8

The White Devil

Fawkes überquerte die Kiesauffahrt, kaute an einem Nagel und dachte an Gin und Schlaf. Wann würde er etwas davon bekommen?

Seine Hände zitterten. Er gähnte. Es war ihm kaum gelungen, während seiner Unterrichtsstunden wach zu bleiben. Die Jungs hatten ihn in ihrer unbekümmerten, arroganten und doch untrüglich scharfsinnigen Art aufgerüttelt: Sir, langweilen wir Sie? ( Jede respektlose Verunglimpfung wurde durch das Sir wiedergutgemacht, bemerkte er.) Er musste das Stück zu Ende schreiben, und wenn es so weiterging, würde er das niemals schaffen. Ihm fiel nichts ein, wenn er nicht geschlafen hatte. Dann saß er am frühen Abend mit leerem Kopf da und starrte auf das Papier  – keine Musik, kein antreibender Rhythmus, nur die Zuckungen eines öden Gehirns. Er hatte stundenlang wach gelegen und wieder an Theodore Ryder gedacht.

Ob er mehr hätte tun können. Ob er ihn in seinem Zimmer hätte aufsuchen sollen. Ob er nach der ersten Hausversammlung länger hätte bleiben müssen, statt sich davonzustehlen wie eine Kakerlake  – hätte er dann die Blässe im Gesicht des Jungen gesehen und gesagt: Ryder, ich denke, du solltest in die Krankenstation gehen …?

Er erinnerte sich an das große Elend der Familie. Die niedergeschlagenen Gesichter. Die Hoffnungslosigkeit. Das blonde Familienoberhaupt, das so großzügig war, zu äußern: Natürlich war es nicht Ihre Schuld. Dieses »natürlich« war ein Tiefschlag. Wenn Tommy Ryder nur wüsste, in welches Unglück seine Wortwahl Fawkes gestürzt hatte.

Und so griff er immer wieder zum Gin: nach dem Schreiben am Morgen, um sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen; um drei, um für den Vier-Uhr-Unterricht gewappnet zu sein; um halb sechs und danach, um sich zu betäuben und Schlaf zu finden.

Aber es wirkte nie. Er schlief nicht.

Jetzt knabberte er sich den Nagel so weit ab, bis Blut kam.

Er musste das Stück fertigbekommen.

Am Tag zuvor hatte er seine Verlegerin angerufen und ihr den Eindruck von Gesundheit und Zuversicht vermittelt. Er hatte sogar gegrinst und gehofft, sie könne sein Lächeln hören.

Tomasina, hier ist Piers Fawkes.

Piers Fawkes! Er merkte, dass sie mit anderem beschäftigt war, und ahnte, dass sie ihre Aufmerksamkeit weg von einer E-Mail aufs Telefon lenkte und im Geiste seine Datei öffnete. Ihr italienischer Akzent war deutlich, als sie eine passende Redewendung wählte, um ihn zu begrüßen. Das ist ein Ruf aus der Vergangenheit!

(Miststück. So lange war es auch nicht her.)

Er hatte ihr das ganze Byron-Projekt erläutert  – das Stück, seine eigene Geschichte über das Lehren in Harrow, und dass es ihm einen außerordentlichen Einblick in die Materie erlaubte. Und ein Theaterstück, sagte er mit dem erfolglosen Bemühen, die Verzweiflung aus seinem Tonfall zu verdammen. Ich denke, es wäre ein aufregendes Projekt für eine Veröffentlichung.

(Du übertreibst, ermahnte er sich. Seit wann nennst du Poesie »Projekte« … oder bezeichnest etwas anderes als den Gin als »aufregend«?)

Ein Drama, wissen Sie, ist etwas anderes, fuhr er fort. Eine Art Comeback. Wie Auden und Isherwood. Nur kein Isherwood.

Ich wusste nicht, dass Auden je ein Comeback brauchte, erwiderte sie sachlich.

(Doppeltes Miststück, verfluchte er sie.)

Sie legten auf, ohne dass er die Zusage erhielt, dass sie das Byron-Stück publizierte – sie versprach nicht einmal, dass sie es lesen würde. Sie hatte in der Art der Verlagsleute ihre Weigerung in Watte gepackt und ihn feinfühlig abgewimmelt. Und sie war feinfühlig. Für ihre Verhältnisse. Tomasina –  eine langbeinige, olivenhäutige Oxford-Absolventin, immer in einem schlichten Kleid, das ihre Beine zur Geltung brachte und fünfhundert Pfund kostete – saß hinter ihrem überladenen Schreibtisch; sie hatte einen reichen Ehemann, einen Privatbanker-Typ, der grüne Projekte unterstützte und Tomasinas schlecht dotierte Verleger-Karriere finanzierte. Sie war früher für Fawkes eine Rettungsleine gewesen. Sie hatte seine letzten beiden Gedichtsammlungen herausgebracht und ihn behandelt, als wäre er bedeutend, nachdem alle anderen das Interesse an ihm verloren hatten. Aber jetzt … sie hatte seinem Redeschwall mit halbem Ohr zugehört. Fawkes verdrängte die Panik. Er würde trinken und sich etwas einfallen lassen. Er würde das Stück zu Ende bringen und Tomasina zeigen, wie gut er war. Oder einen anderen Verleger finden. Was wusste sie schon von Poesie? Banausin.

»Hi.«

Er zuckte zusammen. Ein Junge stand auf seiner Veranda.

»Hallo, Andrew«, erwiderte er mit erzwungener Fröhlichkeit. »Wartest du auf mich?«

»Ja, Sir«, murmelte er.

»Erspar mir heute das ›Sir‹.« Fawkes seufzte.

»Tut mir leid, Sir. Ich meine – tut mir leid.«

Der Amerikaner umklammerte seine Schulbücher. Seine übliche Sicherheit war einer gewissen Nervosität gewichen.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Fawkes. »Du siehst so aus, wie ich mich fühle.«

»Ich würde gern drinnen mit Ihnen sprechen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

St. John Tooley stürmte durch das Tor an der High Street und führte eine Horde lärmender Jungs an. Sie verstummten, als sie Andrew und Fawkes zusammen sahen.

»Alles gut, Sir?«, rief St. John spöttisch.

»Ja, danke, St. John«, brummte Fawkes. Er schloss seine Tür auf, während Andrew und die anderen Lot-Schüler Blicke wechselten.

Fawkes hatte am Morgen vergessen, sein Zimmer aufzuräumen. Abgestandener Rauch, der durcheinandergewirbelt wurde, als er die Tür öffnete, hing in der Luft. Er zog die Jalousien hoch und öffnete die Fenster. Dann leerte er den vollen Aschenbecher in den Mülleimer und tauchte zwei Cocktailgläser in die Seifenlauge, die noch im Spülbecken stand.

»Wo drückt der Schuh, Andrew ?«, fragte Fawkes und warf seinem Besucher einen Seitenblick zu. Der Junge hielt immer noch die Bücher fest an sich gepresst; er nahm Platz, saß aber ganz aufrecht wie jemand, der auf die Fragen eines Prüfers wartete. Unsicher. »Bist du hier, weil du einen Rat wegen deiner Rolle hören willst? Wegen Byron?« Fawkes fand kein Küchentuch und wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »Es ist schwierig, eine Legende zu spielen, was?«, sagte er, als er wieder ins Wohnzimmer kam. »Genauso schwierig ist es, über eine zu schreiben. Du musst dir immer ins Gedächtnis rufen: Byron war ein eigenwilliges menschliches Wesen, das diese Schule besucht und in diesem Haus gewohnt hat, genau wie du. Du verstehst ihn so gut wie alle anderen. Vielleicht sogar besser.« Fawkes zündete sich eine Zigarette an und ließ sich Andrew gegenüber nieder. Er dozierte. »Was hat ihn motiviert? Vielleicht kannte er sich selbst nicht …«

»Mr. Fawkes«, fiel ihm Andrew ins Wort. »Ich möchte mit Ihnen über etwas anderes sprechen.« Fawkes gefiel Mr. Fawkes noch weniger als Sir. »Warum nennst du mich nicht Piers?«, bot er frostig an.

»Ich war nicht sicher, ob ich Sie aufsuchen sollte.« Andrew hielt den Blick gesenkt.

»Jetzt bist du da. Heraus damit.«

»Glauben Sie an Geister?«, fragte Andrew.

»Wie bitte. Ob ich …?«

»Es ist eine seltsame Frage, nicht?«

»Das kommt darauf an«, erwiderte Fawkes. »Warum willst du das wissen?«

»Ich, äh …« Er hielt inne. Sammelte sich. »Wenn ich Ihnen etwas erzähle, bleibt das dann unter uns? Oder sollten wir das Thema lieber … hypothetisch behandeln? So, als wäre es lediglich eine Möglichkeit. Und Sie können mir dann einen Rat geben?«

Fawkes steckte sich eine frische Zigarette an.

»Es wäre vernünftig und gutherzig, ja zu sagen und dich reden zu lassen, bis du sicher bist, dass du mir vertrauen kannst. Aber ich bin wirklich nicht klug genug, in Rätseln zu sprechen, Andrew. Du wirst gehen, und ich sitze dann noch nächste Woche hier und versuche, das Ganze zu entschlüsseln. Warum redest du nicht Klartext? Was ist los?«

Andrew sank in seinem Sessel zusammen, als versuchte er, sich vor sich selbst zu verstecken. In der kurzen Zeit, die er in dieser Schule zugebracht hatte, waren ihm viele schmähende Bezeichnungen für »homosexuell« zu Ohren gekommen, und die unglücklichen Jungs, die ihre Neigung gezeigt hatten (Hugh oder das dünne Mitglied der Gilde für das Klavierstipendium), mussten darunter leiden. Der Spott und das Miauen waren öffentlich und wurden sogar im Beisein der Lehrer im Speech Room abgefeuert wie Steine auf einem öffentlichen Platz. Diese Jungs waren schlichtweg schwul, hatten feminine Manierismen angenommen, den weichen Tonfall, die Gesten, die andeuteten: Ich spreche eine andere Sprache als ihr. Andrew hatte nicht den Eindruck, einer von ihnen zu sein. Andererseits empfand er auch keinen Stolz, zu den anderen zu gehören  – zu den breitschultrigen Rugby-Stars oder den Typen, die ihren Mangel an Feingefühl zur Schau stellten wie St. John und Vaz, die vermutlich der Inbegriff von Heteros waren. Gefangen zwischen beiden Lagern zu sein machte Andrew Angst.

Und an dieser Stelle vollzogen Andrews Gedanken eine Wende. Vielleicht ist diese Angst für jeden, der mit der Wahrheit über sich selbst konfrontiert wird, ganz natürlich. Vielleicht ist das Ablehnung. Wenn er sich bekennen und zur anderen Seite wechseln würde, könnte er vielleicht der Mensch sein, der er sein sollte.

Aber das fühlte sich einfach nicht richtig an. Andrews Körper hatte die Berührung des wilden, schmächtigen Jungen gespürt, aber sein Geist war verletzt. Ich bin jemand, der einem anderen erlaubt hat, Dinge mit ihm zu machen. Er war lediglich ein Empfänger (ungeachtet der Taktik des weißhaarigen Jungen); ein Gefäß; er gehörte nicht zum anderen Ufer.

Dann war da noch die blanke Furcht davor, sonderbar zu sein. Der Junge, der komische Dinge gesehen hatte. Geistesgestört. Oder so traumatisiert, dass er bleibende Schäden davongetragen hatte.

All das ging Andrew durch den Kopf, während Fawkes ihn ansah und die Augen wegen des Rauchs seiner Zigarette ein wenig zusammenkniff.

»Ich hatte so etwas wie Alpträume.« Andrews Mund war trocken.

Fawkes grunzte. »Ich leide selbst unter Schlafschwierigkeiten. Keine Ahnung, was daran schuld ist – ehrlich. Das Stück, der Beginn des Trimesters. Vielleicht geht es dir genauso?«

»Ah  …« Andrews Gesicht verzog sich, als versuchte die eine Hälfte, die Worte herauszupressen, die andere sie zurückzuhalten.

»Ist es Theo?« Andrews Ausdruck erhellte sich.

»Ja, das dachte ich.«

»Sie sind mit seiner Leiche mitgefahren, oder? Zur Pathologie?«, fragte Andrew.

»Wir sprechen hier über dich.«

»Ja, okay.« Andrew seufzte. »Nach letzter Nacht muss ich mit jemandem reden.«

»Was ist letzte Nacht vorgefallen?«

»Ich hatte diesen Traum.«

»Ah. Eine Art Alptraum. Kannst du das näher erläutern?«

»Ich habe Dinge gesehen. Wie in einem Traum. Aber einiges davon … war zu real. Mehr als real.«

Fawkes runzelte skeptisch die Stirn. »Und letzte Nacht?«, drängte er.

»Ich sah  … das ist nicht wahr«, korrigierte sich Andrew. »Ich fühlte … einen … einen Mord. Spürte, dass es passieren wird. Ich wachte schreiend auf, Rhys und Roddy kamen in mein Zimmer. Es war … ich fühlte …« Er gestikulierte. Es war da.

»Dass er bevorstand?«

Andrew nickte.

»Das ist … alarmierend«, befand Fawkes, ohne zu wissen, was er von der Geschichte halten sollte. »Ein Mord – im Lot?«

Andrew erklärte, dass er in einem Haus umhergegangen und überzeugt war, im Lot zu sein – im Lot aus der Vergangenheit. Er hatte einen weißhaarigen Jungen in einem Kellerraum gesehen. Er war in eine Szene geraten, in der ein Mord stattfinden sollte, davon war er vollkommen überzeugt. Der weißhaarige Junge hatte ihm den Mord gezeigt.

»Und dieser weißhaarige Junge ist – was? Eine Art Geist?«, fragte Fawkes.

Andrew zuckte mit den Schultern und nickte.

Fawkes dachte, weit davon entfernt, zufrieden zu sein, darüber nach. »Er zeigte dir etwas aus seinem Leben, nehme ich an«, mutmaßte er. »War er das Mordopfer oder der Mörder?«

»Der Mörder«, antwortete Andrew rasch. Dann schauderte er.

Fawkes beobachtete ihn genau. »Du scheinst dir ganz sicher zu sein.«

»Ja, Sir.«

»Warum?«

Andrews Augen flehten um Verständnis.

»Du hast ihn schon vorher gesehen?«, riet Fawkes.

Andrew nickte.

»Du machst mir ein bisschen Angst, Andrew. Wann hast du ihn gesehen? In Träumen oder in der Realität?«

»In der Realität.«

»Denselben Jungen?«

»Ja«, krächzte er.

»Und er schien … gewalttätig zu sein?«

»Ich habe beobachtet, wie er Theo tötete«, gestand Andrew schließlich.

Fawkes erstarrte, ihm blieb der Mund offen stehen. »Wie bitte? Du hast gesehen …«

»Auf dem Hügel. An jenem Morgen. Als ich ihn fand«, erklärte Andrew in einem Schwall. »Der weißhaarige Junge war da. Ich habe gesehen, wie er Theo erwürgte. Aber dort war er anders. Sein Gesicht war … na ja, eingefallen. Ich habe ihn gesehen, dann war er weg. Ich konnte der Polizei nichts davon sagen. Aber jetzt …«

»Erzähl weiter.«

»Ich fürchte, dass etwas passiert, wenn ich nicht mit jemandem darüber rede.«

»Noch etwas? Was zum Beispiel?«

»Ein anderer Mord.«

Die Asche an Fawkes’ Zigarette war sehr lang. Er drückte sie im Aschenbecher aus, der auf dem schmutzigen Couchtisch stand. Der Hauslehrer hatte plötzlich starken Durst. Er konnte an nichts anderes denken als an den Geschmack von klarem Schnaps. Mit Eis bekam er eine wunderbar träge Qualität, und wenn man die Lippen damit benetzte, schien einen die Kälte zu küssen …

Um die Vorstellung loszuwerden, stand Fawkes auf und ging hin und her.

»Die plausibelste Erklärung ist, dass du durch Theos Tod traumatisiert bist. Deine Psyche wird mit der Angst nicht fertig, deshalb erfindet dein Unterbewusstsein diese Figur  – diesen Jungen mit den weißen Haaren. Er wird zum Fokus deiner Angst.«

»Aber als ich ihn sah, wusste ich noch nicht, dass Theo tot war«, widersprach Andrew.

»Hm.« Fawkes hob ergeben die Hände. »Ich bin nicht gut in diesen Dingen. Wir sollten deine Eltern anrufen.«

Andrew erschrak. »Tun Sie das nicht.«

»Warum nicht?«

»Sie nehmen mich von der Schule.«

»Ah. Die sprichwörtlichen überfürsorglichen amerikanischen Eltern. Und du glaubst, sie haben kein Verständnis für die guten alten englischen Gespenster?«

»Sie würden nicht einmal versuchen, es zu verstehen. Sie würden mir Vorwürfe machen und mich nach Hause holen.«

»Weshalb?«

»In meiner alten Schule war ich nicht gerade ein Musterschüler.«

»Nein? Den Eindruck machst du eigentlich nicht.«

»Ich habe ein paar Fehlentscheidungen getroffen.«

»Mit siebzehn?«, sagte Fawkes. »Kaum vorstellbar.«

»Wenn ich diese Chance vermassle, werfen sie mich aus dem Haus.«

»Elterliche Rhetorik?«

»Diesmal nicht.«

»Was hast du angestellt?«, wollte Fawkes wissen.

»Ich hatte einige Probleme mit verbotenen Substanzen«, bekannte Andrew.

»Gut. Sie haben dich mit ein paar Joints erwischt und dich in diese vornehme Entziehungsklinik, die sich als Schule tarnt, geschickt. Und sie sagen: ›Noch ein Vergehen, und wir wollen nichts mehr mit dir zu tun haben.‹ Kein Besuch am Speech Day. Keine Abschlussreise nach Frankreich. Sie greifen aus Liebe hart durch.«

Andrew saß da wie ein Häuflein Elend. »Etwas in der Art.«

»Es scheint, du bist mein Problem.« Fawkes seufzte. »Ich denke, ich genehmige mir einen Drink.«

Er ging in die Küche, goss Gin über Eiswürfel und nahm einen Schluck. Er ließ dem Gin einen Moment Zeit, in den Blutkreislauf zu gelangen. Ihm war bewusst, dass diese Situation vollkommen falsch war – er trank um zwei Uhr nachmittags Gin im Beisein eines Schülers, der gerade gestanden hatte, ein Drogenproblem zu haben. Doch noch während er dies dachte, erreichten die ersten Alkoholdämpfe sein Gehirn. Ahh. Er konnte das überstehen. Er konnte durchhalten. Also los. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück.

»Glauben Sie mir?« Andrew sah ihn niedergeschlagen an und wartete auf ein Urteil.

Fawkes nahm noch einen Schluck und leckte sich die Lippen. Er überlegte einen Moment. »Ich denke, du glaubst an das, was du sagst.«

»Aber Sie sind sich nicht sicher?«

»Wie könnte ich das sein?«

»Ich wäre nicht imstande, das, was ich Ihnen gerade erzählt habe, zu erfinden«, protestierte Andrew.

»Ja, aber das ist kein Beweis.«

»Mein Geist zitiert Poesie.«

»Was, Edgar Allan Poe?«

»Nein … altmodische Sachen. Vielleicht ist das ein Beweis. Er benutzte Zitate, die ich noch nie gehört habe.«

Fawkes zündete sich erneut eine Zigarette an. »Schön, du hast meine Aufmerksamkeit – abgesehen davon, dass ich dir glauben muss, dass du diese Gedichte noch nie gehört oder gelesen hast. Das ist mein Fachbereich. Ich sollte in der Lage sein, diejenigen zu entlarven, die Leichtgläubige zu übervorteilen versuchen.« Er machte eine Pause. »Darf ich hoffen, dass du dich an eines dieser Zitate erinnerst?«

Andrew schwieg einen Augenblick. »The Wolf  … the wolf may prey the better. Diese Zeile mochte er.« Er zermarterte sich das Gehirn. »Und es ging um eine Hure. Und ums Spucken.«

»Wann war das? Dein Geist zitierte Gedichte während des Mordes?«

»Nein, davor. Im Keller. In dem Raum mit der Zisterne.«

»The wolf may prey the better. Und du hast das nie zuvor gehört? Könnte so was wie eine Autosuggestion sein.« Andrew schüttelte den Kopf. Fawkes dachte über das Zitat nach. »The wolf may prey the better. Nein, ich auch nicht. Oder vielleicht doch. Früher einmal.« Er sprang auf die Füße. »Die Technologie ist die Rettung.« Er ging zu seinem Schreibtisch und schaltete den Laptop an. Als er hochgefahren war, tippte Fawkes etwas ein. »The wolf may prey the better«, murmelte er. Dann starrte er auf den Monitor, drückte auf weitere Tasten.

Dann las er.

Er warf Andrew einen bedeutsamen Blick zu und drehte den Laptop so, dass Andrew nicht auf den Bildschirm schauen konnte.

»Ich werde Ihnen ein paar Fragen stellen, Mr. Taylor«, kündigte Fawkes an. »Und ich warne dich. Ich bin Dichter und habe großen Respekt vor der Wahrheit. Ich bin Apolls Repräsentant auf Erden. Hast du verstanden?«

»Ja, Sir. Ich meine, ja … Piers!«

»Wer ist John Webster?«

»Ah … Keine Ahnung. Geht er hier in die Schule?«

Fawkes lachte spöttisch. »Hast du in den Staaten jemals Shakespeare studiert?«

»Klar.«

»Welche Dramen?«

»Julius Caesar … Macbeth.«

»Sonst noch was?«

»Ich hab zweimal den Sommernachtstraum gesehen.«

»Hast du jemals etwas von Shakespeares Zeitgenossen gelesen? Thomas Kyd? Christopher Marlowe.«

»Von Marlowe hab ich schon mal was gehört.«

»Versuch’s ein bisschen später. Irgendetwas aus der Jacobinischen Zeit?«

Andrew runzelte die Stirn.

»John Webster?«, versuchte es Fawkes noch mal.

Andrew schüttelte den Kopf.

Fawkes drehte den Bildschirm, damit Andrew mitlesen konnte.

Andrew rückte näher und betrachtete die Seite von Google Books. Die Seite zeigte eine Schulausgabe eines Theaterstücks. In der Mitte der Seite stand gelb unterlegt

Vittoria The wolf may prey the better. Da war noch mehr Text, der anderen Charakteren mit italienisch klingenden Namen zugeschrieben war. »Das ist es!«, rief Andrew. »Genau das hat er gesagt.«

»Das«, erklärte Fawkes und drehte den Laptop wieder zu sich, »ist The White Devil von John Webster. Eine jacobinische Tragödie. Wenn ich’s genau bedenke, dann habe ich sogar einmal eine Aufführung dieses Stücks gesehen. Kostüme aus den neunzehnhundertzwanziger Jahren. Bist du sicher, dass du es noch nie gelesen und gesehen hast?«

»Absolut«, beteuerte Andrew aufgeregt. »Was ist The White Devil? Wer ist Webster?«

»John Webster ist eine Art Goth aus dem siebzehnten Jahrhundert. ›Jacobinisch‹, das bezieht sich auf die Regierungszeit von James dem Ersten, dem Nachfolger von Königin Elizabeth. Kurz nach der Zeit Shakespeares. Webster schrieb blutrünstige Stücke über grässliche Menschen. The White Devil handelt, soweit ich mich erinnere, von einer Duchess, die ihren Mann betrügt und dann zum Sündenbock für einen Haufen sehr niederträchtiger Kardinäle wird. Ein Kardinal in einem Webster-Stück ist in etwa so moralisch wie ein Mafioso. Am Schluss stirbt sie. Sie wird stranguliert, glaube ich. Seit Oxford hab ich mich nicht mehr damit befasst.«

»Er hat von einem Kardinal gesprochen.«

»Wer? Dein Geist?«, fragte Fawkes.

»Was hat das zu bedeuten?«

»Keine Ahnung«, erwiderte Fawkes ratlos.

Andrew drehte den Laptop wieder und überflog die Seite.

»Diese Zeilen hier … Bestow’st upon thy master … all das hat der Weißblonde nicht gesagt. Er zitierte etwas, aber«, fügte er geknickt hinzu, »der Rest passt nicht.«

»Du hast spuckende Huren erwähnt.«

»Spucken und Huren – getrennt voneinander.«

»Versuchen wir es mit ›spucken‹. Huren kommen in den Dramen dieser Zeit dauernd vor. Aber ›spucken‹ …«

Andrew wartete, während sich Fawkes durch die Seiten klickte.

»Warten Sie – was ist das?«, rief Andrew, als ihm etwas ins Auge sprang.

Fawkes hielt inne.

»Da – das ist es!« Andrew deutete auf den Text. »Murderess … whore … das ist die Stelle. Hier!«

Fawkes sprach den Text vor sich hin.

»For your names of ›whore‹ and ›murderess‹,

They proceed from you – as if a man spit

against the wind: the filth returns in his face.«

»Ich bin nicht verrückt!«, rief Andrew aus. »Stimmt’s? Ich meine, das Stück ist real. Dieser Text ist real.«

»Die Frage ist  …«, murmelte Fawkes und starrte auf den Monitor. »Nun, ich habe eine Menge Fragen.«

Andrew studierte die Zeilen. »Mir ist nicht klar, warum er diesen Teil hier übersprungen hat«, sagte er und zeigte auf die Stelle.

Fawkes überlegte einen Moment. Dann legte er den Finger selbst auf die Zeilen. »Dein Geist hat dies hier zitiert? Terrify Babes und The wolf may prey the better? Aber nicht den Part dazwischen?«

»Genau.«

»Bist du sicher?«

»Ja, wieso?«

»Dies ist der Text, den Vittoria spricht.«

»Wer ist sie?«

»Sie ist die liederliche Duchess, von der ich dir gerade erzählt habe.« Fawkes ging ein Licht auf, und er wandte sich Andrew zu. »Du verstehst, oder? Gerade du solltest es wissen, was das heißt.«

Andrew schüttelte den Kopf.

»Dein Geist hat geprobt.«

»Er war Schauspieler?«

»Schauspieler  … und wenn er ein Bewohner des Lot war, dann war er auch Harrow-Schüler.«

Andrew nickte.

»Dann muss er für eine Schulaufführung geprobt haben.« Fawkes lehnte sich zurück und knabberte an seinen Nägeln. »Genau wie du.«

Regen prasselte auf den gepflasterten Weg zur Vaughan Library, deren Fenster im Dunst leuchteten. Andrew hielt seinen Hut fest, um sich vor Regen und Wind zu schützen. Es dämmerte. Auf Fawkes’ Drängen ging Andrew zur Bibliothek, um mit jemandem zu sprechen, der hilfreich sein könnte. Und er hatte hinzugefügt: Lass dich nicht von ihr einschüchtern. Seit dem ersten Tag hatte Andrew keinen Fuß mehr in die Vaughan gesetzt. So viele Erinnerungen an diesen ersten Tag waren ausgeblendet, nachdem er Theo, kalt und steif, auf dem Hügel gefunden hatte. Die Bibliothek war eines der alten Harrow-Gebäude, die, wie er vermutete, als Postkartenmotiv und Hintergrund für Klassenfotos herhalten mussten.

Er stieß die schwere, geschnitzte Tür mit den großen Messingringen auf und betrat den langen Raum mit der hohen Decke. Ein Schüler saß am Informationspult und sortierte Bücher.

Andrew ging auf ihn zu. »Ich bin auf der Suche nach Judith Kahn«, sagte er. »Dr. Kahn.«

Der Junge riss die Augen auf und deutete wortlos an Andrew vorbei.

Andrew drehte sich um.

Judith Kahn stand hinter ihm. Dieselbe Dr. Kahn, die die Neulinge durch die Bibliothek geführt hatte. Ihr orangefarbener Haarschopf war mit grauen Fäden durchsetzt, der schwarze Hosenanzug wirkte wie ein Panzer. Ihr Blick war düster.

»Du bist spät dran«, stellte sie fest. Dann fegte sie ohne Vorwarnung an ihm vorbei. Der Saal war mit großen, tiefroten, blauen und elfenbeinfarbenen Steinplatten ausgelegt. Sie glichen den Feldern auf einem riesigen Schachbrett. Andrew trabte ihr hinterher.

»Mr. Fawkes hat mir nicht gesagt, dass er eine bestimmte Zeit mit Ihnen ausgemacht hat«, protestierte er.

»Ich bin nicht dafür verantwortlich, was dir Mr. Fawkes gesagt hat oder nicht. Wir hier haben einen geregelten Tagesablauf. Wir richten uns nicht nach den Launen der poetischen Inspiration.« Dies rief sie so laut, dass ihre Stimme von der Decke widerhallte; und obschon sich Andrew bewusst war, dass sie sich in ihrer Bibliothek befand, schreckte er bei dem Lärm zurück.

»Ich glaube nicht, dass er …«

»Verteidige ihn nicht. Piers Fawkes ist kindisch wie alle Künstler. Sie begeistern sich für nichts und erschaffen ihr eigenes kleines Nichts, wenn es sonst keines gibt. Das ist keine Charaktereigenschaft für Historiker, Akademiker und eigentlich alle erwachsenen Menschen, die etwas im wirklichen Leben erreichen wollen. Und das ist mein Fach: das wirkliche Leben. Ich bin Archivarin. Wissenschaftliche Bibliothekarin. Ich apportiere die Bücher nicht nur. Wenn Fawkes den literaturgeschichtlichen Spürhund spielen will, dann geht er mit der wichtigtuerischen Naivität eines Kindes, das sich mit den Schuhen des Vaters oder, besser noch, mit dem Hut und der Pfeife von Sherlock Holmes verkleidet hat. Er hat keine Ahnung, wie schwierig es ist, das zu finden, worum er gebeten hat. Und ich habe zu lange in dieser Bibliothek gearbeitet, um sofort aufzuspringen und Bücher zu wälzen, wenn Mr. Fawkes eine plötzliche Eingebung hat. Ich bin nicht das verdammte Google Books«, schrie sie, und ein halbes Dutzend Schüler hob die Köpfe. Als sie sahen, wer da an ihnen vorbeirauschte, steckten sie ihre Nasen wieder in die Bücher. »Dort hat er seinen Hinweis gefunden, hab ich recht?«

Andrew schwieg. Sie kamen zu einer mit Schnitzereien verzierten Tür am Ende des Lesesaals. Dr. Kahn nahm einen Schlüsselring aus der Tasche und schloss sie auf. Dahinter führte eine dunkle Treppe nach unten. Der Geruch nach Staub, Leim und Stille schlug ihnen entgegen.

»Wie spät ist es?«, wollte Dr. Kahn wissen.

»Halb acht«, antwortete Andrew erstaunt.

Sie streckte die Hand in die Dunkelheit. »Dreißig Minuten.« Er hörte das Klicken der Zeitschaltuhr, und Licht flammte auf. Gleich darauf ertönte das Ticken von Sekunden. »Licht schadet den Büchern«, erklärte sie. »Wir lassen es nur so lange brennen wie nötig. Rupert«, rief sie dem Jungen am Informationspult zu. »Ich bin in den Katakomben.«

Rupert drehte sich zu ihnen und legte die Finger an die Stirn, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, aber es wirkte eher wie ein Salut.

Andrew folgte Dr. Kahn die Treppe hinunter – eine erstaunlich moderne Stahltreppe, die durch die Erschütterung ihrer Schritte leise summte – und fand sich in einem langgestreckten Raum mit niedriger Decke und gelben Lampen wieder. Er war durch Regale unterteilt, in denen Bücher und in Plastik verpackte Dokumentenboxen standen.

»Hier links sind Briefe von OHs«, erläuterte Dr. Kahn im Vorbeigehen. Old Harrovians  – ehemalige Schüler, übersetzte Andrew für sich. »Eine ergiebige Abteilung. Winston Churchills Briefe an seinen Hausvater. Kurz nach Gallipoli. Sehr sentimental. Churchill hatte eine furchtbare Zeit in Harrow.« Sie tippte auf eine andere Box. »Hier ist die Handschrift von einem frühen Drama von Rattigan. Mit verschiedenen Schlüssen.« Sie schnaubte. »Die Launen großer Männer. In ihren Schulen weiß man, wie sie wirklich sind. Wir sehen die Entwicklung. Wie auch immer – das, was du suchst, ist dort hinten.«

Sie setzte ihren Weg zum rückwärtigen Teil des Raumes fort und machte vor einem Regal mit großen in Leder gebundenen Folianten halt. Andrew spähte auf die Titel. Sie waren alle gleich.

HARROW REGISTER

»Darf ich mal sehen?«

»Du darfst.«

Andrew hievte einen der dicken Bände auf einen Tisch und schlug ihn vorsichtig auf.

Rektor

Rev. Joseph Drury. D.D.

List of Harrow School, October 1800

(Von einer Liste aus dem Besitz von Miss Oxenham)

»Mr. Fawkes meinte, dass du an der Aufführung eines Theaterstücks interessiert bist«, sagte Dr. Kahn.

»Das stimmt.«

Andrew blätterte die Seiten um. Sie waren voller Einträge  – Namen, dann den Rubriken: Sohn von …, schulische Leistungen (Klassensprecher, Schulsprecher usw.), Universität und unausweichlich das Todesjahr. Einige hatten lange gelebt, andere nur kurz – all diese Einträge waren mit einem knappen Nachruf im Telegrammstil versehen. Andrew empfand unwillkürlich Ehrfurcht, weil er ein so altes Buch mit den Namen längst Verstorbener berührte. Die Geschichte und Tradition dieser Schule beeindruckten ihn. Die exzentrischen Begriffe, über die er vor seiner Ankunft in Harrow gelacht hatte – Shells, Removes –, wurden hier schon im Jahr 1800 benutzt. Genau wie die Hausnamen. Headmaster’s. Headland. The Lot.

TOWER, CHARLES (The Lot). Sohn von C. Tower Esq (oh). Weald Hall, Brentwood. Schulabgang 1802. Univ. Coll. Oxf, ba, 1805. Autor verschiedener religiöser Werke und einer tamilischen Grammatik. Gestorben am 25. Sept, 1825.

»Kannst du mir mehr über das Theaterstück sagen?«, unterbrach Dr. Kahn seine Schnüffeleien.

»Klar«, erwiderte er. »Es geht um The White Devil von John Webster.«

»Willst du mir verraten, warum du dich dafür interessierst?«

»Ich …«

»Ja?« Dr. Kahn ließ ihn nicht aus den Augen.

»Recherche«, erklärte er lahm.

»Natürlich. Und für deine Recherche  …«, sie betonte das Wort auf britische Art, als wollte sie ihn verbessern, »… möchtest du jeden Eintrag in all diesen Bänden lesen?«

»Ich …«

»Du wirst länger als dreißig Minuten brauchen.«

Andrew drehte sich um und betrachtete die lange Buchreihe. Sie umfasste ein ganzes Jahrhundert.

»Hat dich Mr. Fawkes auf meinen Titel hingewiesen?«, wollte sie wissen.

»Titel?« Andrew rang nach Worten. »Sind Sie eine Lady oder so was?«

Sie funkelte ihn böse an. Dann zuckten ihre Lippen, als müsste sie ein Lächeln unterdrücken.

»Das«, meinte sie, »ist wohl die ignoranteste Frage, die mir an diesem Ort jemals gestellt wurde. Und die Konkurrenz ist stark. Nein, ich bin keine Lady. Ich bin Doktor Judith Kahn.«

Andrew überlegte, ob er etwas dazu sagen oder lieber schweigen sollte.

»Ich bin bekannt als Dr. Kahn«, fuhr sie fort. »Ich bin Doktor der Philosophie. Ich habe auch in Geschichte promoviert. In Cambridge, falls das wichtig für dich ist.«

Andrew öffnete den Mund.

Sie hielt eine Hand hoch. »Sag nichts. Ich bin nicht sicher, ob ich das ertragen könnte«, wehrte sie ab. »So, lass mich dir helfen.« Sie wartete, dann wiederholte sie: »Ich sagte: Lass mich dir helfen

»Oh«, machte er hastig. »Ich hab kapiert. Könnten Sie mir bitte  … helfen? Bei der Suche nach The White Devil …«

»Von John Webster, ja, ja. 1804.«

»Es wurde 1804 aufgeführt?«

»Soweit ich weiß, war das die einzige Aufführung auf unserer Schulbühne.«

»Das … wissen Sie so einfach?«

»Ich habe nachgeschlagen. Das ist mein Job. Und du bist laut Mr. Fawkes nicht nur an dem Drama interessiert.«

»Nein. Ich suche nach jemandem, der mitgespielt haben könnte.«

»Ich hatte nicht die Zeit, auch das noch zu recherchieren, trotz der dringlichen Anfrage deines Hauslehrers. Männliche oder weibliche Rolle?«

»Weibliche«, stammelte Andrew. »Wie kommen Sie auf diese Frage?«

»In den meisten Stücken gibt es männliche und weibliche Rollen. Dazu muss man nicht hellsehen können. Aber wenn wir deinen Schüler ermitteln wollen, müssen wir wissen, in welchem Jahr er in diese Schule eingetreten ist – zumindest ungefähr. Und wenn er eine Frauenrolle gespielt hat …«

»Muss er noch ziemlich jung gewesen sein«, ergänzte Andrew. »Vor dem Stimmbruch.«

»Sehr gut.«

»1803?«, schätzte Andrew.

»Versuchen wir’s.« Und dann überraschte sie Andrew mit einem Lächeln.

Sie standen nebeneinander und überflogen Seite um Seite des Harrow Registers. Beim Blättern wirbelten sie Staub von jahrhundertealtem Papier auf. Es dauerte eine Weile, bis Dr. Kahn auf einen Eintrag zeigte. »Da, das ist unser Junge.«

HARNESS, JOHN (The Lot). Stipendiat. Northolt, Harrow.

Drama: The White Devil, Beggar’s Opera. Schulabgang: 1807. Gestorben im Juli 1809.

»Woher sollen wir wissen, dass er der Richtige ist?«, fragte Andrew.

»Im Register werden die Theaterstücke nur erwähnt, wenn der Schüler eine wichtige Rolle gespielt hat. Fawkes hat mir erzählt, dass dein Junge Hauptdarsteller war.«

Andrew warf einen Blick auf den Eintrag. »John Harness«, murmelte er und starrte auf den Namen. »Jetzt weiß ich, wie er heißt.«

»Und noch viel mehr«, warf Dr. Kahn ein.

»Was zum Beispiel?«

»Sag du es mir.« Sie trat einen Schritt zurück und betrachtete Andrew.

Andrew überflog den Eintrag noch einmal. »Ah  … Northolt, Harrow. Er stammte aus der Gegend.«

»Gut.«

»Er starb zwei Jahre nach seinem Schulabgang.« Er dachte an die weiße Haut und die eingesunkenen Augen. Konnte das das Gesicht eines Zwanzigjährigen gewesen sein?

»Du hast das wichtigste Wort übersehen und nicht gemerkt, dass zwei Worte fehlen.«

Andrew sah sie verwirrt an.

»Das wichtigste Wort ist Stipendiat. Das geht auf die Ursprünge der Schule zurück. Harrow wurde als Wohltätigkeitseinrichtung für die Erziehung der ortsansässigen armen Kinder gegründet. Bis die Lehrer die Entdeckung machten, dass es Geld einbringt, wenn sie Pensionatsschüler aufnehmen. Sie konnten für die Unterbringung und die Kost überhöhte Preise verlangen und ließen die Schüler im Dreck hausen. Den Gewinn steckten sie in ihre Taschen.«

»So etwas haben Lehrer gemacht?«

»Schockierend, oder?«

»Dreck«, wiederholte Andrew. »Und die Ratten rannten in den Schlafsälen herum.«

»Ja, so ungefähr. Die Internatsschüler wurden Foreigners genannt, weil ihre Familien nicht in der Gegend wohnten. Und sie kamen aus ganz England. Viele waren adelig. Alle reich. Sie subventionierten den Schulbetrieb. Du kannst dir vorstellen, wie sie die Stipendiaten behandelten.«

»Wie?«

Dr. Kahn senkte den Blick auf das Buch und berührte leicht die Stelle mit dem aufgedruckten Namen Harness, John. »Wie verdammten Abschaum. Sie nannten sie Stadtpöbel. Die Misshandlungen wurden derart schlimm …«

»Sie beschimpften sie als Schlampen und vergewaltigten sie«, platzte Andrew heraus, ohne vorher nachzudenken.

Schweigen.

»Das trifft es einigermaßen«, bestätigte Dr. Kahn; ihre Augen bohrten sich regelrecht in seine. »Ich wollte sagen: Die Misshandlungen wurden so schlimm, dass die Stipendien ungenutzt blieben. Niemand wollte sie annehmen. Mit einem Stipendium in die Schule einzutreten kam einem Todesurteil gleich. John Harness dürfte für einige Zeit einer der letzten Stipendiaten gewesen sein.«

Andrew erinnerte sich an die Szene, die er im Bad des Präfekten erlebt hatte.

»Und welche zwei Worte fehlen?«, fragte er nach einer langen Pause.

»Sieh dir die anderen Einträge an.«

Andrew gehorchte, dann rief er: »Sohn von …«

»Ab jetzt werde ich besser über die amerikanische Bildung denken. Ganz recht, ›Sohn von‹ fehlt. Wenn du der Sohn eines ortsansässigen Händlers bist oder schlimmer des Laternenanzünders oder des Mistkarrenfahrers, der die Pferdeäpfel aufsammelt, um sie an Leute zu verkaufen, die Dünger brauchen, dann interessiert sich kein Mensch dafür, wer dein Vater ist. Die Klassenunterschiede waren damals krasser als heute, wo einer bei Harrods, der andere im Oxfam-Laden einkauft. Damals war es eher wie in der Dritten Welt: Die Reichen bewohnten komfortable Häuser, hatten jede Menge Nahrung und Brennstoff. Die Armen drängten sich in winzigen Hütten, mehrere Familienmitglieder schliefen in einem Bett zusammen mit Wanzen und anderem Ungeziefer. Sie ernährten sich von Brot und Kohl und bemühten sich, alles zu strecken, damit es länger reichte. Sie hielten Schweine hinter dem Haus. Badeten selten. Trugen geflickte Kleider. Die Fenster wurden versiegelt, um die Wärme, aber auch den Gestank und den Riss im Haus zu halten. Das führt uns zu einem anderen Hinweis auf dieser Seite: 1809.« Sie beäugte Andrew. »Dein Mr. Harness ist seinem Schöpfer ziemlich früh gegenübergetreten. Unter diesen Umständen starben die Armen wie die Fliegen.«

»Sie erkennen viel an wenigen Worten, Dr. Kahn.«

»Mein Vater war der jüdische stellvertretende Buchhalter in Harrow. Er war von niemandem der Stellvertreter – er war der einzige Buchhalter. Aber er arbeitete dem Vorstand zu und war bescheiden. Deshalb diese Berufsbezeichnung.« In ihrem Ton schwang Verbitterung und Stolz mit. »Er sorgte für das finanzielle Überleben der Schule. Ehrlich und aufrichtig. Auf meine Art diene ich genauso dieser Einrichtung. Akkuratesse ist alles.«

»Das merke ich.«

Damit hatte er die Ungezwungenheit zu weit getrieben. Dr. Kahn überwand ihre Entrüstung und entschied sich, ihn in die Schranken zu weisen. »Mehr kann ich dir ohne weitere Informationen nicht helfen – ohne eine ordentliche Fragestellung. Ihr, Mr. Fawkes und du, habt mir nicht gerade viel an die Hand gegeben«, sagte sie streng.

Andrew wählte seine Worte mit Bedacht. »Wir sind noch dabei … eine Forschungsgrundlage zu entwickeln.«

Sie kreuzte unzufrieden die Arme. »Du hast mit Fawkes’ Stück zu tun, hat man mir erzählt.«

»Ja.«

»Und«, hakte sie ungeduldig nach, »hängt das hier damit zusammen?«

»Wieso sollte es?«

Sie riss die Augen auf. »Wieso sollte es? Das Drama handelt von Byron, oder nicht? Siehst du die Daten hier?«

Andrew spähte auf die Seite. »1807.«

»Byron hat sich 1804 immatrikuliert. Seine Zeit hier muss sich mit der von Harness überschnitten haben. Ich dachte, ihr zwei betreibt ernsthafte Nachforschungen. Ist das alles nur eine Laune?«

»Nein, Ma’am.«

»Worum geht es dann? Du wirkst in Fawkes’ Stück mit, ja?«

»Ja, Ma’am.«

»Wen spielst du?«

»Ich bin Byron«, antwortete Andrew.

In diesem Moment ertönte ein Klicken. Dr. Kahn blieb einen Moment stehen, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Zeitschaltuhr. Keine Angst, ich finde den Weg auch blind, sagte sie. Andrews Reaktion war hingegen ganz anders. Seit Stunden, seit seinem Besuch bei Fawkes, seit der Nacht zuvor, seit der schreckliche Lärm in seinen Ohren gedröhnt und er die Wucht und den Zorn drohender Gewalt zu spüren bekommen hatte und alles andere unfreiwillig über sich hatte ergehen lassen, hatte sich dieses Gefühl in seiner Brust festgesetzt, und es braucht nur dieses leise Klicken, um sich Bahn zu brechen. Er merkte, wie er im Dunkeln nach Dr. Kahns Arm fasste. Machen Sie das Licht an, machen Sie das Licht an, flüsterte er panisch. Schon gut, beruhigte sie ihn. Bleib hier. Er klammerte sich an den Tisch, um Halt zu finden, lauschte auf Dr. Kahns Schritte, bis die Metallstufen summten. Dann vernahm er das Klicken der Zeitschaltuhr und das stete Ticken. Dr. Kahn kam zurück.

»Du zitterst«, stellte sie fest. »Was ist los?«

»Entschuldigung.«

»Entschuldigung? Mehr hast du nicht zu bieten? Du bist weiß wie ein Geist.«

Bei diesem Wort zuckte Andrews Blick zu ihr  – zu schnell.

Das entging ihr nicht. Jetzt musterte sie ihn abschätzend. Andrew senkte den Kopf. Er hatte zu viel preisgegeben und schämte sich. Er musste sich zusammennehmen. Aber Adrenalin durchströmte ihn; seine Beine zitterten. Sie bekam alles mit, und ihre Augen wurden immer runder, der Mund immer schmaler.

»Mr. Taylor«, begann sie. »Gibt es etwas, was ich wissen sollte?«

Er hielt den Blick gesenkt.

»Es gibt eine Reihe von verdächtigen Elementen – jetzt erkenne ich das. Die plötzliche Eile. Die merkwürdige Anfrage. Statt ›Bitte, können Sie mir alles über die Schule zu Byrons Zeiten erzählen, was Sie wissen‹ zu sagen, fragst du nach einem nebulösen Detail: Wer hat die weibliche Hauptrolle in The White Devil gespielt? Und vielleicht kannst du mir erklären, woher du so viel über das Leben in Harrow vor zweihundert Jahren weißt?«

Andrew stieg die Hitze ins Gesicht. »Oh, ich hab einiges über die Schule gelernt«, redete er sich heraus.

»Und deine Quellen sind?«, hakte sie nach.

»Ah«, erwiderte er ausweichend. »Das sind einfach nur Dinge, die ich im Haus aufgeschnappt habe.« Das zumindest entsprach der Wahrheit.

»Mr. Taylor«, sagte sie wieder, »ich frage mich, ob ihr, Mr. Fawkes und du, vollkommen offen zu mir wart. Würdest du mir verraten, warum du gerade so reagiert hast?«

»Lieber nicht.«

Sie verschränkte die Arme. »Du bist hier, weil du meine Hilfe brauchst. Wenn du sie willst, musst du mir die Wahrheit sagen.« Sie schaute auf ihre Uhr. »Und die Bibliothek schließt in fünfundzwanzig Minuten, also schlage ich vor, dass du sofort loslegst.«