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Tod eines Schülers

Es regnete leicht, aber stetig. Ein Krankenwagen stieß zurück zu der Stelle. Der Rückwärtsgang piepste ein paarmal zur Warnung ; das Blaulicht blitzte. Zwei weiße Polizei-BMWs mit Sirenen und orangefarbenen Streifen blockierten den Zugang zur Church Hill Road. Der Tatort war mit Bändern abgesperrt, und das Team des Coroners tat seine Arbeit. Ein Detective wartete darauf, dass das Team zum Ende kam und seine Kollegin die Vernehmung des Zeugen abschloss. Der Zeuge war ein Teenager, deshalb waren sie übereingekommen, dass seine Partnerin das Verhör durchführte. Der Junge war einer der Schüler mit den Strohhüten, die aussahen, als würden sie in ein anderes Jahrhundert gehören. Dieser hatte langes, schwarzes Haar und war groß – zu erwachsen, um diese Schuluniform zu tragen. Er sieht aus, als könnte er bei AC/DC mitspielen, dachte der Detective lächelnd. Der Junge saß auf dem Rücksitz ihres Dienstwagens, hatte die Beine durch die offene Tür auf den Boden gestellt. Die Polizistin stand vor ihm. Die Körpersprache des Jungen deutete auf einen Schock hin. Er fingerte an seinem Strohhut herum, hielt den Blick gesenkt, murmelte leise und schüttelte immer wieder den Kopf. Der Detective beobachtete, wie seine Partnerin zu der Fundstelle zeigte  – sie versuchte, eine Reaktion zu bewirken und den Jungen dazu zu bringen, mehr preiszugeben. Der Detective verfolgte die Szene aufmerksam. Der Zeuge sah auf, sein Blick zuckte dorthin, wo der Tote gerade in einen Leichensack gesteckt wurde. Das Gesicht des Zeugen verzog sich, als hätte er Angst, dass sich der Tote aufraffen und wie ein Zombie durch die Gegend schwanken würde. Bald gab die Polizistin auf und schlenderte zu ihrem Kollegen.

»Irgendwas Brauchbares?«, fragte der Detective.

»Eher nicht. Der Streifenpolizist hat ihn gefunden, als er um Hilfe schrie.« Sie zog ihre Notizen zurate. »Andrew Taylor. Sie waren Kumpel. Nachbarn im Wohnheim. In einem der Häuser oder wie immer sie das nennen. Mr. Taylor ging hier oben spazieren und entdeckte die Leiche.«

»Irgendwas über das Opfer? Was hatte der Junge hier oben zu suchen? Drogen?«

»Bei dem Toten wurde nichts gefunden. Der Zeuge ist Amerikaner. Gestern angekommen. Erster Schultag.«

»Pech. Ist ihm was aufgefallen?«

»Er sagte, die Leiche sei bereits steif gewesen. Er hat das Blut im Gesicht gesehen.«

»Hat er ihn bewegt?«

»Nach dem Puls getastet.« Sie zögerte, dann drehte sie sich um und sah Andrew an.

»Was?«

»Er ist furchtbar nervös«, sagte er. »Als ob er etwas gesehen hätte. Er scheint Angst zu haben.«

»Von hier aus hatte es den Anschein, als wäre er nicht sehr gesprächig.«

»Stimmt. Gehen wir ein Stück?«

»Nicht, wenn’s nicht sein muss.«

»Was willst du sonst machen? Dich weiter vollregnen lassen?«

Der Detective schlenderte zu Andrew, der noch immer im Polizeiauto saß. Er ging in die Hocke, um dem Jungen in die Augen zu schauen.

»Ich bin Detective Bryant. Meine Partnerin hast du gerade kennengelernt.«

»Hi«, brummte Andrew.

»Ein ziemlicher Schock, was?«, begann Detective Bryant mitfühlend.

Andrew reagierte nicht.

Bryant entschied sich für einen Direktangriff. »Du hast gesehen, was passiert ist, stimmt’s?«

Andrew hob erschrocken den Blick.

Bryant frohlockte innerlich und versuchte es weiter. »Nicht den Ablauf, sondern den Typen, der ihn getötet hat. Hab ich recht?«

Die Augen des Jungen wurden groß vor Angst.

»Wer war es?«, bluffte Bryant weiter. »Ein Ortsansässiger? Jemand aus der Schule?«

Andrew forschte im Gesicht des Polizisten. Für einen Moment glaubte er, der Detective wüsste etwas, wüsste, was er beobachtet hatte. Andererseits konnte niemand, der Bekanntschaft mit der hageren, weißhaarigen Gestalt gemacht hatte, eine derart gleichgültige, sachliche Miene zur Schau stellen. Der Detective stocherte im Dunkeln. Andrew starrte wieder auf seine Hände.

»Ihre Kollegin sagte, er sei heute Morgen gestorben«, sagte Andrew. »Wie hätte ich da beobachten können, was passiert ist? Ich hab ihn erst mittags gefunden.«

Der Detective verfluchte im Stillen seine Partnerin.

»Was ist dann?«, hakte Bryant ein wenig zu eindringlich nach, da er spürte, dass ihm die Felle davonschwammen. »Du hast Angst, das sehe ich dir an. Wovor? Ich sage es bestimmt niemandem weiter«, log er aalglatt.

Aber die Aufmerksamkeit des Jungen richtete sich auf etwas anderes. Der Detective folgte seinem Blick. Eine untersetzte Frau in einem schwarzen Regenmantel war am Tatort eingetroffen. Atemlos bat sie den Polizisten, der an der Absperrung Wache hielt, um Hilfe und zankte mit ihm, als sie unbefriedigende Antworten erhielt. Schließlich deutete der Polizist auf Andrew. Matron sah den Jungen und kam schnurstracks auf ihn zu.

»Letzte Gelegenheit«, sagte Bryant.

»Ich habe niemanden gesehen«, erwiderte Andrew.

»Lüg mich nicht an«, knurrte der Detective.

Ihre Blicke trafen sich.

Kurz darauf erreichte sie Matron. »Hier bist du!«, keuchte sie. »Niemand will mir etwas sagen.« Sie funkelte Detective Bryant an. »Was ist eigentlich los?«

»Jetzt sind Sie in Schwierigkeiten«, raunte Andrew.

Bryant richtete sich auf, um pflichtbewusst die Fragen der Frau zu beantworten und sich ihr bekümmertes Stöhnen anzuhören. Zu guter Letzt war er gezwungen, tatenlos und eingeschüchtert durch die Entschiedenheit der Frau, zuzusehen, wie sie den Arm um Andrew legte und mit ihm den Hügel hinunterging.

»Ich werde ihn trotzdem vernehmen«, rief er ihr hilflos hinterher.

»Er ist minderjährig und steht in der Obhut der Schule«, keifte Matron über die Schulter.

Andrew und Matron ließen die geschäftigen Polizisten hinter sich und gingen etwa dreißig Meter die menschenleere, nasse Straße entlang. An der Kreuzung hatten sich Schüler hinter dem Polizeiauto versammelt. Unzählige blaue Jacketts saugten sich mit Regen voll. Ein Meer von Harrow-Hüten. Die schwarzen Talare der Lehrer. Die Polizisten ließen Andrew und Matron passieren. Sofort wurden sie von den Jungen bedrängt.

Was ist passiert?

Ist da oben wirklich jemand gestorben?

Jemand aus der Schule?

Hast du etwas gesehen?

Andrew versuchte, sich einen Weg zu bahnen. Sie umringten ihn, bombardierten ihn mit Fragen, einige fassten nach ihm. Der Regen wurde stärker, benetzte sein Gesicht und tropfte ihm von den Wangen. Ein Lehrer eilte an seine Seite. Lasst ihn durch, bitte, Jungs. Kommt schon, bitte. Der Lehrer führte ihn zusammen mit Matron durch die Menge. Er erkundigte sich, ob es Andrew gutgehe und in welchem Haus er wohne. Die erste Frage beantwortete Andrew unaufrichtig mit Ja, die zweite übernahm Matron: Lot. Andrew bekam von seiner Umgebung kaum etwas mit, er sah nur die Schöße des Gehrocks, das aschfahle Gesicht und diese blauen Augen vor sich, und das grausige Husten dröhnte ihm in den Ohren.

»So was hatten wir noch nie«, murmelte Matron halb betrübt, halb verärgert.

Sie zog Andrew behutsam die nassen Klamotten aus und ermahnte ihn, sich hinzulegen. dann deckte sie ihn zu. Die ganze Zeit redete sie vor sich hin.

»In fünfzehn Jahren.« Sie schüttelte den Kopf. »Und, oh, was werden die armen Eltern sagen? Man kann sich gar nicht vorstellen, einen solchen Anruf zu erhalten. Da muss man sich doch wünschen, man selbst wäre tot. Ich hoffe, sie haben noch andere Kinder. Oh, die haben sie – Theo hat Geschwister. Trotzdem wird es ihnen das Herz brechen, aber es ist gut, dass sie noch weitere Kinder haben.« Dann verwandelte sie fast ärgerlich die frischen Informationen zu Gerüchten und Klatsch: »Gott allein weiß, was ihm widerfahren ist. Für einen Herzinfarkt oder einen Schlaganfall war er zu jung. Gesunde Jugendliche fallen nicht einfach tot um.«

Andrew setzte sich im Bett auf. Er wollte ihr alles erklären, verständlich machen. »Matron, ich habe gesehen …«

Sie sah ihn an und wartete auf das Ende des Satzes.

Ich habe einen Mord beobachtet!, hätte er am liebsten herausgeschrien. Ich habe gesehen, wie jemand in einem altmodischen Gehrock Theo erwürgt hat.

Ja … und dann?

Das war die Frage, die er sich selbst immer wieder gestellt hatte, seit er den Hügel hinuntergetaumelt war und um Hilfe geschrien hatte. Er hatte ungefähr fünf Minuten dagestanden, ehe ihm bewusst geworden war, dass der Mörder nicht mehr da war. Dabei war er nicht weggelaufen, sondern einfach verschwunden. Das Dickicht rechts und links des Tatorts hatte eine lautlose Flucht unmöglich gemacht, und Andrew hätte es sehen müssen, wenn der hagere Junge in die andere Richtung gerannt wäre. Aber Andrew war so schockiert gewesen – schockiert oder war es etwas anderes: eine Art Ohnmacht, eine Kapitulation an die bedrückende Atmosphäre? Dass er das Verschwinden des Angreifers nicht wahrgenommen hatte? An einem so düsteren Ort erschien es nur natürlich, dass sich die hustende, dürre Gestalt plötzlich in Luft aufgelöst hatte.

Und dann ist er verschwunden, Matron.

Andrews Mund blieb offen stehen.

Wenn du das aussprichst, machte er sich klar, wird sie dich für verrückt erklären. Sie wird mit anderen darüber sprechen. Dann bekommst du all die Aufmerksamkeit, die du nicht haben willst. Überleg nur mal, was St. John Tooley und Vaz daraus machen. Sie würden dich in der Luft zerfetzen. Dich als Psycho, als Freak brandmarken.

Zum Glück für Andrew nutzte Matron die Gelegenheit, um, was selten genug vorkam, ihr Mitgefühl zu zeigen.

»Ich weiß. Du hast deinen Freund tot gesehen. Armer Theo. Ausgerechnet er.« Im nächsten Moment fiel Matrons Blick auf Andrew, und ihr schien wieder einzufallen, dass sie mit diesem grässlichen Amerikaner redete. Andrew erkannte, dass es ihr viel lieber wäre, wenn er statt des fröhlichen, charmanten Theo tot auf dem Church Hill Weg gelegen hätte. »Du hast einen Schock«, stellte sie fest. »Bleib liegen und ruh dich aus. Ich kann nicht den ganzen Tag bei dir sitzen. Der Hausvater und alle anderen müssen informiert werden. Genau wie der Rektor. Und die Eltern. Aber das ist Gott sei Dank nicht meine Aufgabe.«

Ohne einen Blick zurück rauschte sie hinaus.

Er stützte sich auf einen Ellbogen und spähte hinaus. Der Regen platschte auf die Blätter der Platane vor seinem Fenster.

Andrew ließ sich zurückfallen. Wenigstens hatte er es warm, war trocken und allein, dennoch überlief ihn als späte Reaktion auf die traumatische Erfahrung ein Schauer von den Schultern bis zu den Zehen. Er zog die Decke fester um sich und begann eine konfuse Debatte mit sich selbst.

Du leidest unter Schlafmangel, argumentierte er. Du bist durchgedreht, weil du in einer neuen Schule anfängst.

Aber die Leiche war real. Er hatte sie angefasst – sie war kalt und steif gewesen und war ein wenig zur Seite gerollt, als er sie berührt hatte.

Sie. Ihn.

Theo ist wirklich tot.

In Andrews Erinnerung flackerten all die Bilder auf, die er in den letzten vierundzwanzig Stunden von Theo gesammelt hatte. Ihm war schlecht.

Er dachte an die hagere Gestalt. Wenn sie Theo umgebracht hatte, konnte sie dann auch noch andere töten? Andrew hatte ihr in die Augen gesehen. Etwas war zwischen ihnen geschehen, als hätten sie sich wiedererkannt. Konnte die Gestalt ihn hier finden? Würde er ihr nächstes Opfer sein?

Er setzte sich auf. Er musste mit der Polizei sprechen und ihnen erzählen, dass die bleiche Gestalt Theo erdrosselt hatte. Was immer sie sein mochte, sie war gefährlich.

Nein. Sie werden dich für geisteskrank halten und deine Eltern anrufen.

Und seine Eltern würden ihn aus der Schule nehmen. Dann saß er richtig in der Scheiße.

Mit zitternden Händen suchte er in der Schreibtischschublade nach seinem Handy. Er fand es und schaltete es ein. Dann klickte er in seinem Nummernverzeichnis D an. Namen erscheinen.

DAD

DANIEL

Er bewegte den Cursor zu DAD. Der 203-Code leuchtete auf. Sein Daumen wanderte zu der grünen Taste. Er sehnte sich nach einer vertrauten Stimme. Sogar nach der seines Vaters. Nach einem amerikanischen Akzent. Er wollte seinem Dad die ganze Geschichte erzählen. Nicht nur Bruchstücke, nicht nur die Teile, mit denen sein Vater seiner Ansicht nach leicht fertig werden konnte, sondern alles, nur um die Meinung seines alten Herrn und ein mitfühlendes Ja, das ist ziemlich merkwürdig zu hören.

Er nahm den Daumen von der Taste. Ihm war klar, dass sein Vater das nicht konnte.

Selbst wenn sie nicht Tausende von Meilen getrennt wären, könnte Andrew nicht die Reaktion hervorrufen, die er sich wünschte. Früher wäre ihm das vielleicht gelungen. Bevor Andrew in die Pubertät kam, hatte sein Vater ein Kanu gekauft und ihn oft mit auf den Housatonic genommen. Er hatte ihm die Vögel im Sumpfgebiet gezeigt und alte Geschichten – aus seinen Tagen an der Penn – oder von seinen paranoiden Theorien über das Bestehen des gemeinsamen Lebenskampfes erzählt. Und er hatte sich nach Andrews Erlebnissen mit seinen Schulfreunden erkundigt. Manchmal vergaßen sie sogar zu paddeln und ließen sich einfach treiben, redeten, hörten zu und beobachteten, wie die Fischadler ihre Beute davontrugen; ohne sich anschauen zu müssen, weil sie hintereinandersaßen. Aber Streit lauerte bereits am Horizont. Nur ein Jahr später bekamen sie sich zu Hause immer wieder in die Haare. Erst wegen ganz normaler Dinge wie Schulnoten und Ausgangszeiten. Doch dann wurden die Auseinandersetzungen verbitterter. Die Frustration des Vaters wuchs  – wegen Andrews Auswahl seiner Freunde, seiner Frisur und der Gewohnheit, schon mit vierzehn Zigaretten zu rauchen; ein paar Monate später hatte sein Vater ein Tütchen Hasch in Andrews Kommode gefunden. Der festverwurzelte Groll des Vaters sickerte in all ihre Scharmützel (die unfaire Behandlung bei American Express, sein Komplex wegen der Herkunft und all der erfolgreichen Taylors, während er selbst im mittleren Management verharrte, zwar wie ein Südstaaten-Aristokrat leben wollte, aber nicht konnte, und Schulden anhäufte, um sich die Ferien in Aspen und Biarritz leisten zu können; zu guter Letzt hatte er auch noch die Demütigung einstecken müssen, dass ein fetter Kerl, dessen Lippen mit Kautabak verschmiert waren, ins Haus kam, um den nicht bezahlten Audi zurückzufordern). Und nach den ersten neun oder zehn lautstarken Wortwechseln mit bitteren Vorwürfen, falschen Beschuldigungen und gebrüllten Beschimpfungen blieb zwischen ihnen nur noch ein immer größer werdender See aus giftiger Galle. Als Andrew einmal in den Ferien nach Hause kam, bemerkte er, dass das Kanu nicht mehr in der Garage stand. Seine Mutter erklärte ihm beiläufig, dass es verkauft worden war.

Ich hole dich von dort weg.

Er hatte die Stimme seines Vaters im Ohr.

Beherrschend. Wütend. Übergriffig. Mit seinem Jähzorn machte er seinen Sohn, sollte er sich rühren oder gar rebellieren, mundtot.

Ist das nicht genau das, was du willst  – weggeholt werden?, sagte eine innere Stimme. Dann wärst du sicher vor den Händen, die sich auf Theos Gesicht gepresst hatten.

Wir sind fertig mit dir, hatte sein Vater gesagt. Du benimmst dich anständig, oder wir sind fertig mit dir.

DAD

DANIEL

Er nahm den Daumen vom Handy.

Nein, er konnte unmöglich mit seinem Vater reden. Wegen des Zwischenfalls im FW. Der hatte jeden Rest von Vertrauen zerstört.

Dies war nicht Andrews erste Begegnung mit dem Tod – er hatte ihn schon einmal gestreift. Andrew hatte in den Nebel geblickt und geschaudert. Es war eine Katastrophe, die alles kaputtgemacht hatte.

Du darfst nicht über den weißhaarigen Jungen sprechen.

Er rollte sich im Bett zusammen und starrte die Tapete mit den blauen und braunen Streifen an.

Er befindet sich in einem andern Schlafraum im Country Connecticut, wo sich Straßen bergauf und bergab schlängeln und jedes Dorf seine eigene getünchte Puritaner-Kirche hat. Wo die Frederick Williams Academy mit schmiedeeisernen Toren, den Wohnhäusern, den gepflegten Grünflächen, Wäldern und Sportplätzen für die Sicherheit ihrer Zöglinge sorgt. Andrew sitzt mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden. Neben ihm liegt eine kleine durchsichtige Tüte mit der Aufschrift Flatline. Ihm gegenüber sitzt Daniel Schwartz. Daniel sackt in sich zusammen. Andrew kämpft mit sich, versucht, sich zu bewegen. Warte, sagt er, dann schüttelt er seinen Freund, weil ihm das Ganze komisch vorkommt. Aber sein Freund ist schon nicht mehr da. Dessen Haut verfärbt sich blau, dessen Geist wird auf sonnenbeschienene Hügel entführt, und Andrew selbst kämpft gegen die Droge an. Verdammt, wie viel hab ich genommen? Das Zeug muss viel stärker sein als das letzte. Er sieht Daniel allein auf dem Boden liegen, während er in einem riesigen, von der Sonne erwärmten Korb eines Heißluftballons steht und sich in die Lüfte erhebt. Dort oben spricht Gott mit großen, stillen Blitzen mit ihm, zeigt ihm, dass er alles vergeudet hat und dass sein Leben eine leere Lunchbox ist. Andrew übergibt sich aus Selbstekel und tödlicher Angst – Daniel sieht wirklich verdammt BLAU aus – und holt sein Handy aus der Jeanstasche. Andrew tippt drei Ziffern ein und drückt auf SENDEN, dann richtet er den Blick auf Daniel und überlegt, was die Sanitäter denken werden, wenn sie den Teenager mit Überdosis zu seinen Füßen und das Erbrochene auf seinen Hosenbeinen sehen.

Als er Monate danach benachrichtigt wurde, war er vergleichsweise ruhig. Er lag in seinem Zimmer zu Hause in Killingworth. Ein Rasenmäher brummte in der Nähe. Und es war nur ein Anruf. Niemand verwickelte ihn in ein Gespräch – sie … informierten ihn lediglich. Es gelang ihm, das Telefonat einigermaßen gelassen zu beenden, dann rollte er sich in seinem Bett auf die Seite und spürte, wie sich seine Eingeweide langsam zersetzten.

»Alles in Ordnung mit dir, Mann?«

Andrew drehte den Kopf. Roddy zuckte zurück. Er stand mit einem schwarzen Regenschirm in der Hand auf der Schwelle.

»Du hast mich erschreckt. Du siehst aus wie tot. Kommst du?«

»Wohin?«

»Zum Abendessen! Gott, du siehst gar nicht gut aus.« Roddy schüttelte den Kopf. »Komm. Ich warte auf dich.«

Andrew hatte sich so weit erholt, dass er hinter Roddy zum Speisesaal trotten und sich halb betäubt in der Schlange vor der Essensausgabe anstellen konnte. Als er durch die Tischreihen ging, nahm er die ersten Blicke und das Tuscheln hinter vorgehaltener Hand wahr. Manche Jungs starrten ihn an. Den jüngeren war die Neugier anzusehen; die etwas älteren beobachteten ihn verstohlen; die Jungs aus der Oberstufe waren verlegen, als wäre Andrew der Hinterbliebene. Andrew schloss sich zusammen mit Roddy den zugänglichsten Schülern Henry, Oliver und Rhys an. Die Unterhaltung brach ab, als sie sich an den Tisch setzten. Henry gestand: »Wir haben gerade über Theo gesprochen.«

Nach dem Abendessen schlich Andrew den anderen hinterher zum Haus und hörte unbeteiligt zu, wie sie abwechselnd versuchten, den Tod zu verarbeiten und sich mit belanglosen Plaudereien abzulenken.

In den folgenden Tagen hielt sich der Regen hartnäckig und gnadenlos wie ein lästiger Kopfschmerz. Der Hügel erinnerte nicht mehr an eine stolze Erhebung, den höchsten Punkt westlich des Urals, sondern eher an hochgezogene Schultern, die dem Regenguss und dem Wind trotzten. Überall sah man schwarze Schirme; dünnbeinige Jungs hielten sie fest, während sie Bücher balancierten und versuchten, die Hüte auf den Köpfen zu behalten; man hörte kein Gelächter mehr auf der High Street, sondern nur noch Husten. Die Temperaturen sanken, Kälte machte sich breit. Wie aus Solidarität mit ihrem toten Freund wurden die Jungs krank, husteten in den Nächten und steckten sich gegenseitig mit Fieber an. Die älteren murrten, als das Rugby-Training abgesagt wurde. Wir haben offenbar nichts anderes zu tun, als herumzusitzen und an Theo zu denken, maulte Roddy und sprach damit aus, was viele fühlten: gezwungen zur verdammten Trauer. Der Tag der Gedenkfeier für Theo – zelebriert von Father Peter in der Kapelle – war der düsterste von allen: Stahlgraue Wolken hingen tief am Himmel, und es goss in Strömen. Den vielen Rednern gelang es zeitweise, mit Charme und Rhetorik die Stimmung ein wenig aufzuhellen, was das Schluchzen der Kleineren wieder zunichtemachte. Draußen erwartete sie der unerbittliche Wolkenbruch, und sie waren auf dem Weg zum Speisesaal gezwungen, unwürdig über Pfützen zu hüpfen. Und im Lot hielt der Junge mit der affektiertesten Aussprache, ein Fünftklässler mit Namen Clegg-Bowra (dem, wie es hieß, Anteile an einem Formel-1-Team gehörten und der nichts, weder Sport noch Unterricht, ernst nahm), Hof und klatschte wie eine Waschfrau. Auf dieser Schule liegt ein Fluch, erklärte er näselnd. In der Geschichte von Harrow hat es noch nie derart geregnet wie zurzeit. Wenn das so weitergeht, wird es auch am Speech Day regnen, und wir hocken niesend und schniefend mit unseren Eltern zusammen. Die Leute werden krank. Theo Ryder war nur das erste Opfer. Ich persönlich finde, sie sollten die Schule schließen, fuhr er fort. Und was ist das für eine Kommunikation? Kein Mensch sagt uns, was Theo getötet hat. Es könnte ja auch ein Mord gewesen sein, und da draußen läuft ein Psychopath herum und liegt im Friedhof auf der Lauer, um noch weitere Harrowianer zu erwürgen. Sie hassen uns, die Kevins, sagte er. Kevins – das war ein in irischem Genuschel ausgesprochener Schulausdruck für die Ortsansässigen. Wegen der Kälte war die Heizung eingeschaltet, und die Rohre klickten und zischten. Niemand konnte die Feuchtigkeit aus den Schuhen vertreiben. Der Filzbelag des Billardtisches wellte sich.

Bisher hatte es keine offiziellen Erklärungen für Theos Tod gegeben. Am Schwarzen Brett im Lot hing nur eine knappe, vom stellvertretenden Hausvater Macrae unterschriebene Aufforderung, dass alle Schüler ihre Arbeit weitermachen sollten, während der Coroner die seine tat, und sich jeder, der mit einem Therapeuten sprechen wollte, an Mr. Macrae, Matron oder Father Peter wenden sollte. Es fiel auf, dass Piers Fawkes auf dieser Liste fehlte und sich sonst auch nicht blicken ließ; Matron deutete an, dass er damit beschäftigt war, mit Theos Familie, die in Südafrika lebte, dem Coroner und der Polizei Arrangements zu treffen. Macrae schien das Rampenlicht zu genießen, Andrew hatte den Eindruck, dass der Stellvertreter Fawkes’ Abwesenheit nutzte, um sich bei den Schülern einzuschmeicheln. Insbesondere bei den älteren, einflussreicheren – St. John, Vaz und ihrem Gefolge. Sie trafen sich, wie durch das Fenster der Stellvertreterwohnung beobachtet werden konnte, zum Tee und zu Männergesprächen in Macraes Küche. Einmal ging Andrew auf dem Weg zu Mr. Montagues Kurs an diesem Fenster vorbei, und alle Gesichter drehten sich zu ihm. Vaz, St. John und Macrae, der in seinem hochlehnigen schwarzen Stuhl einen selbstgefälligen Eindruck machte und gleichzeitig ein schlechtes Gewissen zu haben schien, als wäre er der Herzog, der den König vom Thron stürzen wollte. Für einen Moment herrschte knisternde Spannung. Andrew mutmaßte, dass sie über ihn geredet hatten. Er ging weiter und zog den Kopf wegen des Regens ein.

Er drückte sich vor Zusammenkünften jedweder Art, vermied den Gemeinschaftsraum und sehr oft auch den Speisesaal, aus Angst, das Getuschel könnte wieder anfangen: Da ist der Amerikaner, der Theo gefunden hat, oder Fragen würden auf ihn niederprasseln. Hast du gesehen, was ihn umgebracht hat? War da irgendwo Blut? Nach dem Unterricht ging Andrew schnurstracks in sein Zimmer, ließ sogar die Mahlzeiten ausfallen und ernährte sich von einer Handvoll Plätzchen, die Matron in einem Weidenkörbchen für die Jungs im Billardzimmer bereitstellte. Meistens saß er im Schneidersitz auf seinem Bett und verteilte Krümel auf der kratzigen Wolldecke. Ihm war bewusst, dass er mit jemandem über seine Beobachtungen reden sollte, so verrückt sie auch gewesen sein mochten. Vielleicht konnte die Information über eine skelettartige Gestalt, die Theo gewürgt hatte und dann verschwunden war, den Ermittlern weiterhelfen. Oder der Familie. Oder sonst jemandem. Andererseits wusste er genauso gut, dass er dann für geistig gestört oder ernsthaft verwirrt durch den Schock angesehen würde. Statt sich alles von der Seele zu reden und so zu dem allgemeinen Chaos beizutragen, zog er sich zurück. Er rief seine Eltern nicht an und checkte nicht seinen E-Mail-Account. Er stürzte sich in die Schularbeit und hielt sich vom Fernsehzimmer und von den Flurgesprächen fern. Die Kurse über Britannien zur Zeit der römischen Herrschaft wurden für ihn beinahe zu einer süchtig machenden Serie; er schrieb einen fünfseitigen Aufsatz über Camulodunum, die Festung des Kriegsgottes. Er las Chaucer für Mr. Montague und verbrachte Stunden damit, sich im Lesen von melodiösen mittelenglischen Texten mit Stabreimen zu üben. Von seinem Fenster aus betrachtete er den Regen, der auf den Hügel niederging.

Eines Abends saß er beim Essen Vaz gegenüber. Alle am Tisch schienen angespannt zu sein.

»Hallo«, grüßte Vaz nachdrücklich.

»Hey«, erwiderte Andrew.

Besteck klapperte auf Tellern, aber die Blicke aller huschten zwischen Andrew und Vaz hin und her. Es war, als hätte die Hausgemeinschaft Andrew etwas zu sagen und Vaz als inoffiziellen Sprecher auserkoren.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Vaz fast freundlich und ein wenig zu laut.

»Nicht wirklich«, antwortete Andrew.

»Es ist eine Tragödie«, stimmte Vaz zu.

»Das stimmt. Theo war ein klasse Typ.«

»Die Leute behaupten, er sei an Drogen gestorben«, erklärte Vaz. »An Drogen, die er von dir bekommen hat.«

Andrew drehte sich der Magen um. Er zwang sich zu schlucken. Alle am Tisch waren mucksmäuschenstill. »Wieso sollte jemand so etwas sagen?«, fragte er.

»Du wurdest in deiner alten Schule mit Drogen erwischt. In einer amerikanischen Uni wirst du so nicht angenommen, deshalb bist du hier.«

»Was?«, entgegnete Andrew schwach.

Vaz’ Augen wurden schmal. »Ich weiß, dass Theo niemals etwas genommen hätte.«

»Nicht in einer Million Jahren«, mischte sich St. John ein.

»Dann ist es entweder eine Lüge«, fuhr Vaz fort, »oder du hast sie ihm aufgezwungen.«

Der Bissen in Andrews Mund verwandelte sich in Pappe. Er schaute in die Runde. Oliver, Henry, Roddy, Nick, Leland – all die, deren Namen er mühsam gelernt hatte, schauten ihn an und warteten auf eine Reaktion.

»Ich habe nichts mit Drogen zu tun«, sagte er. »Das hatte ich nie. Ich hab’s nur ein paarmal ausprobiert. Ich verstehe nicht, wie ihr davon erfahren habt.«

Vaz musterte ihn kühl und selbstbewusst. Er wusste definitiv etwas. Andrew erinnerte sich an das Tableau: Vaz, Macrae, St. John. Die anderen. Macrae wusste wahrscheinlich über die Gründe für den Schulwechsel nach Harrow Bescheid. Andrew wurde ärgerlich.

»Wenn es keine Drogen waren«, feixte Vaz, »was ist dann da oben mit Theo passiert? Warum sagt niemand etwas?«

»Wenn er Drogen von mir bekommen hätte und daran gestorben wäre, meinst du, dann würde ich noch hier sitzen?«, erklärte Andrew, als er seine Sprache wiederfand.

Vaz zuckte ungerührt mit den Schultern. »Was war es dann? Du warst dort.«

Die Jungs beugten sich vor und ließen Andrew nicht aus den Augen.

Er öffnete den Mund. Das Bild des bleichen Gesichts blitzte in seinem Bewusstsein auf. Das röchelnde Bellen. Andrew wurde blass. Er schob wütend seinen Stuhl zurück  – Vaz’ ignorante, unnachgiebige Miene und die schwarzen Augen, die ihn belustigt betrachteten, demütigten ihn. Er stand auf und ging zitternd davon.

Psycho, hörte er jemanden flüstern.

Nie ist so etwas vorgekommen, bis er hier aufgetaucht ist.

Mach dir keine Gedanken, wir räumen hinter dir her, rief Vaz und schob angewidert Andrews Teller zur Seite.

Der Tisch im Speisesaal war nicht der einzige Ort, an dem in Ermangelung irgendwelcher Fakten und wegen des unheilvollen Regenwetters die Spekulationen gediehen. Es war Mord. Eine Überdosis. Ein von einer Drogenbande begangener Mord. Eine mysteriöse Krankheit.

Die Schüler sprachen am Telefon mit ihren Eltern über diese Gerüchte. Die Eltern riefen die Lehrer und Erzieher an. All das schürte die Empörung der Schüler und Lehrer, die nach wie vor im Dunkeln tappten und kaum noch einen anderen Gesprächsstoff hatten. Im Geschichtsunterricht: Sir, waren es Drogen? In Mathe: Sir, hält die Schule mit etwas hinter dem Berg? In Französisch: Sir, waren Kevins – Verzeihung, jemand von der lokalen Bevölkerung involviert? Die Lehrer gerieten ins Stottern; sie waren selbst nicht informiert. Die Prämisse hatte gelautet: Lasst die Familie in Ruhe trauern, und ehrt den Toten, indem ihr den Schulbetrieb weiterlaufen lasst – doch das funktionierte nicht. Jemand musste dem Rektor sagen, dass die Situation immer absurder wurde und sich niemand auf das Wesentliche konzentrieren konnte.

Am dritten Tag wurde eine Schulversammlung im Speech Room einberufen.

Speech Room – diese Worte wurden in Harrow mit besonderer Emphase ausgesprochen. Sie vermittelten Würde und Stolz. Der Speech Room auf der Hügelseite war das Herzstück der Schule. Hier wurden Theaterstücke aufgeführt und Versammlungen abgehalten. Im Sommer fanden die Veranstaltungen am Speech Day in diesem Saal statt: Bei dem alljährlichen Ereignis, das als eine Art Abschlussfeier galt, trugen die Schüler der letzten Klasse vorbereitete Reden, Gedichte und Monologe vor Kommilitonen, Eltern und bedeutenden Gästen vor. Während einer Andacht stellten die Schulabgänger ihre gewonnene Reife zur Schau.

Vor der Versammlung strömten die Jungs in Gruppen in den Speech Room. Andrew war allein. Als er sich einen Platz suchte, merkte er, dass es wieder still um ihn herum wurde, und spürte, dass ihn eisige, neugierige Blicke durchbohrten. Er wünschte, er hätte auf Roddy gewartet. Der Speech Room war kein Saal im eigentlichen Sinne, sondern ein mit fünfhundert eng stehenden Stühlen bestücktes Amphitheater. Treppen führten zu den Sitzreihen vor den Buntglasfenstern hinauf. Schlanke Säulen ragten zur kunstvoll vertäfelten Decke.

Im vorderen Teil befand sich die Bühne, und darauf stand ein Podest. An diesem trüben Tag betrat um elf Uhr morgens der Rektor Colin Jute in seiner schwarzen Robe das Podium und setzte sich auf einen der bereitgestellten Stühle. Kerzengerade Haltung, energisches Kinn, helles Haar mit grauen Schläfen, ein Blumenkohlohr (ein ehemaliger, erfolgreicher Rugby-Spieler) und Hängebacken. Neben ihm lümmelte Piers Fawkes mit übereinandergeschlagenen Beinen und von Schlafmangel gezeichnetem Gesicht. Neben Fawkes hatte ein schlanker Mann um die vierzig mit gewelltem braunem Haar und Schildpattbrille Platz genommen. Er war der Einzige auf dem Podium, der keinen Talar trug und im ganzen Saal durch seine helle Kleidung auffiel: hellgrünen Sportsakko mit passender Hose. Er hatte einen dicken Aktenordner in den Händen. Er war kein Detective  – dafür war er zu dünn und professionell. Ein Arzt? Der Mann drehte den Kopf wie ein Vogel, ohne seine Neugier zu verbergen: Er hatte etliche Hundert gewaschene und ungewaschene, muskulöse und schmächtige, hellhäutige und braune Jungs vor sich. Trotz ihrer einheitlichen Uniformen und der Herkunft aus ganz ähnlichen sozialen Schichten lauter unterschiedliche Typen, und sie konnten in der ungewohnten Stille kaum ruhig sitzen. In dem großen halbrunden Saal, in dem normalerweise Kichern und lautes Stimmengewirr widerhallten, war heute nur verhaltenes Husten, hin und wieder ein Flüstern und das Knarren der Stühle zu hören. Das Wispern verstummte abrupt. Andrew ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Ihm war schlecht. Er schloss die Augen und wartete auf die Worte. Theo Ryder wurde am Morgen des neunten September erwürgt … Hätte jemand seinen Angreifer gesehen, wären wir heute sicher, und wir könnten seinen Mörder der Gerechtigkeit zuführen …

Der Rektor hob das Kinn und begann die Tatsachen zu bestätigen: Theodore Ryder, Schüler der Abschlussklasse und Bewohner des Lot, starb am Morgen des neunten September. Ryder schien krank gewesen zu sein und an seiner Krankheit gestorben zu sein. Der Rechtsmediziner (der Rektor deutete auf den Mann im Sportsakko) hatte sich großzügigerweise bereit erklärt, vor dieser Versammlung zu sprechen; Dr. Sloane … (trotz der Trauer tuschelten die Schüler belustigt: Oh, klar. Dr. Sloane. Mrrrowww. Der Rechtsmediziner sah sich verwirrt um und hatte keine Ahnung, wieso sein Name solche Aufmerksamkeit erregte. Ihm war nicht klar, dass es für ein paar der feinen Pinkel so was wie Hochstapelei war, denselben Namen wie Londons eleganter Sloane Square zu tragen, ohne vom Sloane Square zu kommen)  … Dr. Sloane würde einen kurzen Bericht abgeben und den Jungs so Informationen aus erster Hand und die Gelegenheit bieten, Fragen zu stellen. Dies würde das erste und, wie der Rektor aufrichtig hoffte, letzte Mal sein, dass er gezwungen war, den Tod eines Schülers zu erörtern.

Theodore Ryder …, begann der Arzt. Er blinzelte hinter seinen dicken Brillengläsern, als würde er in grelles Scheinwerferlicht schauen. Durch seine nasale, klinische Ausdrucksweise wirkte er wie ein Nerd der Medizin.

Theodore Ryder starb an Sarkoidose in der Lunge, die, wenn sie unbehandelt bleibt, die Lungenfunktion behindert. Anfangs konnten wir uns nicht erklären, wie sich die Erkrankung so schnell verschlimmern konnte. Er schob die Brille höher auf die Nase. Nach Angaben der Familie hat Theodore in den Ferien keines der üblichen Symptome wie Abgeschlagenheit gezeigt. Sogar am Abend vor seinem Tod – der Rechtsmediziner prüfte seine Notizen – machte Theodore Ryder laut Aussage seines Zimmernachbarn einen vollkommen gesunden Eindruck. Andrew wurde rot  – zum Teil aus Ärger, zum Teil wegen der Erleichterung, dass weder Drogen noch Mord als Todesursache in Frage kamen. Allerdings hätte er viel darum gegeben, heute nicht erwähnt zu werden. Lasst mich einfach da raus, hatte er gefleht.

»Sir?«

Eine Hand hob sich, und elektrische Stromschläge zuckten über Andrews Rücken. Was will dieser Junge wissen? Geht es um mich? Der Doktor sah verwirrt in die Runde.

Der Rektor erhob sich. »Wir haben die Schüler ermutigt, Fragen zu stellen«, rief er Dr. Sloane ins Gedächtnis. »Danke, Mr. Clegg-Bowra. Bitte.«

Der Junge stand auf. »Sir, was hat Theo auf dem Church Hill gemacht?«

Piers Fawkes sprang auf, um dem Arzt ins Ohr zu flüstern: Das ist der Auffindeort. Oben auf dem Hügel.

»Ich bin Rechtsmediziner, kein Psychiater«, erwiderte Dr. Sloane mit einem öligen Lächeln, »deshalb kann ich Theodore Ryders Beweggründe, diesen Ort aufzusuchen, nicht benennen. Aber aus der medizinischen Perspektive  … vielleicht können wir ein Motiv finden. Der Zeitpunkt des Todes liegt zwischen sieben und neun Uhr morgens. Lassen Sie uns annehmen, dass Theodore Ryder auf seinem Weg zum Frühstück gestorben ist. Sein Lungenvolumen war durch die Granuloma und die geschwollenen Lymphgefäße stark beeinträchtigt, das Lungengewebe wurde starr und konnte sich nicht weiter ausdehnen. Er wurde kurzatmig und bekam einige Zeit später nur noch schwer Luft. Er hatte akute Schmerzen. Während seine Beschwerden belastender, dann lebensbedrohlich wurden, geriet er in Panik. Hätte sich so etwas in einer Klinik ereignet, wäre dies der Zeitpunkt gewesen, in dem die Ärzte Notfallmaßnahmen eingeleitet und ihm beispielsweise einen Tubus in die Luftröhre eingeführt hätten, um ihm das Atmen zu ermöglichen … aber Theodore befand sich nicht im Krankenhaus. Ich nehme an, er tat das, was ihm in dieser Situation als natürlich erschien – das ist, wie gesagt, eine Vermutung«, fügte er mit einem weiteren unpassenden Lächeln hinzu. »Er strebte zu einem höher gelegenen Ort mit offener, luftiger Umgebung. Mit mehr Sauerstoff.  – Den brauchte er nämlich dringend, weil er kurz vor dem Ersticken war.«

Colin Jute war während dieser ausführlichen, bedrückenden Erklärung unruhig geworden. Er hatte den Arzt eingeladen, damit er die Jungs mit medizinischen Erläuterungen beruhigte, nicht damit er ihnen noch mehr Angst machte. Ein anderer Schüler meldete sich. Jute stand auf und deutete auf ihn – er hoffte, dass der Junge eine medizinische Frage hatte.

»Demnach waren keine Drogen im Spiel?«, rief der rothaarige Junge.

»Wir haben Blutanalysen durchgeführt und nichts gefunden«, antwortete der Arzt näselnd. »Doch diese Frage sollte besser die Polizei beantworten …«

Der Rektor hatte genug von dem Rechtsmediziner und übernahm wieder das Podium. Die Polizei, schaltete er sich mit donnernder Stimme ein, habe gründliche Ermittlungen angestellt und keinerlei Anzeichen von Drogen oder einer kriminellen Tat festgestellt. Theodore Ryder sei eines natürlichen Todes gestorben. Sein Tonfall implizierte die Drohung : Und ich möchte keinen weiteren Unsinn hören, sonst … Diese Veranstaltung war nicht zu dem emotionsgeladenen Ereignis geworden, das er geplant hatte, und er war bereit, die Diskussion wieder auf Linie zu bringen.

»Weitere Fragen?«, rief der Rektor.

Es gab noch einige. Bestand Ansteckungsgefahr? Das fiel in den Fachbereich des Arztes. Nicht im mindesten … die Sarkoidose ist eine ziemlich mysteriöse Erkrankung, deren Ursachen und Entstehung wissenschaftlich noch nicht geklärt sind. Allerdings können wir eines mit Sicherheit sagen: Sie ist nicht übertragbar … und so weiter und so fort. Der Rektor schniefte. Nicht übertragbar – das war schon besser: autoritativ, beruhigend. Das würden die Jungs an ihre Eltern weitergeben.

Sollte der Leichnam auf dem Campus mit einer besonderen Trauerfeier bestattet werden?

Nein, die Eltern hatten eine Überführung nach Johannesburg veranlasst.

Fielen irgendwelche Schultage aus?

Das Ziel der Schulleitung war, den Alltag der Schüler nicht mehr als nötig zu stören.

Der Rektor entspannte sich. Jetzt lief es besser. Sie befanden sich auf der Zielgeraden. Er zählte die Minuten und wartete auf die Gelegenheit, die Versammlung zu beenden. Selbstbewusst wie ein Talkshowmoderator rief er die Jungs auf, die sich zu Wort meldeten, und genoss es beinahe. Bis er ein mageres Bürschchen ganz hinten zum Reden aufforderte.

»Das klingt nach Tuberkulose«, rief der Junge.

Das war keine Frage; das war eine Handgranate. Alle waren wie vom Donner gerührt. Der Rektor plusterte sich auf wie ein Ochsenfrosch. Das … du …, stammelte er.

Jetzt war es an dem Arzt, dem Rektor zu Hilfe zu kommen. Tuberkulose, erklärte er lässig, komme in England nur ausgesprochen selten vor. Im Clementine Churchill Hospital war seit Jahren kein einziger Fall mehr bekannt geworden. Die Krankheit war so gut wie ausgerottet …

»Aber Theo kam aus Afrika. In Afrika gibt es Millionen Tuberkulosefälle«, schoss der Junge zurück. »Ich war im letzten Sommer dort. Überall stehen Schilder, dass das Spucken auf den Boden verboten ist.«

Aufgeregtes Gemurmel wurde laut. Theodore Ryder hatte keine Tuberkulose. Ihr habt den Rechtsmediziner gehört. Vielen Dank, Mr. Ross-Collins. Dies war die letzte Frage. Der Rektor schubste den Doktor beinahe mit einem Hüftschwung vom Podium und wechselte zu unverfänglicheren Themen. Die Schule würde der Familie einen Kranz schicken und im Namen des Jungen eine Spende für einen wohltätigen Zweck veranlassen. Der Schulbetrieb sollte morgen wieder anlaufen. Mr. Moreton würde am nächsten Tag mit einer Gruppe das Musical Hairspray im West End besuchen. Ich danke euch allen. Ihr könnt gehen.

Als sie ins Freie kamen, ließ der Morgenhimmel die ersten dicken Tropfen des Tages wie Steine fallen und bombardierte die Hutkrempen der Schüler, die aus dem Speech Room strömten. Alle beschäftigten sich mit der eigenartigen Versammlung und insbesondere mit dem letzten provokanten Wortwechsel. Noch ehe die Vorhut der Horde fünfzig Meter weit gekommen war, prasselte der heftige Regen wie Artilleriefeuer auf den Hügel nieder. Die Jungen hielten ihre Hüte und Hefte über ihre Köpfe und sprinteten zu ihren jeweiligen Wohnhäusern. Andrew ließ sich Zeit und stellte sich in einem Hauseingang unter. Doch der Regen ließ nicht nach. Es goss wie aus Kübeln. Irgendwann lief Andrew los und kam vollkommen durchnässt im Lot an. In der Lobby standen die Jungs in Gruppen zusammen und debattierten über die Schulversammlung. Einige erhoben ihre Stimmen über den allgemeinen Pegel; manche sahen sich unsicher um, als rechneten sie damit, dass jemand mit Neuigkeiten durch die Tür stürmen könnte. Auch wenn es keiner aussprach, fühlten es alle: Niemand hatte eine solche Erklärung vom Rechtsmediziner erwartet. Lungenvolumen? Ersticken? Sie schauderten und wischten sich den Regen aus den Gesichtern.

Vaz hörte abrupt auf zu reden, als Andrew hereinkam, und die anderen folgten seinem Beispiel. Andrew blieb stehen, er spürte Vaz’ stechenden Blick. Im Grunde hätte Andrew Triumph empfinden sollen: Seht ihr? Ich hab euch doch gesagt, dass es nicht um Drogen ging und dass ich nichts damit zu tun habe! Doch das alles war nicht wichtig, wurde ihm jetzt klar. In Vaz’ Augen war er der Sündenbock. Ein windiger, verschlagener Drogendealer. Andrews Vergangenheit war ans Licht gekommen, und jetzt wurde er danach beurteilt. Er gehörte nicht nach Harrow, das sagte ihm der Blick aus den schwarzen Augen. Er war hier unerwünscht. Ein Eindringling.

Plötzlich starrten alle Anwesenden auf einen Punkt hinter Andrew.

Er drehte sich um und sah den unglücklich wirkenden Piers Fawkes in einem feuchten Trenchcoat; er führte zwei Erwachsene in die Lobby. Einen bärenhaften Mann mit faltigem, sonnenverbranntem Gesicht und schwarzem Regenmantel. Eine Frau mit sorgfältig gelocktem, aber feucht gewordenem und von der Sonne ausgebleichtem Haar. Die Züge im Gesicht der Frau kamen Andrew schmerzlich bekannt vor. Die gebogene Nase, die tiefliegenden Augen. Theos Augen.

Die Jungs tauschten Blicke, dann dämmerte es einem nach dem anderen: Beide Besucher waren schwarz gekleidet – schwarze Mäntel, schwarzer Anzug, schwarzes Kleid. Die Frau wirkte elegant, trug jedoch keinen Schmuck.

Kummer zeichnete ihre Gesichter. Tränen standen ihnen in den Augen. Wenn man sie so sah, gewann man den Eindruck, dass ihnen selbst der beste Witz oder die wildeste Geschichte kein Fünkchen Heiterkeit entlocken könnte – nicht einmal, wenn man sich wochenlang Mühe gäbe.

Und noch etwas anderes strahlten diese beiden Erwachsenen aus.

Verbitterung. Neid. Groll gegen die Lebenden. Offenbar waren sie nicht darauf gefasst gewesen, auf so viele Schüler zu treffen, und konnten die Empfindungen nicht unterdrücken. Durch die Adern dieser Jungs floss warmes Blut, während ihr Sohn in einer Kühlkammer in irgendeinem Londoner Leichenhaus lag.

Fawkes bedeutete dem Paar, ihm zur Treppe zu folgen. Sie wollten in Theos Zimmer, um seine Sachen abzuholen, zögerten jedoch ein wenig. Mr. und Mrs. Ryder waren wie gelähmt durch den Anblick all der uniformierten Kopien ihres Sohnes.

Rhys Davies brach den Bann. Er durchquerte das Foyer und streckte erst Mr. dann Mrs. Ryder die Hand entgegen.

»Theo war der Beste von uns«, sagte er.

Vom kleinsten bis zum größten Mitbewohner taten es alle – erst einer nach dem anderen, dann in kleinen Grüppchen – Rhys Davies gleich und schüttelten den Eltern die Hand. Manche kondolierten, andere übermittelten schweigend ihr Mitgefühl. Fawkes beobachtete das Geschehen erstaunt, aber zufrieden. Die Eltern lächelten, so gut es ihnen gelang. Sie schüttelten Hände, reagierten höflich und nickten. Der Vater war ein großer, braungebrannter Gorilla mit hellem Haar und vollen Lippen. Und zur Verwunderung aller war er es, nicht seine Frau, der zu schluchzen begann. Er war zu überwältigt und zu höflich, um einen der Jungen warten zu lassen, während er ein Taschentuch suchte, also drückte er weiter Hände und nickte, obwohl ihm Tränen über die Wangen liefen.

Einige Zeit später öffnete Matron keuchend wie immer Andrews Zimmertür.

»Ich hab dich gesucht«, sagte sie. »Das hier ist für dich abgegeben worden. Es kommt von Sir Alan Vines Tochter.«

Ihr griesgrämiger Tonfall verriet, dass sie sich ernsthaft fragte, was Andrew mit Sir Alan Vines Tochter zu schaffen hatte. Sie hielt ihm einen kleinen violetten Umschlag hin.

Andrew Taylor, stand in mädchenhafter Handschrift auf dem Kuvert.

Matron zog sich zurück, und Andrew riss den Umschlag auf.

Andrew,

hol mich morgen nach dem Mittagessen vom Headland ab, dann überraschen wir Piers mit seinem neuen Byron.

Persephone

PS: Lern, wenn möglich, ein bisschen Text, damit Du vorsprechen kannst.

PSS: Das mit Deinem Freund tut mir leid.

Unwillkürlich musste er lächeln  – genau das hatte ihm noch gefehlt. Mehr Drama.