16
Der Pfleger will einen Drink
Fawkes ritt im Krankenwagen auf einer langen, fürchterlichen Adrenalinwoge, die von den Vororten bis nach London reichte. Panik strömte durch seine Adern, wann immer er Roddy, der um Atem rang, ansah. Das graue Gesicht des Jungen zeigte nicht nur akute Qualen, sondern auch so etwas wie angsterfülltes Staunen, als würde ihm sein Körper jedes Mal, wenn er kämpfte, um Luft zu bekommen, sagen: Etwas stimmt nicht, ich kriege nicht genug Sauerstoff. Und alle paar Sekunden musste er die Prozedur wiederholen. Die Lunge füllen. Und dann: Blankes Entsetzen. Fawkes redete eine Zeitlang beruhigend auf ihn ein. Alles wird gut, Roddy. Doch immer wieder sah er den Leichensack mit Theo und die Aluminiumtische mit den Abflussrinnen vor sich. Er fürchtete, dass die Bilder irgendwie in Roddys Bewusstsein dringen könnten, wenn er noch mehr sagte. Also hielt er lieber den Mund und legte nur eine Hand auf die Schulter des Jungen. Was, zum Teufel, mache ich hier eigentlich?, fragte er sich. Warum ich? Ich bin der Letzte, den jemand als Krankenschwester oder Pfleger haben will. Er wartete darauf, dass der Krankenwagen anhielt, die Hecktüren aufgerissen wurden und ein reifer, verantwortungsbewusster Mensch mit der Tatkraft und Selbstsicherheit eines Experten in das Auto sprang und sagte: Okay, danke, dass Sie ihn bis hierher begleitet haben, Piers; Sie haben Ihren Teil getan, jetzt können Sie sich in einem Pub erholen. Diese Person würde freundlich, verständnisvoll lächeln und alles über ihn wissen: dass er ein Trinker, ein Poet und ungeeignet für diesen Job war. Aber niemand erlöste ihn. Anscheinend nahmen sie ihn ernst. Sie schienen zu glauben, dass er am richtigen Platz sei. Der Wagen holperte weiter. Fawkes’ Hand blieb auf Roddys Schulter liegen. Es ist wie im Krieg, überlegte er, da werden die Leute auch zu Aufgaben abkommandiert, für die sie nicht ausgebildet sind, und sie erfüllen sie trotzdem.
Im Krankenhaus wurde Roddy weggebracht. Die Sanitäter rollten den Jungen in die überfüllte Notaufnahme. Fawkes wurde angewiesen, auf der Bank im Korridor Platz zu nehmen. Er wartete. Endlich kam ein Arzt aus dem Untersuchungsraum. Er war kahlköpfig und wirkte angespannt. Sie würden Roddy in einer Spezialstation unterbringen, erklärte er. Musste Fawkes die Eltern verständigen? Selbstverständlich – aber wohin genau wurde Roddy verlegt? Ins Lungenzentrum, wo er mit einem Medikamentencocktail behandelt würde. Zu guter Letzt führte der Doktor die Statistiken über die Sterblichkeitsrate bei Tb-Erkrankten an. Noch ehe sich Fawkes davon erholen konnte, verschwand der Arzt, und der Repräsentant der Health Protection Agency, ein freundlicher Mann mit Schnauzbart und Ohrring, erschien. Fawkes sagte alles, was Mr. Ohrring wissen wollte, und füllte ein Formular aus. Dann ließ man ihn wieder allein.
Er fühlte sich zittrig und schwach. Er verstand diese Dinge nicht. Dinge, die er nicht unter Kontrolle hatte. Er erinnerte sich genau an das halbe Dutzend Weinbars, an denen sie auf der Fahrt zur Klinik vorbeigekommen waren. Er roch den Alkohol aus der Ferne wie ein Hai, der Blut wittert. Gott, wenn er könnte, würde er sich eine dieser Gummiablagen mit Noppen schnappen, auf die ein Barmann die Gläser abstellte und die alles, was überschwappte, und das Spülwasser auffingen, und die Flüssigkeit einsaugen, nur um den Geschmack von Wein und Ale im Mund zu haben. Er schloss die Augen, um seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen. Er wollte, er brauchte einen Drink. Kein Mensch wusste, wo er war. Roddy kam vorerst ohne ihn zurecht. Er würde losziehen und etwas trinken. Ein, zwei Bier, die ihn stabilisierten, wärmten. Oder einen Gin. Ihm war klar, dass er es nicht tun sollte. Trotzdem stand er auf. Er wäre nur dreißig Minuten weg. Vielleicht fünfundvierzig.
In diesem Moment spürte er das Vibrieren seines Handys in der Jacketttasche. Er klappte das Telefon mit zitternden Händen auf. Voicemail.
Seine Hände zitterten noch mehr, als er das Mobiltelefon anstarrte.
Das genügte, um seinen Drang einzudämmen.
Er würde nichts trinken.
Das übermächtige Verlangen war abgeebbt.
Gerettet.
Was immer das für eine Botschaft sein mochte, er würde sich bis in alle Ewigkeiten an sie erinnern. Wahrscheinlich wollte ihm jemand eine Versicherung oder eine Reise nach Mallorca verkaufen. Er drückte auf eine Taste, um die Nachricht abzuhören. Eine vertraute Stimme – wer war das, dieser Akzent? Andrew.
Wenn Sie uns nicht abholen, weiß ich nicht, was geschieht.
Ein ungewohntes Gefühl der Zuneigung durchflutete Fawkes. Er war engeren Beziehungen so lange aus dem Weg gegangen, dass er jetzt schon einen siebzehnjährigen Amerikaner, den er erst wenige Monate kannte, als Freund betrachtete. Er schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Seine Schultern bebten. Seine Hände wurden nass. Die Leute gingen ungerührt an ihm vorbei. Ein weinender Mann war nichts Ungewöhnliches in einem Hospital. Das Pflegepersonal wusste, dass man Trauernde in Ruhe lassen musste.
Andrew lehnte sich erneut an einen Untersuchungstisch und erwartete einen weiteren Test. Die erste Schwester kam zu ihm und gab ihm seine Kleider zurück. Mittlerweile hatte er den Widerstand aufgegeben und war so passiv, dass er sich wie eine freigekaufte Geisel mit gebrochenem Willen vorkam, als er die Tüte in Empfang nahm. Sie bat ihn, die restlichen Formulare, die auf dem Schreibtisch lagen, auszufüllen. Jemand von der Schule werde ihn und Rhys abholen, so dass sie kein öffentliches Verkehrsmittel benutzen mussten. Sie erinnerte ihn daran, direkten Kontakt mit anderen so weit wie möglich zu vermeiden, bis die Untersuchungsergebnisse feststanden, keine Reisen zu unternehmen, mit der Klinik in Verbindung zu bleiben … die Liste der Instruktionen war endlos. Immer wieder sagte er: »Okay.« Dann ließ ihn die Schwester allein. Er zog sich an. Mit jedem Kleidungsstück gewann er ein wenig mehr Würde zurück. Wer hätte gedacht, dass ihm die Schuluniform einmal so ein gutes Gefühl geben würde? Er kam sich vor wie jemand, der sich für einen Maskenball verkleidete. Die Harrow-Uniform – was für eine freche Rüge an das weiße Krankenhausfähnchen! Bald verließ er in grauer Hose und blauem Jackett mit schwarzer Krawatte den Raum.
Zu seiner Rechten sah er Glastüren, hinter denen alles dunkel war. Daneben breite Fenster. Der Anblick weckte eine Erinnerung. Vorraum. Hatte Dr. Minos nicht dieses Wort benutzt, um die Station für Tuberkulose-Patienten zu beschreiben?
Roddy, dachte er.
Auf dem Flur rührte sich nichts. Eine Schwester saß hinter einer gläsernen Trennwand und arbeitete an ihrem Computer. Schritte waren zu hören und wurden wieder leiser. Andrew ging zur ersten Glastür – sie ließ sich öffnen, und er betrat den Vorraum. Er hörte das Surren des Belüftungssystems. Dies wäre die Gelegenheit, es sich noch einmal anders zu überlegen. Nein. Er öffnete die zweite Tür. Ein Fernseher auf einem Gestell an der Wand, heruntergelassene Jalousien, ein weißer Schimmer.
»Hallo?«
Keine Antwort.
Er schob die Tür noch ein wenig weiter auf und streckte den Kopf ins Zimmer.
Das Bett war gemacht. Niemand da.
Er zog sich auf den Korridor zurück. In den wenigen Sekunden hatte sich nichts geändert. Andrew eilte zur nächsten Glastür. Sobald er einen Schritt hinein machte, wusste er, dass dieses Zimmer belegt war: Die Lamellen der Jalousie zum Vorzimmer waren schräg gestellt. Der Fernseher lief zwar nicht, aber es gab eine andere Lichtquelle im Krankenzimmer – eine Reihe von blauen Leuchten an der Decke. Ultraviolettes Licht, das die Mycobacteria abtötet. Andrew wagte sich hinein. Ein Patient lag im Bett. Der Besucherstuhl war leer.
»Hi … bist du das, Roddy?«
Die liegende Gestalt bewegte sich. Eine durchsichtige Sauerstoffmaske drehte sich zu dem Besucher.
Roddy setzte sich auf. »Was machst du hier?« Seine Stimme wurde durch die Maske gedämpft. Er hustete. Das war kein Raucherhusten, kein Reizhusten, den Salzwasserdampf hervorgerufen hatte. Dieser Husten beanspruchte den gesamten Brustkorb, als wäre er mit nassen Schwämmen vollgestopft, auf die jemand mit einem Teppichklopfer einschlug. Andrew wich zurück. Roddy drückte die Sauerstoffmaske fester auf sein Gesicht, als könnte ihm das helfen.
»Die Ärzte glauben, dass du Tb hast – … weil du mit HIV infiziert seist«, sagte Andrew hastig. »Das stimmt doch nicht, oder? Du hast kein …«
Roddy zog ärgerlich die Stirn kraus. »Ich dachte, das hier ist eine Klinik. Aber es ist Sodom und Gomorrha! Sie wollen nur wissen, ob ich Sex mit meinen Freunden habe! Ich hab gesagt: Habt ihr keine medizinische Ausbildung? Ich bekomme keine Luft, und ihr zerbrecht euch den Kopf, ob ich jemanden an meinen Arsch lasse? Meine Lunge braucht Hilfe, nicht mein Hintern. Ich könnte auch Arzt sein, wenn man nur Fragen nach …«
Seine Tirade ging in einem Hustenanfall unter. Diesmal erkannte Andrew die Panik in Roddys Gesicht, als der Anfall nicht enden wollte. Irgendwann ließ er nach. Roddy keuchte und saugte gierig an der Sauerstoffmaske. Plötzlich erschien der dünne Schlauch erbärmlich unzureichend. Andrew war unschlüssig, ob er bleiben sollte. Andererseits brauchte er eine Antwort, eine Bestätigung für den Verdacht, der während seines Gesprächs mit Dr. Minos aufgekeimt war.
»Roddy«, sagte er. »Als es dich getroffen hat … als die Krankheit ausbrach … hast du da etwas gesehen? Irgendwas Komisches gefühlt? Ich meine nicht die Atembeklemmung. Sondern … hast du jemanden gesehen? Irgendetwas in deinem Zimmer gespürt?«
»Rhys sagte, dass so etwas wie ein schwerer Nebel im Zimmer war, als er hereinkam«, setzte Andrew hinzu.
Stimmen auf dem Korridor. Sie kamen näher, verharrten vor der Tür.
Andrew gab seine behutsame Taktik auf. »Hast du einen Jungen mit weißen Haaren gesehen?«, zischte er.
Roddy riss ängstlich die Augen auf.
Andrews Aufregung wuchs. »Du hast ihn gesehen?«, fragte er eifrig nach.
Die äußere Tür ging auf.
»Sag es mir, Roddy, bitte«, flehte er. »Du hast ihn gesehen, oder?«
Roddys Blick ging ins Leere, als ob er die Momente in seinem Zimmer noch einmal durchlebte, die einzelnen Teile zusammensetzte. »Ich weiß nicht, was vor sich geht«, sagte er traurig.
»Was ist hier los?«, rief die Schwester, die ins Zimmer kam. Andrew erschrak. »Es ist verboten, diese Räume zu betreten! Und noch dazu in Straßenkleidung!« Ihr Gesicht war von einem weißen Mundschutz verdeckt. Ihre Augen blitzten vor Wut. »Raus hier! Wer sind Sie? Es ist sehr gefährlich!«
Roddy sank resigniert und erschöpft zurück. Die Schwester wandte sich ihm zu. Andrew stürmte die Treppe hinunter. Er brach in Schweiß aus – nicht wegen der Anstrengung. Nein, er hatte höllische Angst.
Sie saßen seit zwanzig Minuten in einem Taxi, das sich durch den Londoner Verkehr kämpfte. Die beiden Jungs fühlten sich ausgelaugt, müde. Die verknitterten Schuluniformen hingen an ihnen wie Kostüme an Schauspielern, die mitten in der Vorstellung entführt worden waren. Besonders Rhys ließ sich hängen. Fawkes hatte sie abgeholt und ein Taxi auf der belebten Straße vor dem Hospital angehalten – teuer, aber notwendig, wenn sie öffentliche Verkehrsmittel meiden wollten. Es war eines der alten Londoner Taxis mit Trennscheibe zum Chauffeur. Zu dritt drängten sie sich auf dem doppelseitigen Rücksitz.
Fawkes berichtete von seiner Unterredung mit dem Mann von der Health Protection Agency. Andrew und Rhys gehörten, erklärte Fawkes, zum inneren Kreis – zu den Menschen, die am meisten Kontakt mit Roddy und Theo hatten. Die Röntgenaufnahmen zeigten keinerlei Auffälligkeiten. Die endgültigen Resultate der Blutuntersuchungen waren frühestens in achtundvierzig Stunden zu erwarten. Bis dahin brauchten sie keinen Mundschutz – die waren nur nötig gewesen, solange das Ausmaß ihrer Erkrankung gänzlich unbekannt war. Aber sie mussten sich zurückhalten. Es bestand nur noch eine kleine Chance, dass sie eine aktive Tuberkulose hatten, machte Fawkes deutlich. Und noch geringer war die Gefahr, dass sie andere anstecken konnten. Das Beste sei, über die Untersuchungen und Roddys Krankheit nichts verlauten zu lassen, damit keine Panik entstand.
Rhys starrte düster aus dem Fenster. Andrew brannte vor Ungeduld.
»Haben Sie meine Eltern schon verständigt?«, wollte Rhys wissen.
»Nein«, gestand Fawkes. »Ich dachte, wir rufen sie gemeinsam an, wenn wir zurück sind.«
»Sie werden durchdrehen.«
»Es ist Harness«, platzte Andrew heraus. Er konnte sich nicht länger zurückhalten.
Fawkes warf einen unsicheren Blick auf Rhys, ehe er sich zu Andrew drehte. »Was?«
»Harness macht die Leute krank.« Andrew beugte sich vor. »Der Arzt hat gesagt, dass sie keine Erklärung für den schnellen Fortschritt der Krankheit bei Roddy und Theo haben.«
»Es sei denn, sie haben oder hatten Aids«, warf Rhys verbittert ein.
»Haben sie einen Aids-Test mit euch gemacht?«, fragte Fawkes erstaunt.
»Ich denke schon.«
Jetzt verstand Fawkes, warum sie so niedergeschlagen waren. Die Untersuchung auf eine potentiell tödliche Krankheit war genug für einen Nachmittag ; zu erfahren, dass Verdacht auf eine zweite bestand, konnte den stärksten Mann umhauen. Und die Jungs wurden zweifellos gründlich ausgefragt, mit all den Vorurteilen über Jungeninternate – besonders über die bekannten wie Harrow – konfrontiert und mussten sich Vorwürfe anhören, dass auf dem Hill Zustände herrschten wie im alten Rom.
»Es ist kein Aids«, behauptete Andrew.
»Auf keinen Fall«, pflichtete Rhys ihm bei.
»Es ist Harness«, wiederholte Andrew.
»Wovon redest du? Was ist Harness?«, wollte Rhys wissen.
»Nicht was, sondern wer«, korrigierte Andrew. »Harness ist der Name des Lot-Geistes. Er ist real. Er starb an Tuberkulose.«
Rhys verdrehte die Augen. »O Gott.«
»Du hast selbst gesagt, dass du etwas Eigenartiges in Roddys Zimmer gefühlt hast.«
»Ich …« Rhys schüttelte den Kopf. »Das stimmt. Aber es war nicht der Lot-Geist.«
»Na klar, es war das Newlands-Gespenst, das zu Besuch war. Ich hab mit Roddy gesprochen. Er glaubt, ihn gesehen zu haben.«
»Roddy ist krank. Wir haben vielleicht Tb oder Aids. Und genug Stoff zum Nachdenken, auch ohne irgendwelche Geistergeschichten.«
»Ganz recht«, sagte Fawkes mit einem strengen Blick auf Andrew. Er wünschte, der Junge würde schweigen, bis sie Gelegenheit hatten, sich privat zu unterhalten. Haussprecher hin oder her, es war nicht zu übersehen, dass Rhys seine Grenze erreicht hatte.
Andrew beugte sich wieder vor. »Der Doktor sagte, die ungewöhnlich rasche Entwicklung der Tb wäre nur durch Aids zu erklären. Ein zusammengebrochenes Immunsystem. Roddy fiel um und war sofort ernsthaft krank. Theo ist schnell gestorben. Deshalb haben sie dauernd von Aids geredet. Aber Rhys? Roddy?« Er verzog das Gesicht. »Theo? Ich? Wir alle? Aids? Ich bitte Sie. Dann fiel es mir ein. John Harness hatte Tb. Er ist daran gestorben. Das steht im Harrow Record.« Er lehnte sich triumphierend zurück und ließ Fawkes nicht aus den Augen.
»Und du denkst …«
»Ich denke, dass Harness die Leute infiziert!«, ergänzte Andrew. »Wir müssen etwas unternehmen. Roddy ist richtig schlecht dran. Und Harness wird den Nächsten anstecken. Auf unserem Flur sind nur noch Rhys und ich übrig.«
»Aber … was sollen wir tun?«, fragte Fawkes.
»Schon vergessen? Wir müssen herausfinden, wen Harness getötet hat und warum. Das ist das Einzige, worauf wir aufbauen können. Haben Sie mit Father Peter gesprochen?«
Fawkes’ Eingeweide zogen sich zusammen. »Das habe ich. Ich war bei ihm.«
»Und?«
»Er holt sich eine Genehmigung von der Church of England – für ein spezielles Ritual. Es gehört nicht zu den Dingen, die er im Studium gelernt hat.«
»Wie bald kann er das Nötige in Angriff nehmen?«
»Ich bin nicht sicher.« Fawkes schaute aus dem Fenster. Sag etwas. Erzähl es ihm. Mach reinen Tisch. Mein Gott, wenn er krank wird und stirbt, dann hast du ihn auf dem Gewissen. »Andrew …«, begann er.
»Piers?«
»Ich … ich war nicht aufrichtig zu dir. Ich war selbstsüchtig.« Andrew sah ihn nur an, und Fawkes fuhr fort: »Ich war mehr am Ergebnis deiner Nachforschungen interessiert als an deinem Wohlergehen. Meine Verlegerin …« Er hielt kurz inne. »Oh, verdammt noch mal, darf ich hier drin eine Zigarette rauchen?«, rief er dem Fahrer zu. Der Fahrer nickte.
»Sir«, protestierte Rhys, »wir haben vielleicht Tb. Eine Lungenkrankheit.«
»Nur eine Zigarette.«
»Nein!«
Rhys schaute dem Hauslehrer in die Augen, plötzlich grinste er breit. Sie lachten; Andrew fiel mit ein, und zum ersten Mal an diesem Tag fühlten sie sich befreit. Als das Gelächter nachließ, beeilte sich Fawkes, sein Geständnis zu Ende zu bringen, solange die Stimmung noch so heiter war.
»Ich habe meiner Verlegerin erzählt, dass ich das Stück mit einer literarischen Entdeckung untermauern könnte. Wenn ich ihr eine Geschichte über Byrons Geliebten, der einen Mord begangen hat, mitliefere, wird sie das Stück herausbringen. Wenn nicht, dann nicht.«
»Das ist großartig. Unsere Recherchen werden Ihnen helfen.«
Und ich habe Father Peter gebeten, sich Zeit zu lassen.
Ich entschied, dass dein, Roddys und Rhys’ Leben weniger wert sind als mein Werk.
Los, sag es.
Sie hatten den Highway erreicht. Fawkes beobachtete, wie die Apartmentkomplexe am Wagenfenster vorbeizogen. Schließlich sagte er: »Ich habe mich mehr auf die Nachforschungen konzentriert als auf die Auswirkungen, die die Vorgänge auf euch haben.« Er schwitzte. Die Jungs musterten ihn mit unverhohlener Neugier.
»Aber genau das brauchen wir«, sagte Andrew.
»Tatsächlich?«
»Natürlich! Ich muss meine Recherchen schneller beenden.«
»Was hast du bis jetzt herausgefunden?«
»Ich habe Briefe in dem Zisternenkeller gefunden – alte Briefe – und sie Dr. Kahn gegeben.«
»Oh, gut.« Fawkes überspielte seine Erregung. »Und?«
»Sie waren in keinem guten Zustand. Dr. Kahn hat sie ans Trinity College, Cambridge, geschickt – sie kennt in der Wren Library jemanden, der sich mit alten Handschriften befasst.« Andrew überlegte kurz. »Wie lange braucht man, um nach Cambridge zu kommen?«
»Mit dem Zug etwa eine Stunde.« Fawkes wusste, worauf Andrew hinauswollte. »Du meinst, die Briefe helfen uns weiter?«
»Ich glaube, Harness wollte, dass ich sie finde.«
Fawkes knabberte an einem Fingernagel. »Trinity, ja?« Fawkes’ nervöser Blick wanderte zu Rhys, ehe er zu Andrew sagte: »Morgen ist Unterricht.«
»Roddy kann nicht warten.«
»Du solltest dich möglichst wenig unter Menschen aufhalten. Keine öffentlichen Verkehrsmittel. So lautet die Anweisung der Health Protection Agency.«
»Schön, dann fahren Sie.«
»Ich muss mich um ein Haus mit sechzig Schülern kümmern. Und ich habe eine Bewährungsfrist und muss Sir Alan täglich treffen. Wenn ich einen dieser Termine versäume, bin ich gefeuert. Dann nütze ich niemandem mehr.«
Rhys sah Fawkes erstaunt an. »Ist das Ihr Ernst, Sir?«
»Du brauchst mich nicht mit Sir anzusprechen, und ja, es ist mein Ernst. Ich bin vielleicht der schlechteste Hausvater aller Zeiten, soweit ich es beurteilen kann. Sieh dir nur dieses ganze Chaos an!«
»Wenn die Fahrt nur eine Stunde dauert«, meinte Andrew, »kann ich morgen in aller Frühe aufbrechen und zur Mittagszeit zurück sein. Sie behaupten einfach, ich müsse mich nach dem anstrengenden Tag heute richtig ausschlafen.«
»Ja«, sagte Fawkes unsicher.
»Warum zögern Sie?«, drängte Andrew. »Sie wissen, dass ich fahren muss.«
Fawkes bemühte sich, seine Emotionen, die ihn heute schon einmal überwältigt hatten, im Verborgenen zu halten. »Seit Roddy krank geworden ist, habe ich das Gefühl, euch besser schützen zu müssen, besonders dich, Andrew.«
»Dies ist meine Aufgabe. Sie und Dr. Kahn haben mich beauftragt, Nachforschungen über Harness anzustellen und einen Essay für den Club zu verfassen. Ich kann nicht länger warten.«
»Ich sage nein«, erwiderte Fawkes nach einer Weile.
»Machen Sie Witze?«
»Nein. Sobald wir zurück sind, gehe ich zu Father Peter. Wir führen das Ritual durch und werden John Harness ein für alle Mal los. Und –«, er wedelte mit der Hand –, »all das hat ein Ende. Wir brauchen nicht zu wissen, was in den Briefen steht oder weshalb vor zweihundert Jahren ein Mord verübt wurde. Okay?«
Andrew runzelte die Stirn. Er hatte Harness’ Brutalität und Entschlossenheit erlebt und war keineswegs überzeugt, dass ihn ein schlichtes Ritual vertreiben konnte.
Er versuchte es noch einmal. »Und was, wenn mich jemand begleitet? Rhys könnte mitfahren.«
Rhys schnitt eine Grimasse.
»Nein. Tut mir leid«, sagte Fawkes. »Deine Sicherheit ist wichtiger.«
Diese Worte klangen ziemlich gut. Zumindest wenn sie aus dem Mund eines anderen gekommen wären. Fawkes kämpfte mit sich. Er tat das Richtige, oder nicht? Er hatte den Entschluss gefasst, ein besserer Mensch zu sein und vor allem Andrew zu helfen. Ihn in der Schule und unter seinem Schutz zu halten hatte oberste Priorität. Andererseits entging ihm nicht, dass sich die Miene des Jungen verfinsterte. Mein Gott, dachte Fawkes, ist es immer so, wenn man eine Autoritätsperson ist? Muss man andere verärgern? Sich ihren Unmut zuziehen und sie dazu bringen, alle Entscheidungen in Frage zu stellen? Vielleicht fühlt sich Colin Jute tagaus, tagein so.
»Ich finde, ihr beide seid komplett verrückt«, erklärte Rhys.