23
Der Freikauf einer Hure
Die drei gingen abwechselnd in Dr. Kahns Wohnzimmer auf und ab und ließen sich mutlos aufs Sofa fallen. Doch letzten Endes kamen sie zu dem Schluss, dass sie nichts gegen Sir Alan unternehmen konnten.
»Ihr Hauptziel ist, Andrew vom Lot fernzuhalten. Ob er sich im Three Arrows aufhält oder hier, spielt keine große Rolle«, meinte Fawkes. »Jute wird nicht mehr Krach schlagen, als er es bereits getan hat.«
»Es wäre ja noch schöner, wenn sie die Polizei anrufen und mich des Kidnappings bezichtigen«, schäumte Dr. Kahn. »Muss sich Andrew auf dem Dachboden verstecken wie Anne Frank?«
»Die Polizei wird sich nicht einschalten. Für sie ist das eine interne Schulangelegenheit – selbst wenn Sir Alan sie anruft, was ich bezweifle.«
»Sie sind schrecklich rational für jemanden, der gerade gefeuert wurde.«
Fawkes lächelte dünn. »Ich hab’s kommen sehen.«
»Ich habe nie mit meinen Eltern telefoniert«, sagte Andrew. »Was, wenn sich Sir Alan mit Ihnen in Verbindung setzt?«
Fawkes schüttelte den Kopf. »Er geht bestimmt davon aus, dass ich längst mit ihnen gesprochen habe. In diesem Punkt irrt er sich.« Dr. Kahn sah ihn fragend an. »Nach unserem Besuch in der Klinik, verschwand Andrew nach Cambridge«, erklärte Fawkes, »dank Ihnen, Judy. Mir erschien der Zeitpunkt unpassend.«
»Soll ich sie jetzt anrufen?«, bot Andrew an. »Bei uns zu Hause ist gerade Mittagszeit.«
»Nein«, entschied Fawkes. »Wir brauchen noch vierundzwanzig Stunden. Wenn du krank wirst, informieren wir sie unverzüglich.«
»Wie beruhigend«, bemerkte Dr. Kahn. »Und was wollen wir in vierundzwanzig Stunden erreichen?«
»Andrew wird herausfinden, wen Harness getötet hat. Father Peter wird das Lot segnen. Wir werden Harness los. Das kann man in vierundzwanzig Stunden bewerkstelligen, oder nicht?« Fawkes stand auf – jetzt war er dran, in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab zu gehen. »Aber irgendetwas nagt an mir. Als hätte ich etwas verlegt oder vergessen.«
»Was haben Sie gesagt, kurz bevor Sir Alan seinen Auftritt hatte?«, fragte Dr. Kahn. »Sie hatten ein Blatt Papier in der Hand.« Sie schob Andrews Ausdrucke, die über den Tisch verstreut waren, hin und her.
»Es ging darum, dass das Mordopfer beides – Junge und Mädchen – sei«, warf Andrew ein.
»Danke, ja!«, rief Fawkes aus. »Ja ja.« Er warf sich aufs Sofa und suchte den richtigen Ausdruck. Er überflog die Seiten, brummte hin und wieder: Nein, nein, dann schüttelte er eine Zigarette aus dem Päckchen und steckte sie zwischen die Lippen. »Ich hab’s«, sagte er. »Covent Garden!«
»Das haben Sie vorhin gesagt«, bestätigte Andrew.
Fawkes zündete die Zigarette an, ohne den Blick von dem Papier loszureißen. »September 1808. Ausschweifungen in London. Dinner in Mrs. Moroneys Bordell in Covent Garden. Gott segne Reggie Cade. Das ist es. Das ist es!«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, uns ins Bild zu setzen?«, fragte Dr. Kahn.
Fawkes lehnte sich zurück. »Nachdem er Cambridge verlassen hatte, erlebte Byron eine, sagen wir mal, unappetitliche Phase. Vielleicht hatte er ein gebrochenes Herz, weil er gezwungen war, sich von Harness zu trennen. Vielleicht war er aber auch nur zwanzig Jahre alt, gelangweilt und reich. Oder beides. Er lungerte mit Preisboxern und zwielichtigem Gesindel herum. Er lieh sich überall Geld – bei Juden, bei seiner Hauswirtin –, um sich und sein Gefolge ständig mit Alkohol zu versorgen. Eines Abends gab er eine kleine Party im Covent Garden. Vier Freunde. Sieben Nutten. Das habe ich mir gemerkt. Ein erstklassiges Verhältnis.« Fawkes grinste. »Wie auch immer – in dieser Nacht lernte er eine Hure kennen. Er mochte sie wirklich sehr. Also kaufte er sie kurzerhand.«
»Wie eine Sklavin?«, fragte Dr. Kahn.
»Mehr oder weniger. Byron befreite sie von ihren Verpflichtungen der Puffmutter gegenüber. Die Puffmutter war, wie ich annehme, Mrs. Moroney«, sagte er nach einem Blick auf den Ausdruck. »Das Mädchen hieß Mary. Mary Cameron. Klingelt da etwas bei dir, Andrew ?«
Andrew schüttelte den Kopf.
»Byron hat sie in einem Gedicht verewigt. An Mary – ich habe dir davon erzählt, es wurde aus Byrons erster Gedichtsammlung herausgenommen, weil es ›zu lüstern‹ war. And smile to think how oft were done, What prudes declare a sin to act is.«
Andrew erinnerte sich vage. »Aber was hat das mit Harness zu tun?«
»Byron hat sich aufrichtig in die Hure verliebt. Sie lebten zusammen in einer Wohnung wie ein modernes Liebespaar. Das bedeutete, dass sie den lieben langen Tag vögelten. Entschuldigung, Judy. Er schrieb ein paar echt schmutzige Briefe darüber und auch einige ziemlich zärtliche Verse. Es geht um Brüste und darum, wie er sie im Schlaf beobachtet – lyrisches Zeug über güldene Tressen.«
»Aber Harness hat nie eine Hure oder ein Mädchen an Byrons Seite erwähnt«, gab Andrew zu bedenken.
»Das ergibt einen Sinn.« Fawkes nickte.
Dr. Kahn verzog das Gesicht. »Was ergibt einen Sinn?«
»Für Byrons vornehme Cambridge-Freunde war die Liaison mit Mary ein Skandal, und sie versuchten, sie zu vertuschen. Wenn sie in Byrons Wohnung kamen, wurden sie von der Straßendirne empfangen, als wäre sie Lady Byron. Byron wollte sie heiraten. Sich über alle gesellschaftlichen Grenzen hinwegsetzen. Undenkbar zur damaligen Zeit. Seine Freunde erklärten ihn für verrückt. Wenn Byron sie schon nicht zu seiner legitimen Gefährtin machen konnte, musste er sich etwas anderes einfallen lassen, um sie in seiner Nähe zu halten. Byron brachte sie zu Freunden in Brighton …«
»Die Reise nach Brighton erwähnt Harness in seinen Briefen«, unterbrach Andrew.
» … und Mary war als Junge verkleidet. Er gab vor, sie sei sein Cousin. Byron nahm in Begleitung einer Hure mit grässlichem Cockney-Akzent den Tee in den Salons auf dem Lande ein. Und die arme Mary konnte sich nie merken, welche Tarnung Byron für sie ersonnen hatte. Sie sprach von ihm immer als ihrem Bruder. Es gibt Hinweise darauf in Briefen. Die reinste Farce. Es ist schwer, Byron nicht zu mögen, wenn man solche Geschichten hört.«
»Warten Sie«, bat Andrew. »Sie sagen, der Rivale war eine Prostituierte in Männerkleidern? Kein Junge? Harness war nicht richtig informiert?«
Fawkes hob beide Hände. »Harness ist einem Irrtum erlegen.«
»Was ist aus Mary geworden?«, fragte Dr. Kahn.
»Sie ist von der Bildfläche verschwunden. Die meisten Biografen vermuten, dass Byron sie zurück in die Gosse geschickt hat. Dass er von ihr gelangweilt war, wie es so oft vorkam.«
»Könnte sie Harness’ Mordopfer gewesen sein?«
Fawkes dachte darüber nach. »Es spricht nichts dagegen.«
»Es würde den Aufzug des Opfers erklären«, sinnierte Dr. Kahn.
»Ja, aber das tote Mädchen war hier, in Harrow. Am Speech Day«, wandte Andrew ein. »Hätte Byron wirklich eine Straßendirne mit nach Harrow genommen?«
»Er hat sie überallhin mitgenommen.«
»Es wäre rührend, wenn er es getan hätte«, meinte Dr. Kahn. »Eine Geliebte mit in die alte Schule nehmen – eine rührselige Geste.«
»Er wollte sie heiraten«, erinnerte Fawkes sie.
»Ja«, stimmte Andrew zu. »Und stattdessen findet er sie nach einem Besäufnis mit seinen Freunden am Speech Day tot in dem Inn.«
Sie sannen über diese Tragödie nach. »Woher wissen Sie das alles, Piers?«, fragte Dr. Kahn nach einer Weile.
»Mary war eine der Kandidatinnen, die ich in meinem Stück als Byrons große Liebe nennen wollte. In meinem Arbeitszimmer liegt eine Akte über sie.«
»Aber sie kommt in Ihrem Stück gar nicht vor«, stellte Andrew fest.
Fawkes lächelte reumütig. »Harness ist nicht der Einzige, der Mary Cameron unterschätzt hat.«
»Sexismus in Reinform«, schnaubte Dr. Kahn.
»Allerdings sollte man nicht zu viel Gewicht auf das legen, was ich sage. Es ist nur … Hintergrund. Eine literaturhistorische Anekdote. Andrew ist derjenige, der sie gesehen hat. Stimmt’s, Andrew ? Was meinst du, könnte sie die Tote sein?«
Widerwillig rief sich Andrew die Kampfszenen, die er mit eigenen Augen beobachtet hatte, ins Gedächtnis; ein Kampf um Leben und Tod.
Wer sind Sie? – mit eindeutiger Cockney-Klangfärbung.
Sie hatte eine schmale Stupsnase, einen Mund in der Form eines Vogels im Flug. Ihre Wangen waren fleckig geworden während des Ringkampfes; in den Augen schimmerte nackte Angst, dennoch hatte sie etwas Verschlagenes an sich, als wüsste sie, wie man sich behaupten konnte. Und in dem Augenblick, in dem sie begriff, dass sie ihrem Angreifer unterlegen war, konnte sie offensichtlich kaum fassen, dass diesmal ihre Überlebenskünste, die sie jahrelang verfeinert hatte und die ihr bisher immer geholfen hatten, versagten.
Und die Leiche. Die Brüste, die so respektlos entblößt wurden – jung und klein. Andrew schauderte. Er hatte unsicher vor Mary Camerons misshandeltem Körper gestanden. Ihre Haare enthüllten ihr Geheimnis. Er hatte alles mit angesehen und nicht geholfen. Er war lediglich ein Voyeur gewesen.
»Sie war es«, sagte er. »Obwohl es weit hergeholt ist, wenn man ihr Haar ›gülden‹ nennt.«
Fawkes lächelte betrübt. »Dichterische Freiheit.« Sie hatten einen Plan. Fawkes würde ins Lot zurückgehen und die Akte über Mary Cameron holen. Andrew blieb bei Dr. Kahn und begann, an seinem Essay zu arbeiten.
»Muss ich diesen Essay überhaupt schreiben?«, fragte er. »Ich glaube, wir wissen jetzt alles.«
»Wenn sich der Geist eines verstorbenen Mörders im Essay Club zeigt, ist es dir sicher lieber, deine Gedanken klar geordnet zu haben«, wies Dr. Kahn ihn zurecht.
»Und wie stellen wir sicher, dass Harness kommt?«, erkundigte sich Fawkes.
»Der Geist scheint keine Schwierigkeiten zu haben, unseren jungen Freund zu finden.«
»Und heute Abend? Können wir davon ausgehen, dass Andrew hier vor Harness sicher ist?«
Beide sahen Andrew an.
»Es scheint, dass er sich zurückgezogen hat – für eine Weile zumindest«, sagte Andrew.
»Wenn er schlau ist«, meinte Fawkes, »dann hat er sich in einem Schlupfwinkel verkrochen und bereitet sich auf die große Schlacht vor.«
»Er ist schlau«, gab Dr. Kahn grimmig zurück.
»Und Sie haben vor, andere – die lebenden Mitglieder des Essay Clubs – dazu einzuladen?«
»Ich verschicke eine E-Mail und berufe eine außerordentliche Sitzung wegen eines Notfalls ein.«
Fawkes lachte. »Das wäre der erste Notfall-Essay der Geschichte.«
»Ich bin die Vorsitzende des Clubs. Ich entscheide, wann eine außerordentliche Sitzung notwendig ist.«
Andrew war weiterhin unschlüssig. »Glauben Sie, das reicht aus?«
»Ich werde die E-Mail mit dem Vermerk ›höchste Priorität‹ versehen.«
»Ich meine, für Harness.«
Sie tauschten Blicke aus.
»Um Persephone willen sollte es besser genügen«, sagte Fawkes. »Und wo, zum Teufel, treibt sich Father Peter herum?« Er überprüfte seine Handy-Nachrichten. »Immer noch kein Rückruf. Keine SMS. Ich habe ihm praktisch stündlich eine Nachricht zukommen lassen.«
Fawkes verließ das Haus und zog den Reißverschluss seiner Jacke zu. Erst als er den Kopf hob, merkte er, was passiert war, seit sie hinter Sir Alan die Haustür zugemacht hatten: Die ruhige Straße – ein paar Cottages mit vielen Bäumen – war in Weiß gehüllt. Es herrschte Stille. Dichte Nebelschwaden zogen über die Dächer und stießen herab wie große Wolkenfäuste. Das Licht der Straßenlaternen war gedämpft; die Motorengeräusche der Autos kamen von weit her unter dieser Dunstglocke. Sich in diese dicke Suppe zu wagen schien plötzlich der reine Wahnsinn zu sein.
Ein niedriger Instinkt riet Fawkes: Kehr um. Geh ins Haus und trink einen Tee. Er blieb stehen und zog in Erwägung, diesem Drang zu folgen. Dann schüttelte er sich. Was sollte er sagen? Dass er es sich wegen des Wetters anders überlegt hatte? Nein, das war absurd. Er machte sich mit langsamen, umsichtigen Schritten auf den Weg.
An der nächsten Kreuzung atmete er auf. Da waren mehr Häuser, Außenleuchten, erhellte Fenster, flackernde blaue Fernsehschirme. Zielstrebiger ging er den Hügel hinauf. Doch schon bald kamen ihm die Häuser fremd vor. Zweifel keimte auf. War das wirklich der richtige Weg? War er irgendwo falsch abgebogen? Und wenn er sich in einem Ort, den er so gut kannte, verlaufen konnte … war das beabsichtigt? Hatte John Harness den Nebel heraufbeschworen? All der Regen und die Nässe der vergangenen Monate. Es schien, als hätte Harness – falls er dafür verantwortlich war – ganz Harrow in einen seiner schwammartigen, verseuchten Lungenflügel verwandelt. Hatte er die Feuchtigkeit und Krankheit, die Klaustrophobie und die Schrecken vor seinem eigenen Tod durch die Tuberkulose über sie gebracht?
Man liest über diese Krankheit in vergangenen Zeiten, dachte Fawkes, aber man stellt sich kaum vor, wie sich die Betroffenen gefühlt haben, wie das Ende für sie war, was sie durchlitten, wenn sie keine Luft mehr bekamen und ihnen das Blut aus dem Mund tropfte. Sein Blick huschte hin und her. War Harness jetzt hier? Benutzte er den Nebel, um sich zu verstecken? Andrew hatte angedeutet, dass Roddy und Rhys etwas im Zimmer gespürt hatten, als Roddy zusammengebrochen war. Harness? Der gefühlskalte, jahrhundertealte Geist? So gern Fawkes Andrew helfen würde, so etwas wollte er nicht sehen. Nicht mit eigenen Augen. Die Kälte des Nebels kroch in seine Kleider, legte sich um seinen Hals und brachte ihn zum Frösteln. Er machte die Jacke bis oben hin zu.
Endlich erreichte Fawkes eine vertraute Straßenecke. Er hatte sich nicht verirrt. Dies war die High Street – Gott sei Dank. Dennoch hellte sich seine Stimmung nicht auf. Auch hier trübte Dunst die Lichter der Laternen und Fenster. Seine morbiden Gedanken blieben. So sieht ein Toter unsere Welt, stellte er sich vor und dachte sofort an Persephone. Er hatte Andrew Mut gemacht, was sie betraf, aber jetzt, ganz allein auf der Straße, ängstigte er sich um sie. War sie wirklich so krank? Sir Alan schien außer sich vor Sorge zu sein. Vielleicht hauchte sie gerade in diesem Moment in einem Krankenhauszimmer ihr Leben aus. Und wenn sie allein starb? Die Furcht vor dem Ende – sie packte ihn mit weißen Fingern. Er fing an zu laufen und rannte durch das Lot-Tor. Er war fast zu Hause.
Eine Gestalt kam ihm auf der Auffahrt entgegen. Dunkel, massiv, behände.
»O mein Gott!« Fawkes wich zurück und hob abwehrend die Hand.
»Piers? Sind Sie das?«, ertönte eine Tenorstimme.
Fawkes nahm sich zusammen. Er war ein Narr, sich so zu erschrecken. »Wer ist das? Du solltest im Haus sein«, schimpfte er in der Annahme, einen Schüler aus der Abschlussklasse vor sich zu haben.
»Ich bin’s, Father Peter«, sagte der Schatten und kam näher. Fawkes machte die Nickelbrille des Geistlichen, den dünnen Hals und den Priesterkragen unter dem Regenmantel aus. »Ich komme direkt vom Bahnhof.«
»Wo waren Sie? Ich habe versucht, Sie zu erreichen«, sagte Fawkes gereizter als beabsichtigt.
Father Peter riss die Augen auf. »Wirklich?« Er kramte in seiner Tasche und fischte ein glänzend neues Handy heraus. Das Licht des Displays färbte den Nebel um sie herum bläulich weiß. »Das hat mir meine Frau geschenkt.« Der Kaplan schaute betrübt auf das Display. »Ich habe noch nicht gelernt, damit umzugehen.« Er drückte auf eine Taste, als könnte er sich so dieses Telefon untertan machen.
»Kommen Sie mit rein«, bot Fawkes erleichtert an und legte eine Hand auf die Schulter des Geistlichen. »Ich bin froh, dass Sie hier sind.«