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Essay Club, Teil II
Bei Einbruch der Nacht war der Hügel in Aufruhr.
Der Tag war nutzlos gewesen. Der Unterricht hatte stattgefunden, das schon. Aber alles verlief wie nach Theo Ryders Tod. Die Jungs waren mit Gerüchten und unbeantworteten Fragen beschäftigt. Nur dieses Mal war alles noch schlimmer. Die Lehrer konnten den Betrieb kaum aufrechterhalten. Jede Neuigkeit, jede erfundene Klatschgeschichte gab Anlass, den Unterricht zu unterbrechen und darüber zu diskutieren, was die Schüler erfahren hatten – über das Gerücht, dass im Lot Tuberkulose ausgebrochen sei, dass die Schule geschlossen werden solle, dass vier Schüler im Krankenhaus waren und bald sterben würden wie Theo Ryder. Wenn jemand im Klassenzimmer nieste, erntete er scharfe Blicke; hustete einer, wurde er hinausgeschickt. (Du gehst besser in dein Zimmer, Seabrook. Matron soll nach dir sehen. Du klingst gar nicht gut.) Dr. Rogers Wartezimmer auf der Krankenstation war voll – die Schlange reichte bis auf die Treppe. Und das Schlimmste war, dass sich niemand die Mühe machte, die Gerüchte aus der Welt zu räumen. Das konnte selbstverständlich nur bedeuten, dass sie der Wahrheit entsprachen. Harrow wurde geschlossen.
Der Anruf, auf den Colin Jute wartete, ging um kurz vor drei in seinem Büro ein. Ein Arzt vom Royal Tredway Hospital meldete sich mit guten Nachrichten – zunächst. Die Tests der Jungs waren negativ. Rhys Davies und Andrew Taylor waren frei vom Mycobacterium tuberculosis. Der Rektor stand erleichtert auf, bereit, aufzulegen und zur Tat zu schreiten; zu verkünden, dass die Krise abgewendet war, dass keine Gefahr für andere Schüler mehr bestand und die Schule nicht dichtgemacht werden musste. Er fühlte sich wie ein Sieger.
Der Arzt jedoch schien von einem Zettel mit Notizen abzulesen, und er war noch nicht fertig. Er informierte den Rektor, dass sich der Gesundheitszustand der beiden Patienten – Slough und Vine – verschlechtert hatte. Jute setzte sich wieder. Die Eltern seien bereits verständigt, sagte der Doktor, aber er nahm an, die Schule interessiere das auch. Natürlich, beteuerte Jute. Man musste ihm zugutehalten, dass er ein paar Sekunden aufrichtiges Mitgefühl empfand, bevor er auflegte und sich überlegte, was, zum Teufel, er tun sollte.
Wenn die beiden auch starben, dann hatte die Schule drei tote Schüler zu beklagen.
Gott, das würde landesweit Schlagzeilen machen.
Jute ging zu dem Wandkalender. Lieber Gott – er hatte heute Abend ein Dinner in London, mit dem Schulvorstand. Die vierteljährliche Finanzbesprechung mit den Buchhaltern sollte um sechs Uhr beginnen (sein Wagen dürfte bald hier sein), anschließend aßen sie gemeinsam zu Abend. Ausgerechnet heute! Er nahm den Plastikordner mit der Vierteljahresbilanz vom Schreibtisch. Sie erschien ihm im Augenblick vollkommen bedeutungslos. Allerdings, überlegte er, ist dies vielleicht eine gute Gelegenheit. Ja, es könnte ein Glückstreffer sein … denn falls sich die Situation in der Schule zum Schlechteren entwickelte – und davon war auszugehen –, würde er die Unterstützung des Vorstands brauchen. Er musste zeigen, dass er die Situation, an der er keinerlei Schuld trug, mit Klarheit und Elan meisterte. Richtig. Er würde jetzt gleich die wichtigsten Vorstandsmitglieder – Hovey, Gorensen, Brothers und Jeffery – anrufen und auf die Neuigkeiten vorbereiten. Beim Dinner konnte er dann die Dinge in den richtigen Kontext bringen … Jute kritzelte Stichworte auf ein Blatt Papier. Er rief Margaret herein und bat sie um die Handynummern der vier. Nach den Telefonaten würde er duschen, sich umziehen und für die Schlacht rüsten. Ihm blieb gerade genug Zeit – für all das.
Stunden später, als sich Colin Jutes Auto durch den Verkehr am Piccadilly zum Cavalry und Guards Club schlängelte, kehrten Horden von Harrowianern in ihre Häuser zurück.
Sie stiegen in Gruppen die Böschung vor dem Speisesaal hinauf und plapperten aufgeregt. Jeder Beobachter hätte angenommen, dass sich die Schüler nach langen Ferien zum ersten Mal wiedersahen und sich jede Menge zu erzählen hatten. Aber in diesem Fall war keine längere Trennung die Ursache für die Kameraderie, sondern vielmehr die Nervenanspannung. Die Dankbarkeit, dass sie bisher überlebt hatten und die Schule nicht geschlossen worden war; auch wenn sich die Katastrophe morgen möglicherweise ausweitete, war es eher unwahrscheinlich, dass sich heute noch etwas tat. Sie hatten ein paar unbeaufsichtigte Stunden vor sich, in denen sie sich abreagieren konnten. Die Jungs aus der Abschlussklasse rechneten nach, wie viel von ihrem Bierkontingent sie noch übrig hatten. Die Kleinen machten Inventur von ihren Süßigkeiten. So etwas wie Übermut kurz vor dem Weltuntergang machte sich breit. Sie würden heute ihren Spaß haben, auch wenn es der letzte gemeinsame Abend sein sollte.
Es gab Ausnahmen. Vier Schüler schauten auf ihre Uhren und wichen den neugierigen Blicken ihrer Altersgenossen aus, als sie in ihre Zimmer gingen. Diese Jungs – alle aus der Abschlussklasse – wurden in den Gemeinschaftsräumen nicht vermisst. Sie waren keine Stimmungskanonen. Eilends tauschten sie ihre grauen Hosen gegen die gestreiften, zogen die schwarzen Seidenwesten über die weißen Hemden mit schwarzen Krawatten und schlüpften in ihre Gehröcke. Zu guter Letzt fuhren sie sich noch einmal mit dem Kamm durch die Haare. Dann machten sie sich aus verschiedenen Richtungen auf den Weg zum Gebäude der Altphilologie – zum Treffen des Essay Club.
Father Peter begleitete Fawkes. Der Kaplan hatte eine Aktentasche bei sich, in der sich ein kleines Heftchen mit dem Siegel der Diözese von Worcester, ein Gebetbuch, eine Flasche mit Wasser und ein Fichtenzweig befanden, den Father Peter am Morgen bei seinem Sechs-Uhr-Jogging von einem Baum gebrochen hatte.
Fawkes’ gerade Haltung verriet beinahe Selbstachtung. Nachdem er in aller Herrgottsfrühe die Ginflasche in seiner Wohnung gefunden hatte, war er als Sieger eines erbitterten inneren Kampfes hervorgegangen – sein Herz hämmerte vor Verlangen, als stünde eine nackte Frau vor ihm und würde sich bereitwillig anbieten. Doch er hatte dem Drang widerstanden und den Gin mit – halb angewidert, halb bedauernd – gerümpfter Nase in den Ausguss geschüttet.
Die beiden Männer – Father Peter mit seinem Priesterkragen und Fawkes mit Krawatte – betraten das Schulgebäude und öffneten die breite Tür zum mit Kerzen erleuchteten Klassenzimmer von Mr. Toombs’ Lateinkurs. Nur ein paar Gesichter rund um den Tisch waren zu sehen. Von acht Schülern sahen sie vier – Antoniades, Askew, Wallace und Christelow –, von drei Lehrkräften zwei. Dr. Kahn zündete die letzten Kerzen an. Mr. Toombs stellte die Silberkelche auf den Tisch. Wallace öffnete eine neue Madeiraflasche und machte sich ans Einschenken.
Fawkes stellte sich mit dem Rücken zum Fenster. »Kein Andrew ?«, fragte er.
Dr. Kahn schüttelte den Kopf.
»Ist Andrew nicht einer der Typen, die krank waren?«, bemerkte der schlaksige Rupert Askew träge. »Vielleicht kann er nicht kommen.«
»Er kommt«, entgegnete Fawkes.
»Ist das ratsam?« Askew schaute von einem Gesicht zum anderen. »Eine Menge Gerüchte sind im Umlauf – speziell über ihn.«
»Was für Gerüchte?«, hakte Mr. Toombs nach.
»Na ja, dass er die Krankheit aus Amerika mitgebracht hat. Dass er Theo Ryder getötet hat. Und diese anderen beiden …«
»Das ist unverantwortlich!«, schnitt ihm Mr. Toombs das Wort ab. »Nichts als unsinniger Klatsch.«
»Sir, Sie haben mich nach den Gerüchten gefragt«, verteidigte sich Askew. »Und ich bin auch nicht der Einzige, der so denkt. Harris bleibt deswegen der heutigen Clubversammlung fern.«
»Turnbull und die anderen«, fügte Christelow hinzu, »haben beim Abendessen darüber gesprochen.«
»Das kann doch nicht wahr sein!«, sagte Mr. Toombs. »Piers?«
»Es stimmt nicht«, erklärte Fawkes. »Andrew ist nicht krank. Er wurde untersucht.«
»Andrew verlässt die Schule«, verkündete Wallace, während er den ersten Kelch füllte.
»Er verlässt Harrow ?«, wiederholte Mr. Toombs.
»Ich hab ihm vorhin eine Mail geschickt, weil ich eine Frage wegen der Hausaufgaben hatte; er schrieb zurück, dass er die Hausaufgabe nicht macht, weil er aus der Schule genommen wird.«
»Müssen wir hierbleiben?«, fragte Askew.
»Die Beteiligung am Essay Club ist freiwillig«, gab Mr. Toombs scharf zurück. »Aus der Schule genommen? Von wem?«
»Von seinen Eltern«, sagte Wallace. Wallace hatte einen leichten Buckel und eine teigige Gesichtsfarbe; wenn er redete, hatte man das unangenehme Gefühl, dass er die Worte manipulierte und mit ihnen spielte wie sadistische Kinder mit Insekten und Käfern. Er schien sich diebisch über diese Nachrichten zu freuen.
»Ich schätze, sie haben Angst«, meinte Askew. »Bei den Krankheits- und Todesfällen im Lot ist das nur zu verständlich.«
»Und Sie verlassen uns auch, Mr. Fawkes?«, wollte Nick Antoniades wissen.
Nick wohnte im Headlandhouse. Bestimmt hat Sir Alan etwas verlauten lassen, dachte Fawkes. »Ja, das stimmt.«
»Wirklich, Piers?« Mr. Toombs schnappte nach Luft.
Askew stürzte sich auf diese Neuigkeit. »Was? Sie verlassen die Schule?«
»Ganz recht.«
»Das ist verrückt!« Er lachte. »Ehrlich, Mr. Toombs – warum sind wir hier? Der Vortragende lässt sich nicht blicken – und selbst wenn er hier wäre, er ist kein Schüler von Harrow mehr. Auch einer der Lehrer gehört nicht mehr der Schule an. Hat die Veranstaltung hier überhaupt noch etwas mit Harrow zu tun?«
»Du benimmst dich extrem ungehobelt, Rupert. Ich ziehe ernsthaft in Erwägung, dich zu bitten, ganz aus dem Club auszutreten«, wies ihn Mr. Toombs zurecht. Askew war sichtlich verletzt. Die anderen Jungs grinsten. »Unsere Club-Vorsitzende hat eine Versammlung einberufen. Bis sie eine andere Entscheidung trifft, bleiben alle hier. Soviel ich gehört habe, hat Andrew seinen Essay in kürzester Zeit verfasst. In Anbetracht dessen und vor allem nach dem, was ich heute Abend gehört habe, sollten wir ihm noch ein paar Minuten zugestehen …«
In diesem Moment flog die Tür auf. Die Kerzen flackerten. Andrew stand mit einem Papierbündel in der Hand auf der Schwelle. Er sah müde aus.
Er merkte es sofort. Sobald er die Tür geöffnet hatte. Dieses Unter-Wasser-Gefühl. Der pulsierende Druck und die Spannung waren so stark, dass sie ihn fast aus dem Raum katapultierten. Und er nahm die Augen wahr. Obschon er seinen Platz auf dem hochlehnigen Stuhl an der Stirnseite des Tisches noch nicht eingenommen hatte, fühlte er, wie die Blicke diese Stelle durchbohrten, als wären sie ihrer Zeit ein wenig voraus – schon jetzt zielgerichtet und unausweichlich. Andrew spürte sie, als er sein Manuskript an sich drückte, sich seitwärts an Christelow vorbeizwängte, Fawkes mit einem Nicken begrüßte und Father Peter mit hochgezogenen Brauen zur Kenntnis nahm. Die ganze Zeit hörte er Toombs’ Stimme – da bist du ja; sehr nett, dass du gekommen bist. Andrew, ich habe gerade gesagt, wie wenig Zeit du für die Vorbereitung hattest –; sie klang, als käme sie vom obersten Schiffsdeck und als würde Andrew selbst ins dunkle Wasser sinken.
Irgendwo inmitten der Schüler stand Dr. Kahn, betrachtete ihn aufmerksam und mitfühlend.
Andrew setzte sich, ohne den Kopf zu heben. Auch seine Mitschüler ließen sich nieder. Mr. Toombs machte höfliche Bemerkungen, sagte so etwas wie Schwanengesang, sehr traurig, dass du uns verlässt, dabei lernen wir dich doch gerade erst richtig kennen, und wir waren so froh, dich bei uns zu haben. Andrew war erstaunt, als ein, nein zwei Stimmen murmelten: Hört, hört. (Wallace und Antoniades. Unerwartet.) Aber wenigstens kommen wir in den Genuss, uns deinen Essay anzuhören … ein großes Glück …
Mr. Toombs verstummte, um dem Redner des Abends das Feld zu überlassen. Andrew legte sein Manuskript so, dass möglichst viel Kerzenlicht darauf fiel.
Er konnte nicht aufschauen, sonst würde er Harness sehen.
Harness war da.
Sein Puls raste. Was würde passieren. Wenn er ihn anschaute? Wenn er diese Augen begrüßte? Auf wessen Stuhl saß Harness? Auf dem leeren schräg links?
Du weißt, wessen Stuhl das ist.
Jetzt war er froh, dass er seinen Vortrag ordentlich ausformuliert hatte, statt sich lediglich Stichworte zu notieren – Dr. Kahn hatte recht gehabt –, denn ohne Manuskript wäre er verloren. Sein Verstand war benebelt. Der Schlafmangel machte sich bemerkbar.
Und diese Präsenz.
Es war, als stünde er an einem Abgrund und kippte nach vorn.
Auf die Gestalt, geduckt und bereit zuzuschlagen.
Harness – das wusste er – funkelte ihn an. Harness’ Empfindungen hatten nichts mehr mit Liebe, Lust oder Sehnsucht zu tun. Ihn beseelte reiner Hass. Harness wusste, dass Andrew, Fawkes und Father Peter hier waren, um gegen ihn zu kämpfen. Der Raum stank danach. Der Moschus einer Schlacht. Und Harness warf sich in die Brust und lockerte seine Muskeln.
Wage dich nicht näher, wenn du dich zeigst zerschmettere ich dich
ich weiß, du bist hier um mich auszulöschen, aber ich habe Reserven und du unterschätzt meine wilde Entschlossenheit nicht, dazu kennst du mich zu gut.
Hast du nicht gesehen, was ich mit dem Mädchen und deinem Freund gemacht habe?
Wie konnte Andrew angesichts dieser Feindseligkeit weiterhin Normalität vortäuschen? Doch neben ihm saß Mr. Toombs mit seinen geröteten Wangen, der Brille und den erwartungsvollen Augen. Fühlten Mr. Toombs und die anderen auch etwas? Wie konnte Andrew in einer solchen Umgebung laut vorlesen? Das wäre fast, als würde jemand Violine in einem rasenden Zug spielen. Ihm war übel. Am liebsten hätte er sich davongeschlichen und sich schlafen gelegt.
Andrew hatte die Morgendämmerung beobachtet und seinen Essay abrupt beendet. Er ging in sein Zimmer im Lot, um seine Sachen zu packen. Anschließend legte er sich aufs Bett und dachte an Persephone, versuchte sich auszumalen, was der nächste Tag ihr – ihnen beiden – bringen würde, aber es gelang ihm nicht, seine müden Gedanken in die Zukunft zu richten. Dieser quälende Zustand dauerte bis nachmittags an, als ihn das Lampenfieber packte und er hektisch die letzten Seiten seines Essays noch einmal tippte. Ausdruckte, bündelte. Dann endlich döste er ein … o Scheiße – schreckte auf und rannte um vier Minuten nach sieben den Hügel hinunter.
Die Wahrheit über den Lot-Geist.
Lord Byron, las er, verliebte sich 1801 in John Harness, als Letzterer das war, was wir in Harrow einen Remove nennen.
Die Präsenz schwoll an. Die anderen mussten sie spüren, davon war er überzeugt. Er glaubte, aus den Augenwinkeln zu beobachten, dass Fawkes unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte, und Dr. Kahn zog ihren Schal fester um die Schultern, als wäre ihr plötzlich kalt geworden.
Andrew las mechanisch. Homosexuelle Liebe in Harrow. Lord Byron und John Harness. Ihre Liebesbriefe. Die Eifersucht, die sexuelle Ausplünderung. Die Wonnen in Cambridge.
Andrew war sich des Unbehagens seiner Klassenkameraden bewusst. Insbesondere Askew wand sich auf seinem Stuhl und suchte aufgeregt den Blick eines Gleichgesinnten: Schreibt er tatsächlich über so was? Schwule Pornographie! Soll es uns wirklich leidtun, dass dieser Typ die Schule verlässt?
Andrew hingegen fühlte die Bedrohung – überwältigend und nah.
Bohrende Blicke.
Zähneknirschen.
Animalisch.
Lauernd.
»In Cambridge machten Byron und Harness eine ernüchternde Erfahrung«, las Andrew langsam, wie Fawkes es ihm geraten hatte, »als einer von Byrons engsten Freunden, Charles Skinner Matthews, starb. Matthews galt nicht nur als einer der klügsten, intellektuellsten Köpfe der Cambridge-Clique, er war unter Byrons Bekannten auch derjenige, der seine Homosexualität am wenigsten vertuschte. Matthews plötzlicher Tod war nicht nur schockierend, sondern hatte auch noch einen schrecklichen, skandalösen Aspekt. Während offiziell erklärt wurde, er sei durch einen Unfall im Cam River ertrunken, erschien es plausibler, dass Matthews Selbstmord begangen hatte. Dass er sich am Grund des Flusses festgehalten hatte, bis es mit ihm zu Ende gegangen war. Dieser Vorfall mag der Wendepunkt für Byron und Harness gewesen sein. Wenn sich schon der brillante Matthews nicht zutraute, ein Leben als Homosexueller in England zu führen, wie konnten sie es dann? Er hatte sich selbst nach den gültigen Gesetzen gerichtet – Homosexualität verdiente den Tod. Das genügte, um ihnen vor Augen zu führen, dass ein schwules Paar in England keine Zukunft hatte, auch wenn es seine wahren Gefühle als normale Freundschaft tarnte.«
Bleib dran.
Jetzt kam Mary Cameron, die sechzehn Jahre alte Prostituierte, Byrons mutige Geliebte, ins Spiel.
Andrew Taylor grinste verstohlen, weil er am Rand mitbekam, dass Askew nach Luft schnappte. Schwulen-Pornographie … jetzt Hetero-Pornographie? Was für ein Essay!
»Nachdem Harness Cambridge verlassen hatte, stürzte sich Byron in eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit einer halbwüchsigen Londoner Hure, die er von der Bordellbetreiberin für fünfundzwanzig Pfund freikaufte …«
Byron schwängerte Mary. Voller Schuldgefühle, nachdem er Harness in London der Armut überlassen hatte, entschied er sich jetzt, das Richtige zu tun: Er wollte die Straßendirne heiraten. Seine Freunde waren empört. Es sei ein unbedachter, impulsiver Schritt, sagten sie, bombardierten ihn mit Briefen und rieten ihm, das Mädchen loszuwerden; Byron widersetzte sich. Mary allerdings war vollkommen durcheinander und folgte ihren Instinkten: Eines Tages saß sie im Hotel an der Durant Street und zerkaute Hunderte Schwefelholzköpfe, bis sie krank wurde und ihr ungeborenes Kind mit starken Blutungen verlor. Der Arzt, der zu Hilfe gerufen wurde, geriet in arge Verlegenheit, weil Mary Männerkleidung trug. »Byron hatte sie verkleidet, um die Cockney-Dirne zu einem gesellschaftlich akzeptablen Begleiter zu machen. So konnte er sie überallhin mitnehmen, solange er sie als seinen Cousin oder manchmal sogar als seinen Bruder vorstellte.«
Das Gerede von einer Heirat hörte auf. Doch die leidenschaftliche Liaison mit Mary Cameron hatte Bestand. Byrons Poesie sprach in diesen Monaten von zärtlicher Intimität:
Can I forget – canst thou forget.
When playing with thy golden hair,
How quick thy fluttering heart did move?
Andrew schluckte. Furcht überkam ihn. »Und die ganze Zeit wusste Harness von der Liaison. Allerdings hatten ihn die vielen Gerüchte in dem Glauben gelassen, ein junger Mann hätte ihn als Byrons Gefährten abgelöst. Dieser Gedanke weckt mörderische Wut in Harness. Sein Zorn erreicht den Höhepunkt hier in Harrow am Speech Day im Jahre 1809. Byron war – meinen Nachforschungen zufolge – im Three Arrows abgestiegen, und dort fand der Mord statt.«
Andrew hörte das Atmen – er war feucht und schwer.
»Was sich genau im Three Arrows zugetragen hat, weiß man natürlich nicht.«
Andrew riskierte einen Blick auf Fawkes. Der Hausvater war vollkommen erstarrt. Andrew fing an zu stammeln und wusste nicht mehr, wo er weiterlesen musste. Bestimmt fühlen sie es jetzt auch. Er schaute in die Runde. Die Gesichter der anderen drückten Unbehagen aus.
»Was ist?«, unterbrach er seinen Vortrag.
»Mach weiter, Andrew«, krächzte Fawkes.
Denn der eisige Nebel der Erscheinung hatte sie berührt; sie waren blass und reglos – sie alle; vom Tod überschattet.
Das Einzige, was Andrew tun konnte, war, weiterzulesen und NICHT ZU DEM PLATZ SCHRÄG GEGENÜBER ZU SCHAUEN.
»Kürzlich wurden Originalbriefe von Harness hier in Harrow gefunden«, fuhr Andrew mit großer Mühe fort – ein Sturm umtoste ihn, »daraus kann man nur schließen, dass sich Harness und Byron in ihrem alten Wohnhaus, dem Lot, getroffen haben. Es kam zu einer Begegnung in dem Zisternenkeller, ihrem geheimen Zufluchtsort von früher. Harness war nach Harrow gekommen, um Byron wegen seiner Untreue zur Rede zu stellen. Byron wollte Harness auffordern, ein für alle Mal die Drohungen und Schmähbriefe zu unterlassen. Die Auseinandersetzung gipfelte darin, dass Byron die Briefe seines ehemaligen Geliebten und – was noch schwerer wog – den Karneolring, den Harness ihm einmal als Liebespfand geschenkt hatte, zurückgab. Nach diesem Streit entschließt sich Byron, mit Freunden auszugehen. Seine Mätresse lässt er im Inn zurück. John Harness nutzte, rasend vor Eifersucht, die Gelegenheit. Während Byrons Abwesenheit schleicht er sich ins Zimmer seines früheren Geliebten. Dort findet er Mary Cameron vor und greift sie mit letzten Kräften an. Es gelingt ihm, sie mit einem Kissen zu ersticken. Er erlebt einen Moment des Triumphes – er hatte seinen Rivalen bezwungen! Im Siegesrausch nimmt er Byrons Freundschaftsring, das zurückgegebene Liebespfand, und steckt ihn der Toten an den Finger. Jetzt wird Byron – und nur Byron – wissen, wer den Mord begangen hat. Harness erlebte eine fürchterliche Überraschung, als er das Kissen vom Gesicht der Leiche nahm: Die Tote war eine Frau. Er hatte mit einem männlichen Widersacher gerechnet. Als er seinen Irrtum erkannte, stahl er sich davon, um zu sterben. Er wusste nicht, ob er seine wahre Rivalin getötet hatte oder eine Fremde, die durch Zufall in Byrons Zimmer geraten war.
Byron kommt zurück. Findet die Leiche in seinem Zimmer und ist schwer getroffen, als er …«
Instinktiv hob Andrew jetzt den Kopf, um John Harness’ Blick zu begegnen. Ihm stockte der Atem. Einer solchen Bösartigkeit war er noch nie begegnet. Aufgeblähte Nasenflügel, schmale Lippen, kleine Zähne, ausgeprägte Wangenknochen, hohe Stirn. Es war ein würdiges, intelligentes Gesicht und gleichzeitig die Fratze des Teufels, die von Weißglut und mörderischem Hass gezeichnet war. Andrew erkannte den tragischen Aspekt – vielleicht hätte John Harness in einer anderen Welt ein erfülltes Leben führen können. Doch so war er gefangen von seiner Rachsucht.
»… seine eigene Geliebte erstickt auf dem Boden sieht. Er entdeckt den Ring und versteht sofort. Sein Herz ist zweifach gebrochen – einmal, weil er seine Geliebte an den Tod verloren hatte, zum anderen hatte diese feige Tat seinen geliebten John Harness zum Mörder gemacht.«
Wieder begegnete Andrew dem Blick.
Es wurde eiskalt in dem Klassenzimmer.
Andrew … krächzte Mr. Toombs aufgeregt …
Andrew erbleichte, überwältigt von diesen Augen.
»Wir konnten keine Hinweise darauf finden, dass Byron jemals des Mordes angeklagt wurde – und derlei Aufzeichnungen hätten die Zeiten sicher überdauert, angesichts Byrons späteren Ruhms und seines Talents, Skandale zu verursachen. Byron muss sich entschieden haben, seinen eigenen Ruf zu bewahren. Vermutlich hat er bis in die tiefe Nacht gewartet, Mary Cameron die Frauenkleider, die Hurenkleider, angezogen, sie auf Wegen, die er gut kannte, zum Church Hill getragen und dort abgelegt. Ihre Leiche muss am Morgen ganz in der Nähe der Stelle, an der man – ich – am Anfang dieses Schuljahres unseren Freund Theo Ryder entdeckt habe … gefunden worden sein …«
Andrews Stimme versagte.
Die Anwesenden erinnerten sich später, ein animalisches Knurren gehört zu haben.
»Andrew.« Dr. Kahn warnte ihn. Aber er hatte es auch vernommen.
Das Knurren.
Es lächelte; oder fletschte es die Zähne? Harness hatte sich von seinem Stuhl erhoben. Seine Zähne waren entblößt.
Jetzt bist du dran.
Ich bin nicht das knurrende Tier.
Ich habe ihn zur rechten Zeit beschworen.
Du weißt, auf wessen Stuhl ich sitze.
Die Tür zu Mr. Toombs Klassenzimmer ging auf. Eine Gestalt stand auf der Schwelle – ein realer Mensch. Blass. Zerzaust. Graue Stoppeln auf den Wangen. Das Gesicht gezeichnet von Seelenqualen, eine volle schwarze Reisetasche über der Schulter. Die neun Clubmitglieder drehten sich zur Tür. Sir Alan starrte sie mit tränenblinden Augen an. Seine Brille – normalerweise blitzend wie eine Waffe – war verrutscht und trüb. Sein Blick suchte … und fand Andrew.
»Du bist hier«, sagte er, »liest einen Essay.«
Fawkes stand auf und brach den Bann. Instinktiv verstellte er den Weg zur Stirnseite des Tisches. Dr. Kahn, auf der anderen Seite, erhob sich ebenfalls. Um zu Andrew zu kommen, hätte Sir Alan über den Tisch springen müssen.
»Du bist hier«, wiederholte er mit lauter, zorniger Stimme, »liest einen Essay!« Die Flammen der Kerzen loderten, als gäbe ihnen der Atem des trauernden Vaters neue Nahrung.
Andrew sah Harness, der zum Sprung ansetzte.
Oder war es Sir Alan? Die beiden waren eins.
»Persephone gibt jetzt Laute von sich«, klagte Sir Alan und ließ seinen Tränen freien Lauf, »die kein Mensch erzeugen sollte. Ein Gurgeln. Es klingt, als würde Luft in ein Wasserrohr gepresst. Und in gewisser Weise ist es auch so. Sie ist so schwach«, schluchzte er, »so schwach, dass sie das Blut … und den Schleim … nicht mehr ausspucken kann. Sie kann nicht einmal mehr husten. Ich dachte, das ist das Schlimmste. Das eigene Blut ausspucken. Aber es ist noch viel schlimmer, wenn selbst das nicht mehr geht. Die Ärzte haben einen Begriff dafür … Mister Taylor.« Er spie die Worte voller Hass aus. »Sie nennen es Todesröcheln. Wenn das Todesröcheln einsetzt, sagen sie, dann hat der Patient noch siebenundfünfzig Stunden zu leben. Im Durchschnitt. Siebenundfünfzig! Wie würde es dir gefallen, zwei davon damit zu verbringen, in die Klinik zu kommen und meiner Tochter ins Gesicht zu sagen, dass du sie umgebracht hast? Oder, noch besser, wie würde es dir gefallen, weggesperrt zu sein, wie du es verdienst?« Er zog ein Handy aus der Tasche und hielt es hoch. »Soll ich die Health Protection Agency anrufen?«
»Andrew wurde untersucht«, sagte Fawkes. »Er hat keine Tuberkulose.«
»Halten Sie den Mund, Sie Arschloch«, fauchte Sir Alan. »Ich weiß, was er getan hat.« Dann wurde seine Stimme gefährlich leise. »Und du bist hier … liest einen Essay.«
Die Anspannung der Anwesenden löste sich ein wenig ; Sir Alan beruhigt sich, sagten sie sich. Er ist vernünftig. Die Zuhörer sehnten sich verzweifelt nach Normalität – wenigstens für eine Minute. Doch bald begriffen sie, dass das nur die Ruhe vor dem Sturm war.
»Zur Hölle mit dir!«, brüllte Sir Alan und stürzte sich auf den Tisch. Und Andrew sah ihn – John Harness in der Luft; John Harness nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht; John Harness mit einem erschreckenden letzten Trumpf – oh, welch eine Ironie, Mister Taylor, du hoffst, deinen Feind mit einer Geschichte zu besiegen … Andrew sah, wie Sir Alan über den Tisch flog ; und in diesem Flug …
Vittoria Corombona.
Den bellenden, ausgezehrten Mörder auf dem Hügel.
Den geschmeidigen blassen Liebhaber.
Harness griff an. Andrew schnappte nach Luft wie jemand, der in eisiges Wasser taucht. Wind fegte durch die offene Tür. Die Kerzen flackerten und erloschen.