14
Londoner Liebelei
»Halt!«
James Honey saß auf einem der kleinen Holzstühle in der ersten Reihe im Speech Room, hatte eine dicke Wolldecke über die Knie gelegt und hielt das Skript auf dem Schoß. Er folgte dem Text mit der Spitze eines Stifts und starrte Andrew über seine Lesebrille hinweg an. »Ich verstehe kein Wort, Andrew«, stöhnte er. »Nicht ein einziges.«
Der Inspizient flüsterte etwas in Honeys Ohr.
»Einen Moment, bitte«, rief der Regisseur.
Rebecca stellte sich auf der Bühne an Andrews Seite. »Hast du deine Kussszene mit Persephone schon geprobt?« Sie trug wieder einen kurzen Rock, glänzenden rosa Lippenstift und ein Samttop, das an die Gefolgsmänner von Robin Hood erinnerte. Ihr Tonfall war zweideutig und triefte vor Gift.
»Du meinst, die aus dem Stück?«
»Oh, gibt es bei euch noch andere Kussszenen?«
Andrew öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Er wurde knallrot.
Rebecca grinste. »Ich kann nur eines sagen: Sei vorsichtig. Wenn Sir Alan dahinterkommt, gibt es Mord und Totschlag. Du weißt, dass ein römisches Schwert über seinem Kamin hängt?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Komisch«, plapperte Rebecca weiter. »Ich dachte, sie ist noch mit Simon zusammen.«
Andrew drehte sich zu ihr – zu schnell. Er sah, wie sich wieder ein Lächeln auf Rebeccas Gesicht schlich.
»Sie war so lange mit ihm zusammen.« Rebecca ließ nicht locker.
»Ja?«, sagte er mit erzwungenem Gleichmut.
»O ja. Sie war verrückt nach ihm.«
Andrews Herz wurde schwer.
»Sie haben eine Menge durchgemacht. Vielleicht ist ihre Beziehung letztendlich daran zerbrochen.«
Er konnte das nicht länger ertragen. »Was soll das heißen, sie haben eine Menge durchgemacht …«
»Gut, es geht weiter«, schrie Honey. »Noch mal von Anfang an.«
»Lass dich von dem, was ich gesagt habe, nicht ablenken«, wisperte Rebecca.
»Sag mir nur, was du gemeint hast …«
»Sobald ihr fertig seid«, herrschte Honey sie an.
Andrew leierte seinen Text ohne jedes Gefühl herunter. Honey unterbrach immer wieder, um ihn zu korrigieren, irgendwann sprang der Regisseur auf die Bühne und ahmte Andrews schlaffe Haltung nach. Rebecca bedachte ihren Schauspielerkollegen mit einem Augenaufschlag und einem mitfühlenden Lächeln. Am Ende umarmte sie ihn. Gib dir das nächste Mal mehr Mühe, sagte sie und hüllte ihn in eine Duftwolke.
Als Andrew wenig später nach einer mentalen Reise durch das Land Eifersucht die U-Bahnstation erreichte, war er verschwitzt und erschöpft. Persephone hatte ihn getäuscht. Die ganze Zeit war sie mit einem aalglatten, reichen, großgewachsenen, weltgewandten englischen Aristokraten liiert gewesen; bestimmt blond, mit kräftigem Kinn; sportlich und mit einem eigenen Auto. Andrew hingegen hatte sie im Verborgenen gehalten. Ein Seitensprung, während Simon – Simon, Simon, natürlich war er ein Simon – das tat, was ein Simon eben so tut. Ausgrabungen in Ägypten. Oder ein Wirtschaftsstudium in Singapur. Andrew ließ die Ereignisse der letzten Tage noch einmal vor seinem geistigen Auge entstehen und verwünschte alle: die Vorbereitungen auf das Wochenende – die Erlaubnis von Fawkes; Andrews Ausrede von einem Treffen mit einigen Mitgliedern der Theatergruppe (er wollte Fawkes keinen reinen Wein einschenken): seine Lüge, dass Sir Alan den Ausflug genehmigt hätte; und die unaufhörlichen Tagträume –, alles für die Katz. Für weniger als nichts, denn dadurch ist seine Schmach nur noch größer geworden.
Als sie in einem Kleid, das höchstens die Hälfte der Schenkel bedeckte und in den Matisse-Farben Blutrot und Urwaldgrün gemustert war, auf ihn zukam, blieb ihm das Herz stehen – bloße Beine, Sonnenbrille in den wilden schwarzen Locken. Er zwang sich, cool zu bleiben. Neben ihr musste er aussehen wie ein grober Klotz in seinen Khakis, dem karierten Oxford-Hemd und Turnschuhen. Gut. Es schadete nicht, wenn sie enttäuscht war. Sollte sie sehen, wie schlecht sie zusammenpassten, wenn sie keine Schuluniform anhatten. Sie war stylish, europäisch, hochkarätig, er nur ein Niemand aus der amerikanischen Mittelschicht. Vielleicht bereute sie diese Verabredung so sehr wie er.
»Hallo«, grüßte sie fröhlich, ehe sie seine finstere Miene sah. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete er kurz angebunden. »Lass uns gehen.«
»Wieso benimmst du dich so eigenartig?«
»Eigenartig?«
»Du bist komisch.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich hab dir eine krasse SMS geschickt, und jetzt hältst du mich für eine Nutte. Ist es das?«
»Nein. Du bist spät dran.«
»Ich habe mich zurechtgemacht.« Sie stellte sich in Positur. »Und du solltest jetzt eigentlich sagen, dass es der Mühe wert war.«
»Komm.« Er drehte sich um, stieg die schmuddelige Treppe hinauf und schob seine Kreditkarte in den Ticketautomaten.
Sie saßen schweigend auf den durchgesessenen, fleckigen dunkelroten Sitzen der Metropolitan Line und fuhren durch alle Gerüche der Vorstädte. Persephone schob die Sonnenbrille auf die Nase und funkelte Andrew an. Er schaute aus dem Fenster, betrachtete die weiten grünen Felder eines kleineren College, auf denen Taubenschwärme hockten – oder waren es Möwen? –, dann die Wohnsiedlungen – Häuser aus den graubraunen Ziegeln, die für englische Reihenhäuser so typisch waren; schließlich die Industrieparks, die rostigen Zugwaggons und ein Depot für ausrangierte Postautos. An der Haltestelle Finchley Road stand Persephone wortlos auf, stieg aus und lief die Treppe hinauf. Andrew folgte ihr einen steilen Hügel hinauf. Eine belebte Einkaufsstraße mündete in ein Wohngebiet mit gewundenen Einfahrten und villenartigen Häusern in gepflegten, mit Mauern oder Rhododendronhecken umgebenen Gärten. Persephone stürmte wütend weiter – mittlerweile hatte sie die Sonnenbrille auf die Nase geschoben – und zwang ihn, Distanz zu ihr zu halten. Schließlich erreichten sie ein Plateau, und ein paar Läden und Pubs kamen in Sicht. Vor einem dieser Pubs blieb Persephone stehen.
»Wenn wir schon nicht miteinander sprechen, können wir uns auch besaufen«, sagte sie.
Die Bartheke war mit gehämmertem Kupfer überzogen. Rauch und der Geruch nach gebratenem Fleisch und Kartoffeln hingen in der Luft. Andrew war am Verhungern, hatte jedoch nur eine Fünfpfundnote und zwei Pfund in Münzen in der Tasche, und auf der Menü-Tafel stand nichts unter neun Pfund. Er rechnete sich aus, wie viel Bier er sich leisten konnte. Sandwichs in Dosen, nannte ein amerikanischer Freund das flüssige Nahrungsmittel.
Sie bestellten zwei Lager, prosteten sich nicht zu, sondern tranken einfach.
»Hier bist du also aufgewachsen«, stellte Andrew fest.
Sie ignorierte ihn. Sie hatten Streit. Ohne einen erkennbaren Anlass. Persephone war nicht in der Stimmung, Erinnerungen auszutauschen. »Wie war die Probe?«, fragte sie angespannt.
Andrew schaute sie an. Sollte er etwas sagen, sie fragen? Er wusste, dass er nie darüber hinwegkommen würde, wenn er schwieg. Und er wollte es hinter sich lassen. Das Kleid bedeckte sie kaum.
»Wer ist Simon?«, fragte er.
Ihr verschlug es für einen Moment die Sprache. Dann verzog sie das Gesicht. »Rebecca. Ich wusste es.«
»Was ist mit ihr?«, ruderte Andrew rasch zurück.
»Ich hab meinen Vater belogen, um dieses Wochenende möglich zu machen, weißt du? Meiner Mutter hab ich auch Lügen aufgetischt, damit ich das Haus nutzen darf. Ich hab ihr erzählt, Kathy, Lizzie und Louise – Freundinnen aus dem North London Collegiate, würden mich besuchen, weil wir uns lange nicht gesehen hätten und viel Spaß haben könnten. Und sie wusste, dass das Blödsinn ist. Immer wieder sagte sie: Du warst nie besonders dicke mit diesen Mädchen befreundet. Und sie hat recht.« Sie sah ihn an. »Ich bin ein Risiko eingegangen. Nur damit du –«, sie spie das Wort regelrecht aus, »– dich wieder auf ihre Seite stellst. Warum hast du nichts gesagt, bevor wir in die Bahn gestiegen sind? Ich hätte dich dort stehen lassen sollen.«
Andrew sagte nichts dazu. Er wusste, dass er das gemeinsame Wochenende und alles, was damit einhergehen könnte, verdarb. Andererseits hatte er keine Ahnung, was er sonst tun sollte.
»Gut, wenn du mir eine Frage stellen willst, dann bitte.« Persephone bebte vor Wut.
»Das habe ich gerade getan. Wer ist Simon?«
»Simon war mein Freund«, antwortete sie.
»War?«
Andrew sah verwirrt zu, wie sie ein halbes Pint Bier auf einen Zug trank. Sollte er es dabei belassen? Aber nein, das genügte ihm nicht.
»Rebecca«, sagte er, »schien zu denken, dass ihr noch zusammen seid.«
»Rebecca ist ein Miststück.«
Die anderen Gäste drehten, halb amüsiert, halb verwundert, die Köpfe zu ihr. Einige gaben gemurmelte Kommentare ab.
»Hat die Beziehung zu Simon lange gedauert?«
»Hör auf damit, Andrew!«
»Was meinst du, wie ich mich fühle?«, gab er zurück. »Ich dachte, wir wären … keine Ahnung … zusammen.« Er schnaubte. »Und dann höre ich das …«
»Diese Verleumdung? Das blöde Geschwätz? Den Klatsch? Diese boshafte Scheiße aus dem Mund einer dämlichen Schlampe?« Jetzt verrenkten sich alle die Hälse. Die Gespräche in der Bar verstummten. »Und du zerrst mich den ganzen Weg hierher, um mir das vorzuwerfen? Wenn ich vorhabe, dich mit nach Hause zu nehmen?«
»Ich will doch nur wissen, ob …«
»Ob ich ein Flittchen bin«, beendete sie den Satz für ihn. »Daran musst du immer denken, wie? Und ich habe eine Überraschung für dich vorbereitet. Wusstest du das? Reine Zeitverschwendung.«
Sie kippte das restliche Bier hinunter, knallte das leere Glas auf den Tisch und marschierte hinaus.
Andrew sank in sich zusammen.
Die Tischnachbarn beäugten ihn interessiert. Er versuchte zu entscheiden, ob er in London bleiben und sein Geld versaufen oder klug sein und nach Harrow zurückfahren sollte.
Er trank sein Bier aus und ging hinaus.
Im umzäunten Vorgarten des Pubs standen ein paar von Werbeschirmen geschützte Picknicktische.
Persephone saß mit dem Rücken zu Andrew an einem dieser Tische.
Er zögerte und hätte sich beinahe aus dem Staub gemacht. Doch das wäre gefühllos. Sie war da. Sie wartete. Es war ein Friedensangebot. Nimm es an. Vorsichtig trat er näher. Blieb einen Schritt schräg hinter ihr stehen, gerade so, dass sie ihn aus den Augenwinkeln sehen konnte. Sie sagte nichts. Also nahm er neben ihr Platz. Immer noch keine Reaktion. Er zündete eine Zigarette an und hielt sie ihr hin. Nach einer Weile fasste ihre schlanke, weiße Hand danach, als erwache sie aus tiefen Gedanken. Sie paffte und schüttete das prächtige Haar aus ihrem Gesicht. Die Sonnenbrille überschattete ihre Augen.
»Es ist etwas sehr Befriedigendes an dem Wort Miststück.«
»Es ist ein tolles Wort.«
»Das stimmt.« Nach einem Moment fügte sie hinzu: »Möchtest du mir nicht noch einen Drink spendieren?«
Er sprang förmlich auf. Versöhnung. Hoffnung. Er kam mit zwei Pints und einer Kreditkartenquittung auf das Konto seines Vaters zurück. Zum Teufel mit Dad. Die Sonne blinzelte durch eine kleine Wolkenlücke am verhangenen Himmel.
»Was willst du über Simon wissen?«, fragte Persephone, als sich Andrew setzte. »Bringen wir’s hinter uns.«
Andrews Kehle wurde eng. »Liebst du ihn noch?«
»Ich hasse ihn.«
»Warum?«
»Offen gesagt – darüber möchte ich nicht sprechen. Ich könnte Rebecca umbringen.« Dann setzte sie hinzu: »Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«
»Wie lange ist es her, seit du …«
»Seit ich ihn das letzte Mal gesehen habe? Monate.«
Sie haben eine Menge durchgemacht, hatte Rebecca gesagt.
Frag nicht, du Idiot! Sie spricht wieder mit dir. Du hast deine Antwort.
Er beschloss, noch mal von vorn anzufangen.
»Das ist ein hübsches Kleid«, sagte er.
Ihr rosiger, voller Mund verzog sich zu einem Lächeln, und sie schob die Sonnenbrille in ihre Locken.
»Danke, Andrew. Wie nett von dir, dass du gekommen bist.«
»Abwarten.«
Andrew verlegte sich darauf, sich nach ihr und ihrer Familie zu erkundigen. »Das macht man bei einem Date, oder nicht?«
Persephone, angetrieben durch Adrenalin, antwortete mit einer gehörigen Portion Selbstironie. Woher hatte ihr Vater den Titel! War er ein Ritter? Ein Lord?
So ungefähr. Er ist ein Baronet. Das ist ein Scheißtitel, ehrlich. Irgendein Vine aus dem siebzehnten Jahrhundert hat ihn vom König gekauft, und der hat das Geld eingesetzt, um Iren zu töten. Das sagt meine Mutter immer und bringt meinen Dad damit auf die Palme.
Und was war mit ihren Eltern? Hatten sie sich scheiden lassen?
Ihre Mutter verbrachte jedes Jahr sechs Monate in Griechenland. Sie waren altmodisch und blieben verheiratet, obwohl sie sich hassten. Sie streiten um mich. Es ist wie ein Wettbewerb. Und ich bin der einzige Schiedsrichter in diesem endlosen Kampf. Sie sind die USA und China, bestechen mich, schmeicheln mir, geben an, nur um den anderen auszustechen. Sie hatten seit vielen Jahren keinen Sex. Wohin geht all die Lust? Sie müssen doch so etwas empfinden. Sie gehören zur Spezies Mensch …
Andrew war beschwipst von dem Bier – von seinem zweiten Pint war nur noch ein Schluck übrig, und er hatte immer noch nichts gegessen. Zudem wusste er nach wie vor nicht, ob er je eine Antwort auf seine wichtigste Frage bekommen würde. Doch dann kam sie.
Alles dreht sich um mich, schloss sie mit schleppender Stimme – auch sie war betrunken, und ihr Ton war aggressiv, als wollte sie sagen: Hey, du willst dir meine Scheiße anhören? Du willst wissen, wie wertlos und schäbig ich bin? Er wünschte fast, er würde es nicht hören, denn er sah ihr an, wie schmerzlich die Vergangenheit für sie war, gleichzeitig war er fasziniert (möglicherweise ist mein Gepäck verglichen mit ihrem gar nicht so schwer). Telefonanrufe, Dinner und Geschenke, als würden mir beide den Hof machen. Und ich versuche, beide bei Laune zu halten, damit keiner verrückt vor Eifersucht wird. Sie passen genau auf, wie viel Aufmerksamkeit der andere bekommt. Falls einer das Gefühl hat, es ist zu viel, droht er mir, mich für immer nach Athen oder nach Harrow mitzunehmen. Und irgendwann fing ich an, mich aus dem Haus zu schleichen. Nur um … alldem zu entkommen. Damals begann ich, mit Simon auszugehen. Die schlimmen Jahre. Ich war fünfzehn und meine Eltern lebten noch in einem Haus zusammen. (»Ausgehen« – war das ein Euphemismus? Mit fünfzehn?, fragte sich Andrew. Mit fünfzehn hatte er seine vorläufige Fahrerlaubnis ohne Führerscheinprüfung erhalten, einen Adamsapfel bekommen, sich linkisch benommen und gerade sein Interesse für weibliche Brüste entdeckt.) Sie nannte mich boulaiki, fuhr Persephone fort. Boulaikimou. Mein kleines Vögelchen. Sehr süß. Es bedeutet aber auch, meine kleine Pussy.
Andrew hustete.
Ich hatte die Nase richtig voll, erzählte Persephone. Und, findest du mich jetzt schrecklich?
Natürlich nicht, beteuerte er. Du bist schockiert, gab sie zurück. Nein, sagte er, obwohl er es war. Doch er stritt es um seiner selbst willen ab. Hier unter dem schweren Londoner Himmel in dem diffusen Licht war Persephone in ihrem kurzen Kleid das schmutzigste und liebenswerteste Mädchen, das er je kennengelernt hatte. Wollen wir gehen?, fragte er.
Sie küssten sich in der Eingangshalle. Wegen des Alkohols auf leeren Magen wurde ihm schwindlig, sobald er die Augen schloss. Sie gingen ins Wohnzimmer. Pinkfarbene Möbel, silberner Krimskrams, weiße Wände, Dekorationen wie in einem Strandhaus. Sie küssten sich auf der Couch und rutschten auf den Boden. Andrew löste ihren Gürtel und streifte ihr das Wickelkleid von den Schultern, dann öffnete er den BH. Er leckte ihre Brüste und zog an ihrem Höschen. Darauf hatten sie gewartet. Seit Wochen. Das Verlangen hatte sich angestaut. Lass es uns tun, drängte ihn eine innere Stimme. Bier bestimmte sein Handeln, dennoch tat er genau das Richtige. Er zog sie aus, hielt sich zurück, stimulierte ihre Geschlechtsorgane …
»Aua«, sagte sie. »Warte.«
Sie richtete sich auf und half ihm, ihr Höschen herunterzuziehen. Ihre Beine waren weiß, glatt und wohlgeformt; erstaunlich, registrierte sein Gehirn, und da ist sie, die boulaiki, braun und zwanglos bei helllichtem Tag. Plötzlich wurde er unsicher. Es war, als würde er eine berühmte Person, seinen Helden treffen, ohne darauf vorbereitet zu sein. Hey, warte, ich bin nicht bereit, deiner nicht würdig. Schweiß lief ihm über den unteren Rücken. Angst. Das war nicht gut. Gar nicht gut. Er berührte sie. Sie war okay. Fast feucht genug. Er rieb. Aber das alles dauerte zu lang. Die innere Stimme quälte ihn. Leg los. Er versuchte, in sie zu dringen. Aber es ging nicht. Sie nahm ihn in die Hand, doch das war noch schlimmer – jetzt merkte sie, dass er nicht richtig hart war. Mit einem Mal brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Ihm war heiß, er stand unter Druck. Er zog sich zurück.
»Nicht wirklich. Ich hab zu viel getrunken.«
Sie lehnten nebeneinander am Sofa. Auf einmal war ihre Nacktheit ganz normal – zu normal. Sie hatte Speckröllchen am Bauch, er eingewachsene Haare am Schenkel. Es war, als wären sie an der richtigen Ausfahrt auf dem Highway vorbeigerast und jetzt unterwegs zu – zu was? Vielleicht zu einem reizlosen Nichts. Zwei nackte Körper, die sich gegenseitig langweilten. Andrew hatte dieses Haus nie zuvor betreten, und jetzt saß er schon nach zwanzig Minuten splitternackt und verzweifelt im Wohnzimmer auf dem Boden. Er legte den Kopf zurück und stöhnte.
»Willst du, dass ich mich auf dich setze?«, fragte sie.
»Ich möchte nur ein Glas Wasser.«
»Ich habe dir Angst gemacht mit alldem …!«
»Nein, nein«, widersprach er. »Kann ich etwas Wasser haben?«
»Wenn du dich dann besser fühlst«, erwiderte sie, ohne Anstalten zu machen, ihm ein Glas zu holen. »Ich kann keinen Orgasmus haben.«
»Du kannst nicht?«
»Ich kann nicht. Ich bekomme keinen.« Sie beobachtete seinen Gesichtsausdruck, um sich zu vergewissern, dass sie nicht zu weit gegangen war und ihn komplett verschreckt hatte.
»Im Ernst?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Wir sind vielleicht ein Pärchen«, sagte er.
Um ihn aufzuheitern, führte Persephone ihren Gast in einen cooleren Stadtbezirk mit lässigen Lederjackentypen und in eine Boutique, wo sie ihm – mit Sir Alans Kreditkarte diesmal – gut sitzende Jeans, ein Vintage-Hemd und eine Jacke kaufte; dann zog sie ihn in einen Friseursalon. Wieso muss ich mir die Haare schneiden lassen?, protestierte er. Die Friseurin, Charlie, hatte platinblondes Haar und unzählige Ohrringe.
»Es wird Zeit, den Led-Zeppelin-Look loszuwerden«, sagte Persephone zu Charlie. Nach einer halben Stunde schaute Andrew in den Spiegel.
»Jetzt sehe ich aus wie ein Chorknabe«, erklärte er.
Zu seiner Überraschung hüpfte Persephone auf den Stuhl neben ihm. »Ich will genau dieselbe Frisur.« Er sah zu, wie sich ihre Locken mit seinen Strähnen auf dem Boden mischten, bevor ein Lehrling mit Dreadlocks kam und sie wegfegte.
»Zeit für deine Überraschung«, verkündete Persephone, als sie den Salon verließen.
»Hast du deshalb diese SMS geschrieben?«, wollte er wissen. Persephone hatte eifrig in ihr Handy getippt, während er den neuen Haarschnitt verpasst bekommen hatte. »Vielleicht«, antwortete sie geheimnisvoll.
Sie führte ihn einen gewundenen Weg entlang durch ein dunkel werdendes Geschäftsviertel, in dem es eine Reihe von orientalischen Restaurants mit Wasserpfeifen in den Fenstern und Neonbeleuchtung gab. Männer saßen zu zweit zusammen und rauchten. Persephone ging voran in eines dieser Lokale, steuerte die Hocker an der Bar an, von wo aus man einen direkten Blick in die Küche hatte, und forderte Andrew auf, dem besten Hühnchenmetzger von London zuzusehen. Sie beobachteten, wie er mehrere Dutzend Vögel zerlegte, die Flügel mit einem einzigen Hieb abhackte. Seine Hände glänzten, nachdem er die Innereien aus den Hühnchen geholt hatte. Sie bestellten verschiedene Vorspeisen. Andrew schob sich das Essen in den Mund. Dicke scharfe Sauce, teigige Tahini, warmes Pita – es fühlte sich an, als wäre dies die erste Mahlzeit seit Monaten. Sein Schädel summte, und ihm lief die Nase von den scharfen Gewürzen.
Eine Stimme hinter ihnen ertönte. »Persephone?«
Eine üppige Rothaarige mit Sommersprossen in schwarzem Cocktailkleid umarmte Persephone, die sie als Agatha vorstellte. Agatha umarmte auch Andrew und küsste ihn auf beide Wangen. Dann sah sie von ihm zu Persephone, verzog das Gesicht und johlte: Ihr seid nicht Freund und Freundin, ihr seid Zwillinge! Persephone strahlte. Agathas Begleiter stand hinter ihr – ein großgewachsener Inder in dunklem Anzug – Vivek. Er hatte eine Plastiktüte in der Hand. Agatha sei, erklärte Persephone, im ersten Jahr in Cambridge und ihre beste Freundin seit Kindertagen. Sie hatten ihre Sommerferien gemeinsam in Griechenland verbracht. (Mittlerweile beeindruckten Andrew diese Anspielungen auf ein privilegiertes Leben nicht mehr; Persephone und ihre Welt berauschten ihn nur noch ein bisschen mehr.) Die Neuankömmlinge zogen sich Hocker heran. Vivek entdeckte sofort den Metzger und schaute ihm bewundernd zu; Agatha musterte Andrew und wechselte bedeutungsvolle Blicke mit Persephone – die beste Freundin, die viel von ihm gehört hatte und vor Neugier starb. (Andrew war froh, dass er seine neuen Klamotten anbehalten hatte; die Khakis lagen zusammengefaltet in einer Einkaufstüte zu seinen Füßen.) Normalerweise wäre es für Andrew bedrohlich, wenn ein unbekanntes Pärchen bei einer Verabredung mit einem Mädchen auftauchte, doch die Nahrungszufuhr und das Londoner Treiben hatten ihn in Hochstimmung versetzt.
Vivek bat den stämmigen Mann hinter der Bar um vier Plastikbecher. »Ich bin dran, wenn sie mich erwischen«, sagte er zu Andrew. »Achtzig Peitschenhiebe. Sie sind Moslems, falls dir das noch nicht aufgefallen ist.« Vivek fasste in die Plastiktüte und öffnete geschickt und fast geräuschlos eine gekühlte Champagnerflasche.
Vivek goss den goldenen, spritzigen Champagner in die Plastikbecher, und die vier prosteten sich zu. Der Barmann funkelte sie böse an, schritt aber nicht ein.
»Also«, begann Vivek, »die Mädchen haben mir erzählt, dass du den Lot-Geist siehst.«
Andrew wandte sich an Persephone. Ihre katzenhaften Augen glitzerten – sie war stolz, dass sie ihre Überraschung bis jetzt geheim gehalten hatte. Andrew hingegen verdarb die Erinnerung daran, was ihn in Harrow erwartete, die Laune.
»Du warst in Harrow ?«, fragte Andrew.
Vivek nickte. »Ich hab im Lot gewohnt und ihn auch gesehen.«
»Ist das dein Ernst?« Andrew richtete sich auf.
»Im zweiten Jahr ließen sich meine Eltern scheiden«, erklärte Vivek. »Mein Bruder – er war in der fünften Klasse – und ich kamen nicht gut miteinander aus. Die anderen haben mir das Leben schwergemacht. Ich fühlte mich elend und allein, und alles war doppelt schlimm, weil ich gar niemanden hatte.« Er erzählte das mit einer Art sachlicher Unbekümmertheit. Andrew bemerkte, dass Vivek ein maßgeschneidertes Jackett aus vielfädiger Seide trug, und fragte sich, wie der Hintergrund dieses indischen Gentleman sein mochte, dessen Leben so mannigfaltig und reich war, dass er Familientragödien auf bloße Anekdoten reduzieren konnte, während er Champagner in einem nordafrikanischen Hühnchenrestaurant schlürfte. »Mein Zufluchtsort war das Bad. Aha! Ich sehe dir an, dass ich auf der richtigen Spur bin.«
Agatha und Persephone schauten von einem jungen Mann zum anderen und erfreuten sich an diesem Mysterium.
Vivek füllte ihre Becher auf und fuhr fort: »Damals war ich noch dünner als heute, musste aber im Rugby-Team des Lot mitspielen. Einmal ging ich vom Spielfeld, nachdem ich fast zerquetscht worden war. Ich war wütend und lief ins Lot. Du verstehst – zur Hölle mit diesen Engländern und ihrem blöden Spiel. Ich hatte vor, gegen eine Regel zu verstoßen und mir ein heißes Bad im Badezimmer des Präfekten zu gönnen.« Er lächelte und zog die Augenbrauen hoch, um zu betonen, was für ein Tabu das war. »Ich ließ Wasser in die Wanne. Dampf stieg auf. Ich konnte es kaum erwarten, meine schmerzenden Glieder einzutauchen. Aber als ich das Handtuch, das ich um die Hüften geschlungen hatte, abnahm, sah ich ein Gesicht im Wasser.«
Die Mädchen erschauderten theatralisch.
»Ich machte einen Satz zurück, als hätte ich einen Stromschlag abbekommen«, sagte Vivek lachend. »Es war einfach da. Es war nicht richtig im Wasser, sondern an der Oberfläche, als wäre die Badewanne ein Fenster, und die Augen sahen mich direkt an. Ich rannte nackt in mein Zimmer. Ich hatte schreckliche Angst.«
»Wie hat das Gesicht ausgesehen?«, wollte Andrew wissen.
Vivek wollte antworten, besann sich aber eines anderen. »Nein, das solltest du mir sagen. Und bevor du anfängst, gib mir ein Stück Papier.« Persephone reichte ihm einen Kassenzettel und einen Stift. Vivek begann auf die Rückseite zu kritzeln und schirmte sein Werk mit der Hand ab. Dann faltete er den Zettel zusammen und steckte ihn in die Tasche. »Ich habe gerade gemalt, was ich gesehen habe. Und jetzt erzähl, was du gesehen hast.«
»Er hat weißes Haar«, begann Andrew – seine Stimme klang selbst in den eigenen Ohren plötzlich dünn. »Eingefallene Wangen. Tiefliegende blaue Augen. Ein fleckiges Gesicht – so was wie einen Ausschlag.«
Vivek runzelte die Stirn.
»Das ist unheimlich, Mann.« Er nickte ernst. »Derselbe Kerl. Ich erinnere mich nicht an den Ausschlag oder die Wangen. Aber das weiße Haar – definitiv.« Er legte die Quittung auf den Tresen.
Die anderen drei drängten sich zusammen, um seine Zeichnung zu sehen. Es war ein längliches Gesicht mit angedeutetem weißem Haar, und Vivek hatte mit mehreren Strichen deutlich gemacht, wie tief die Augen in den Höhlen lagen, als hätte sich ihm dieses Detail besonders eingeprägt.
Andrew schluckte. Er hörte die Kommentare der Mädchen, aber er konnte den Blick nicht von der Zeichnung wenden.
»Bist du in Ordnung, Mann?«, fragte Vivek leise.
»Ja«, brachte er heraus.
Vivek tätschelte ihm mitfühlend die Schulter.
Kurz danach verließen sie das Lokal. Agatha und Vivek waren zu einer Party eingeladen.
»Keine Angst«, rief Vivek über die Schulter, als Agatha ihn zu einem Taxistand am Ende des Blocks zerrte. »Der Geist hat noch nie jemandem ein Leid angetan. Das weiß ich!« Er grinste und winkte.
Persephone führte ihn ins obere Stockwerk. Das Haus war warm, stickig, steril; ihr Zimmer, das jetzt als Gästezimmer diente, wirkte unpersönlich. Sie standen vor dem großen Spiegel und betrachteten sich – symmetrische Spiegelbilder verschiedenen Geschlechts mit langen weißen Hälsen und dunklen Locken.
Andrew legte den Finger an ihren Hals. Persephone seufzte. Andrew schälte sie aus ihrem bunten Wickelkleid. Ihre Haut war klamm, klebrig und zart. Sie ließen sich aufs Bett fallen. Sie legte sich auf den Rücken und half ihm, in sie zu dringen. Der einzige Laut in dem stillen Haus war ihr Keuchen. Erst später, im Halbschlaf, fiel ihm etwas ein, und er setzte sich auf. Hast du …? Obwohl er die Antwort kannte oder zumindest glaubte, sie zu kennen. Persephone fand in der Dunkelheit seine Hand und drückte sie an ihre Brust.