hinunterstieg.

In dem Kellerraum war es kalt und finster. Der tanzende Lichtstrahl der Taschenlampe beleuchtete die Sprossen.

»Ich hab dich«, hallte Regs Stimme.

»Sie halten die Leiter?«

»Ja.«

»Und es ist nicht gefährlich mit dem Wasser?«, erkundigte sich Andrew ängstlich. Er klammerte sich an die Leiter und machte vorsichtige Schritte, bis ihn Regs starker Griff auf den Boden half.

»Woher wusstest du, dass es hier unten nass ist?«, wollte Reg wissen.

Andrew folgte dem Licht. Der Boden war übersät mit Schutt aus dem zwanzigsten Jahrhundert: Putz, Staub, Nägel, Draht.

»Woher wusstest du, dass es nass ist?«, wiederholte Reg.

»Nass?«

Andrew sah den schräg abfallenden Boden und die in die Steinwand gehauenen Löcher. Den Glanz von tropfendem Wasser. Und die Öffnung der Zisterne mit den zerklüfteten Rändern.

»Sieh mal«, brummte Reg und leuchtete in die Öffnung. »Wenn man da reinfällt, bricht man sich den Hals. He! Vorsicht!«

Andrew umrundete die Öffnung und schaute wie gebannt in die Tiefe. Auf der anderen Seite blieb er stehen. Reg berichtete der Gruppe, die oben stand und wissen wollte, was sie gefunden hatten. Fawkes’ Gesicht tauchte in dem Loch auf. Er rief neugierig und besorgt: Andrew, was ist es? Aber Andrew hörte nichts. Hier auf dem Boden lag, gerade und steif, als hätte jemand kräftig an den zwei gegenüberliegenden Ecken gezogen, ein sauberes, weißes Taschentuch.