4
Ein Stück über eine Raupe
Dieser verdamme Jute.
Piers Fawkes stürmte in seine Wohnung und brachte Wind, Regen und Ulmenblätter mit sich. Seine Hände zitterten vor Wut und Alkoholsucht.
Er erduldete diese Scheiße – genau das traf es: erdulden.
Immerhin war er es gewesen, der im Ambulanzwagen zur Gerichtsmedizin mitgefahren war und die Trage mit dem Leichensack, der sich in den Kurven gegen seine Knie drückte, festgehalten hatte. Er hatte den Leichnam in den Keller des Hospitals begleitet (und war anschließend hinausgestürmt und eine halbe Meile bis zu einem Vorstadthotel gelaufen, das zum Glück auch ein Pub hatte, in dem er mit zwei Pints die Bilder von den rostfreien Stahltischen hinunterspülen konnte – der Seziersaal glich einer überdimensionalen Küche, und alles war darauf angelegt, Flüssigkeiten ablaufen zu lassen). Nach der Obduktion hatte er den Totenschein unterschrieben. Die Anforderungen an einen Hausvater, den alleinigen Vertreter der Eltern, hatten sich plötzlich von denen eines Erziehers von sechzig Jungs zu denen eines Faktotums des Todes verwandelt. Gott, was für ein Alptraum.
Und nach all dem besaß der Rektor die Frechheit, ihn nur wegen dieser dämlichen Schulversammlung zusammenzustauchen. Massiv. Eine ganze Stunde lang. Er hatte alles an ihm ausgelassen.
War es wirklich Fawkes’ Idee gewesen, den Rechtsmediziner einzuladen? Er erinnerte sich ehrlich nicht mehr. (Sollen sie es sich selbst anhören. Hatte er das gesagt oder Jute?) Aber Jute hatte ihm die Schuld in die Schuhe geschoben. Die Jungs respektieren Autorität, hatte Jute getobt, sie respektieren Entschiedenheit. (Und wie soll ich dich respektieren, dachte Fawkes verbittert, wenn du mir diese Scheiße vorwirfst, obwohl du weißt, dass ich diesen Job brauche und mich nicht zur Wehr setzen kann? Was für eine Art Führungspersönlichkeit bist du?) Sie wollen, fuhr Jute fort (mit einem Mal Experte für die Bedürfnisse der Schüler), ihre kindischen Spiele so weit treiben. Aber sie brauchen jemanden, der ihnen ihre Grenzen zeigt. Sie (er hatte tatsächlich mit dem Finger auf ihn gezeigt) sind distanziert, nicht engagiert. Sie werden nicht respektiert. Sie sind der falsche Mann in einer Krise, und Gott weiß – Jute kam endlich zum Punkt, zum letzten Dolchstoß –, dass ein geeigneterer Mann dies von vornherein verhindert hätte. Fawkes ballte die Fäuste und grollte: Ich denke, die Diskussion ist beendet, ehe er knurrend und schnappend wie ein verwundeter Hund aus dem Zimmer in das grässliche Wetter rannte, bis er die trüb leuchtenden Laternen des Lot erreichte.
Fawkes riss sich den verknitterten Talar herunter und warf ihn auf einen Stuhl. Dann suchte er auf seinem Schreibtisch nach einer Zigarette. Er würde die Brocken hinschmeißen, ja genau. Mal sehen, ob sie seinen Posten so kurzfristig besetzen konnten. Und er würde sicherstellen, dass seine Kündigung öffentlich bekannt wurde. Er war als Schriftsteller so weit gekommen, dass sich bestimmt ein Journalist für sein Schicksal interessierte. Whitestone-Gewinner kündigt. Das gefiel ihm. Er steckte sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Das Nikotin belebte sein Gehirn und machte einige nüchterne und wahrscheinlich zutreffende Gedanken möglich: Diese Tagträume waren kindisch; und die Kündigung wäre genau das, was Jute wollte.
Fawkes wusste, dass er nicht die erste Wahl für die Stelle als Hausvater des Lot gewesen war. Zuerst hatte man ihm nur den Posten eines Englischlehrers angeboten. Doch dann hatte ihm der Auftrag für das Byron-Stück zu einem bescheidenen Prestige verholfen. Schließlich hatte sich der Topkandidat für die Stelle des Hausvaters zurückgezogen, weil seine Frau an Brustkrebs erkrankt war; und ein externer Bewerber wurde den Anforderungen nicht gerecht; zwei andere stellvertretende Hausväter erschienen zu jung. Die Sommerferien neigten sich dem Ende zu, als jemand Fawkes vorschlug. Er hatte das passende Alter, suchte ohnehin eine Wohnung in der Nähe und besaß ein gewisses Charisma. Fawkes hatte sich nie als Erzieher gesehen, aber mit diesem Posten wäre sein Lebensunterhalt gesichert; zudem versprach man ihm, dass ihm Matron und sein Stellvertreter Arnold Macrae die schwersten Lasten abnehmen würden; er hätte immer noch Zeit zum Schreiben. Er wurde umworben, gebauchpinselt, überredet – offen gesagt, es war lange her, seit er eine solche Aufmerksamkeit genossen hatte. Niemand hatte im Wirbel der Schmeicheleien, die jeden Anstellungsprozess – insbesondere einen in letzter Minute – begleiteten, zur Kenntnis genommen, dass Fawkes nie für mehr als das Verfassen von hundert Zeilen Poesie täglich verantwortlich gewesen war. Er hatte nie einen anständigen Job oder ein festes Gehalt gehabt. Er war kurz nach einer Eheschließung geschieden worden und hatte demzufolge nie selbst für Kinder gesorgt; und er war ein Trinker.
Fawkes hatte versucht, sich seiner neuen Rolle anzupassen. Allerdings erfasste ihn lähmende Panik, als er mit den ermüdenden und, wie ihm bald klar wurde, unablässigen Pflichten konfrontiert wurde. E-Mails – Hunderte davon – überfluteten täglich seinen Schul-Account. Eltern schrieben ihm wegen einer schlechten Note, weil ihr Sprössling Schnupfen hatte, um anzufragen, wann die Renovierung der Squashhalle abgeschlossen war und ihr Sohn wieder trainieren konnte, wegen einer Knieverletzung beim Football oder Schikanen und Zänkereien unter Schülern und so weiter und so fort. Wie sich herausstellte, waren die Jungs alle Amateurbrandstifter, Hacker, Pornographen. Fawkes war gezwungen, um Mitternacht durchs Haus zu laufen, Computer herunterzufahren und Streiche zu verhindern. Sein Plan, um fünf Uhr mit dem Schreiben anzufangen, war ernsthaft gefährdet. Er begann, mehr und mehr seiner Aufgaben an Macrae zu delegieren. Er nutzte die Auftragsarbeit an dem Byron-Stück als Vorwand, mehr zu schreiben und weniger den Hausvater zu spielen. Dennoch hatte es ihn verletzt, als ein jüngerer Kollege, der ihm naiv seine eigenen Ängste eingestand, damit herausplatzte, dass Fawkes unbeliebt war. Von Matron gehasst, von Macrae verachtet wurde. Die anderen Hausväter, die ihre Pflichten ernst nahmen, sahen ihn als Säufer, als Tunichtgut an, und ihre Antipathie wurde von der (falschen) Annahme geschürt, dass Fawkes wegen des Schreibauftrags vom Schulvorstand (den im Hintergrund bleibenden superreichen Aristokraten, die die Finanzen der Schule regelten) unkündbar sei. Dabei hatte Fawkes große Lust, seinen Entwurf den Flammen zu übergeben, und er hatte niemandem auch nur eine Zeile zu lesen gegeben, obwohl er Monate in Verzug war. Soweit es die großartige Harrow-Schule betraf, war Fawkes eitel, schlampig, unqualifiziert und desinteressiert. Ein Fehlgriff, dem jetzt der Tod eines Schützlings zu schaffen machte.
Pech? Oder mangelnde Fürsorge? Fawkes argwöhnte, dass Tatsachen nicht zählten. Er musste den Kopf dafür hinhalten. Vielleicht nicht vor der Öffentlichkeit – dafür war Jute zu gerissen, denn damit würde er eingestehen, dass die Schule Fehler gemacht hatte –, aber intern würde man ihn verleumden und verhöhnen. Anfeinden.
Fawkes drückte verärgert seine Zigarette aus. Er würde gehen. Mit der U-Bahn nach London fahren, seine alten Freunde – die Filmemacher, Maler, Lektoren und Schriftsteller, deretwegen er nach London gezogen war – anrufen. Er würde sich seine Geschichten über den Hill, einen Jurassic Park der britischen Aristokratie, mit Bier, Zigaretten, Besuchen in Pubs und Clubs oder guten Mahlzeiten vergüten lassen. Hau einfach ab, bezahl für eine Weile alles mit Kreditkarte und kümmere dich später um die Konsequenzen. Ja. Er atmete erleichtert auf. Das war die richtige Entscheidung. Er fühlte sich befreit, als wäre er lange in einem stickigen Raum gefangen gewesen, und jemand hätte plötzlich das Fenster aufgerissen. Sauerstoff – endlich. Er sprang auf, um seinen Mantel zu holen. Schnappte sich die Schlüssel. Tastete die Hosentaschen ab. Brieftasche, ein paar Quittungen. Alle Systeme waren bereit. Nur noch wenige Sekunden trennten ihn von der Freiheit.
Und in diesem Augenblick schellte die Türglocke.
Zwei blasse Gesichter. Das trübe Licht zerschnitt ihre Züge; sie schienen halb materialisiert aus einer anderen Dimension zu spähen. Fawkes war drauf und dran, ihnen die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Aber es war Persephone Vine unter einem Wust von nassen, dunkeln Haaren, und der andere war ein Harrowianer; Abschlussklasse, nach der Größe zu urteilen.
»Was wollt ihr?«, grunzte Fawkes.
»Das ist nicht gerade eine freundliche Begrüßung«, erwiderte Persephone.
»Stimmt. Ihr seid nicht willkommen.«
»Ich habe Ihnen gesagt, dass ich vorbeischaue. Haben Sie wirklich vor, uns in dieses Sauwetter zurückzuschicken?«
Fawkes hatte eine Schwäche für das Mädchen. Nicht nur, weil es schön, exotisch und ein erfreulicher Anblick war; er war sich bewusst, dass er ihr auch noch aus anderen Gründen zugeneigt war, doch das hatte er Gott sei Dank im Griff (die Vorstellung einer sexuellen Annäherung zwischen ihnen war lachhaft; Fawkes hatte einen schlaffen Hintern, Rettungsringe am Bauch und bot einen tragikomischen Anblick, wie seine früheren Eroberungen erklärt hatten). Nein, Persephone war witzig. All diese Teenager buhlten um Aufmerksamkeit. Sie sahen einen offen, eifrig an und waren erpicht darauf, zu hören, wer sie waren; in diesem Punkt war Persephone so schlimm wie die anderen. Allerdings hatte sie einen Vorteil: Sie tat so, als wäre sie Fawkes ebenbürtig. Als wären sie Kumpel. Das war vermessen, dreist und gleichzeitig – da dieses Verhältnis gemeinsames Trinken und Rauchen mit einschloss – eine große Erleichterung. Sie hatten sich im vergangenen Frühjahr kennengelernt, als sie für das Byron-Stück vorgesprochen hatte. Sie kam oft in Fawkes ̛ Wohnung, um über das Stück zu sprechen – oder, wie sie des Öfteren ärgerlicherweise sagte: unser Stück –, und er bot ihr Zigaretten an. Bald war ihr gemeinsames Projekt vergessen, und sie plauderte über ihre Interpretation von Antonius und Cleopatra oder über die Unzulänglichkeiten ihrer Eltern. Und Fawkes ertappte sich dabei, dass er ihr zuhörte, sich sogar amüsierte.
»Mir sind die Zigaretten ausgegangen, Persephone«, log er. »Können wir das auf später verschieben?«
»Nein, das können wir nicht.«
Bedauerlicherweise zeigte sich Persephone von ihrer beharrlichsten Seite und drängte sich an ihm vorbei in den Flur. Fawkes spürte, wie ihm seine Entschlossenheit entglitt. Sie und dieser dumme Junge verstellten ihm den Fluchtweg. Und er war kurz davor, ihr das auch zu sagen.
Dann sah Fawkes das Gesicht. Zuerst hatte er es, abgelenkt durch seine Gedanken, nicht wahrgenommen. Jetzt jedoch schreckte er zurück.
Der Junge schaute ihn an. Haarsträhnen hingen ihm über die Augen, und noch registrierte er nicht, dass er angestarrt wurde. Er hatte langes Haar, was die Wirkung noch verstärkte. Fawkes umfasste instinktiv die Türklinke, um etwas Kaltes, Reales in der Hand zu haben.
Persephone beobachtete ihn grinsend.
»Es ist Ihnen aufgefallen. Ha! Ich hab Sie erwischt, Fawkesy.«
Fawkes antwortete nicht. Er glotzte nur. Das bleiche Gesicht des Jungen. Der Mund – rot, rund, die Unterlippe hatte einen erotischen Schwung und glich einem Rosenblatt, das kurz davor war abzufallen. Und dann die Augen. Grau wie die eines Wolfs. Diese Augen, bemerkte er, während er in die Realität zurückkehrte und ihm dämmerte, dass er ein lebendes atmendes Individuum betrachtete, nicht ein Porträt oder eine Erscheinung – diese Augen waren düster, ängstlich, unstet. Das übliche Bedürfnis eines Jugendlichen, gepaart mit einer Warnung.
»Wer bist du?«, brachte Fawkes heraus. »Ich bin Piers Fawkes.«
»Ich weiß. Sie sind mein Hausvater.«
»Du bist Amerikaner.« Das war eine Feststellung. »Warte. Der Amerikaner! O Gott. Du hast Theo gefunden.«
Der Junge spannte sich an. »Ja«, erwiderte er vorsichtig.
»Ich hatte vor, nach dir zu sehen. Ich fühle mich schrecklich. Es war eine scheußliche Woche. Insbesondere für dich.«
»Scheußlich«, wiederholte Persephone ungehalten. »Aber wir sind zum Vorsprechen hier.«
»Vorsprechen?«
»Für das Stück. Unser Stück«, betonte Persephone. »Sie haben die Ähnlichkeit mit Byron gesehen, stimmt’s?«
»Außergewöhnlich.«
»Und Sie haben meine Nachricht erhalten? Ich wusste, dass Sie Ihre E-Mails nicht checken.«
Fawkes warf einen schuldbewussten Blick auf die Magazine, Zeitungen und ungeöffneten Briefe, die sich auf dem Esstisch häuften.
»Um Himmels willen«, schäumte Persephone.
»Hört zu, Leute. Weshalb ihr auch immer hergekommen seid, es war ein langer Tag. Wenn ihr bleiben wollt, wie wär’s dann mit einem Drink?«
Andrew hielt einen kalten, duftenden Martini in der Hand und fragte sich, was die Schulordnung dazu sagte, dass ein Minderjähriger, der vor kurzem beinahe gelyncht worden war, weil er unter dem Verdacht stand, ein Drogendealer zu sein, in der Wohnung seines Hausvaters Gin trank. War das … erlaubt? Offensichtlich schon. Persephone auf dem Sofa zog die bloßen Füße unter sich und knabberte an der Zitronenschale, die Fawkes geschickt abgeschält hatte, während er aus der Küche mit ihnen geplaudert hatte. Andrew hatte sich in dem Apartment umgesehen. Hübsch geschnitten mit einem Esszimmer mit angrenzendem Patio und einer schwarz-weiß gekachelten kleinen Küche. Aber die Unordnung glich beinahe einer Müllhalde. Zeitungen waren über die Sofapolster verstreut. Auf einem modernen weißen Schreibtisch lagen Briefe, Zeitschriften, ein Laptop, aufgeschlagene Bücher mit gebrochenen Rücken, ein schnurloses Telefon, zwei Kaffeetassen, ein voller Aschenbecher, ein Fläschchen Advil, ein schmutziger Teller mit schmutziger Gabel und einer zusammengeknüllten Serviette. Dann nahm Andrew Fawkes in Augenschein. Seine Aufmachung bestätigte Andrews Eindruck, den er im Speech Room gewonnen hatte: Piers Fawkes hatte in letzter Zeit wenig geschlafen. Er hatte braune Ringe unter den blutunterlaufenen Augen, seine Klamotten waren verknittert, die Hände zitterten. Er schien kaum noch Reserven zu haben. Piers Fawkes war ein Wrack.
»Du willst also Lord Byron spielen?«, fragte Fawkes.
Andrew murmelte: »Ja, ich schätze schon.«
Fawkes wandte sich an Persephone. »Ist er immer so enthusiastisch?«
»Er ist Amerikaner«, antwortete sie. »Die sind lakonisch.«
»Ich dachte, sie sind temperamentvoll und naiv.«
»Ich will die Rolle«, schaltete sich Andrew ein, entschlossen, für sich selbst zu sprechen. »Sehe ich wirklich aus wie er?«
»Schau’s dir selbst an.«
Fawkes nahm ein Buch von seinem Schreibtisch und drückte es Andrew in die Hände, blätterte die Seiten für ihn um, bis er die Abbildungstafel fand. Sie enthielt viele Porträts von einem dunkelhaarigen jungen Mann in Regency-Kleidung – Leinenkragen und Umhang. Die Bilder erschienen vage und geschönt.
»Bist du überzeugt?«
»Sehe ich ehrlich so aus?«
»Beschwerst du dich über deine Ähnlichkeit mit einem der schönsten Männer aller Zeiten?« Persephone war empört.
»So ziemlich«, erklärte Fawkes. »Kannst du spielen?«
»Ich habe ein wenig Theater gespielt«, erwiderte Andrew.
»Wie wenig?«
»Er hat den bad Guy in einem Stück mit dem Titel The Foreigner gespielt«, meldete sich Persephone wieder zu Wort. »Ich hab nachgeschlagen. Owen Musser, der rassistische Sheriff. Hab ich recht?« Andrew nickte beeindruckt. Sie fügte hinzu: »Die Rolle hat wenig Text. Das Stück hat zwei Obies gewonnen.«
»Nicht unsere Produktion«, stellte Andrew hastig klar.
»Mein Beileid«, sagte Fawkes.
»Also«, platzte Persephone voller Ungeduld heraus, »er sieht aus wie Byron. Er kann schauspielern oder hat es zumindest schon getan. Jetzt erzählen sie ihm von unserem Stück.«
»Von unserem Stück«, wiederholte Fawkes. »Unser Stück wurde vom Vorstand der Harrow-Schule in Auftrag gegeben. Sie haben mich mit einem größeren Geldbetrag ausgestattet – einen Dichter immerhin –, um die altehrwürdige Rolle des Poeten für die Institutionen zu spielen. Ich bin ein bezahlter Schmeichler. Ein Unsterblichmacher durch erfundene Tugenden. Byron war reich, kämpferisch und sexbesessen. Aber er ging in Harrow zur Schule. Also streichen wir ein wenig Vaseline auf die Linsen, fügen ein bisschen weiches Licht hinzu und pressen ihn in Theaterverse. Das ist dauerhafter als eine Broschüre. Und die Kinder können die Rollen spielen.«
»Sie sind heute Abend ganz schön bissig«, stellte Persephone fest.
»Die Handlung«, fuhr Fawkes fort, »ist relativ schlicht. Byron, der in Griechenland am Fieber gestorben ist, enthüllt schließlich, wer von seinen vielen, vielen Sexualpartnern die Liebe seines Lebens war. So etwas wie ein literarisches Rosebud. Gar nicht mal schlecht. Das ist die geringste meiner Sorgen.«
»Und welche Sorgen sind das?«, wollte Andrew wissen.
»Ja, was für Sorgen?«, fragte Persephone mit wachsender Angst vor Fawkes’ Ton: Sie roch Ärger und Resignation in jedem seiner Worte; den Sarkasmus eines Mannes, der noch vor kurzem bereit war, alles hinzuschmeißen. »Was ist mit Ihnen los, Fawkesy?«
»Ich habe nur drei Sorgen«, antwortete er. »Den Anfang, den Mittelteil, das Ende.« Er kippte seinen Drink hinunter.
»Und wer war es?«, erkundigte sich Andrew. »Die Liebe seines Lebens, meine ich.«
»Ich …« Fawkes brach in bitteres Gelächter aus. »Das habe ich noch nicht entschieden.«
»Das haben Sie mir nie erzählt«, beschwerte sich Persephone verletzt. »Ich dachte, es ist Augusta, sein eigen Fleisch und Blut, seine Sieglinde.«
»Wie kann das sein? Sie wissen nicht, wie es endet?«, brach es aus Andrew heraus.
»Nichts ergibt einen Sinn«, rief Fawkes, als er sich erhob. Allmählich erwärmte er sich für das Thema. »Möchte jemand noch einen Drink?« Sie lehnten ab. Er ging in die Küche. Sie hörten das Klimpern der Eiswürfel. Andrew betrachtete Persephone. Ihre Stirn war gerunzelt – so etwas hatte sie nicht erwartet. Andrew war irgendwie erleichtert. Nicht alle hier sind perfekt, dachte er.
»Die Sache ist die«, sagte Fawkes in der Küche, »mit zwanzig war Byron kein schlechter Dichter. Seine Werke waren angenehm zu lesen, aber konventionell. O wilt thou weep when I am low. Ta ta, ta ta, ta ta, ta ta. Jambisches Versmaß, und er macht es so langweilig. Liebe. Ladys. Jede Menge kindlicher Leidenschaft. Nur ein Gedicht aus seiner ersten Sammlung stach hervor. Aber er hat es gekürzt. Er war konventionell.«
»Was ist das für ein Gedicht?«, hakteAndrew nach.
»›An Mary.‹ Es ging um eine Hure. Offensichtlich hat er sich in sie verliebt. Es war eine schlechte Angewohnheit von ihm. Er neigte dazu, gefallene Mädchen zu retten. Wie heißt die Zeile? And smile to think how oft were done, What prudes declares sin to act this.« Er nippte an seinem Martini. »A sin to act this. Eine Mischung aus metrischer Antiklimax und einem dreckigen Witz. Das ist der Autor von Don Juan. Er lachte sich selbst aus, weil er liebte. Das ist reif. Tut mir leid, Leute, aber das ist es. Und er hat es gekürzt.« Fawkes rümpfte die Nase. »Wäre er mit zwanzig gestorben, hätte sich Lord Byron nie von hundert anderen minderwertigen Nobodys unterschieden.«
»Was ist passiert? Wie hat er sich verbessert?«, drängte Andrew. Mittlerweile trank er ungenierter. Im Dunst von Fawkes’ Zigaretten und mit Hilfe des betäubenden Alkohols fühlte sich Andrew zum ersten Mal seit seiner Ankunft einigermaßen wohl. Hätte er sich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, wäre ihm aufgefallen, dass er sich mehr daheim fühlte als zu Hause. Doch im Moment war er sich nur der Aufregung bewusst, die in seiner Brust anschwoll.
»Gute Frage«, lobte Fawkes und stach mit der Zigarette in Andrews Richtung. »Die Leute erforschen Shakespeares Mysterium – wollen wissen, wie ein Niemand aus der Mittelschicht in Stratford so großartige Dramen schreiben konnte. Byrons Geschichte ist noch viel unwahrscheinlicher. Mit zwanzig verfasst er seichte Verse. Dann flieht er aus England – kein Mensch weiß genau, warum. Ich werde nie in England leben, wenn ich es vermeiden kann. Wieso – muss ein Geheimnis bleiben. Er unternimmt eine lange Seereise. Und ein paar Monate später fängt er in Epirus, Griechenland in der Halloweennacht ein Poem an. Ausgerechnet in Spenserstanzen. Plötzlich gelingt ihm ein … Meisterstück. Episch. Reich. Reif. Es begründet den byronschen Stil. Der grüblerische, dem Untergang geweihte junge Mann trägt eine Last von unaussprechlichen Sünden. Mit einem Mal ist er berühmt. Ein Genie«, fügte Fawkes zweifelnd hinzu, »über Nacht.«
Andrew und Persephone wechselten einen Blick. »Ist das schlecht?«, fragte Andrew.
»Nein, es ist nicht schlecht, aber unmöglich!«, rief Fawkes. »Entweder ist man ein Naturtalent, oder man gewinnt durch lange, harte Arbeit gewisse Fähigkeiten. Flügel wachsen einem nicht in ein paar Monaten. Dichter«, erklärte er, »sind keine Raupen.«
Nachdem er sich derart verausgabt und seine Zigarette ausgedrückt hatte, stand Fawkes auf, um sich ein neues Päckchen zu holen und tippte damit in seine Handfläche. Persephone sank in sich zusammen; sie wirkte, als hätte man ihr etwas weggenommen. Jetzt war es an Andrew, die Unterhaltung weiterzuführen. Er ergriff die Gelegenheit mit Freuden. Er hatte das Gefühl, seit Tagen nicht mehr geredet zu haben. »Sind Sie ein Naturtalent?«
»Ich?« Fawkes war verblüfft.
»Ja.«
»Piers hat mit neunundzwanzig den Whitestone-Preis gewonnen«, sagte Persephone. »Er war das enfant terrible der englischen Dichtkunst.«
»Ich war es – Vergangenheit.«
»Sind Sie immer noch berühmt?«
»Wenn du danach fragen musst, dann ist das Antwort genug«, entgegnete Fawkes säuerlich.
»Was hält Sie auf ?«
Fawkes zwinkerte Andrew zu. »Ich kann nicht darüber schreiben, wen Byron geliebt hat oder was ihm wichtig war, wenn ich nicht einmal weiß, wer er war. Ich kann kein Stück über eine Raupe, die von einem Moment zum anderen zum Schmetterling wird, verfassen.« Fawkes riss wütend die Zigarettenpackung auf.
»Tut mir leid. Ich bin Ihnen zu nahe getreten«, entschuldigte sich Andrew.
»Und was weißt du über Byron?«, erkundigte sich Fawkes.
»Ich? Ach, nichts.«
»Schon mal was von ihm gelesen?«
»Nein.«
»Ich nehme an, in amerikanischen Schulen lest ihr nur Walt Whitman«, sagte Persephone.
»Robert Frost in Anthologien«, erwiderte Andrew.
Fawkes suchte auf dem Schreibtisch nach einem Buch. Er blätterte es schnell durch. Die Zigarette hing in seinem Mundwinkel und drohte, die Seiten zu entflammen. Zu guter Letzt warf er Andrew das Buch zu.
»Lies das«, sagte Fawkes und deutete auf ein Gedicht. »Laut.«
Andrew erschrak. »Was? Jetzt?«
Statt einer Antwort ließ sich Fawkes neben Persephone aufs Sofa fallen und sah Andrew erwartungsvoll an.
»Natürlich jetzt. Du bist zum Vorsprechen hergekommen, oder nicht?«
»Ja, aber es scheint, dass Sie sauer sind.«
»Ja, ich bin sauer. Ich bin zornig, seit ich vierzehn war. Das war mein Markenzeichen. Ich habe viele Gedichte darüber geschrieben. Aber ich bin nicht sauer auf dich. Ich möchte hören, wie du dieses Gedicht liest. Das könnte das Highlight eines wahrhaft abscheulichen Tages werden. Und übrigens bist du derjenige, der sauer sein sollte. Mad, bad, and dangerous to know!« Letzteres sprachen Fawkes und Persephone unisono aus, und sie lachten. Dann warteten sie.
»Hm«, begann Andrew.
Er versuchte, im Sitzen zu lesen, doch Persephone bestand darauf, dass er aufstand. Dann schob sie ihn in die Mitte des Zimmers. Und da stand er, mit dem Buch in der Hand wie ein Erstklässler, der vor der Klasse ein Gedicht vortragen wollte. Andrew kam sich albern vor.
Das Buch – Ausgewählte Gedichte von Lord Byron – hatte ein grünes Cover und roch muffig. Er überflog die Zeilen. Dies war kein romantisches Zeug von Bäumen, Bergen und dürftiger Erleuchtung. Es war etwas anderes. Er sah auf. Dieselben zwei Gesichter: Fawkes, der abwechselnd an seiner Zigarette zog und von seinem Martini trank, Persephone, deren finstere Miene verschwunden war.
Er fing an.
»I had a dream«, deklamierte er.
Seine beiden Zuhörer kicherten. Andrew wurde rot.
»Lies ganz normal«, sagte Fawkes. »Mit deiner normalen Stimme.«
Andrew schluckte. »I had a dream«, wiederholte er, »Which was not all a dream …«
Das Gedicht begann volltönend, autoritativ, lebhaft wie ein Bericht aus einem Kriegsgebiet.
… The bright sun was extinguished, and the stars
Did wander darkling in eternal space,
Rayless and pathless, and the icy Earth
Swung bind and lackening in the moonless air.
Ein solches Gedicht hatte Andrew noch nie gelesen: ein Horror-Poem, das sich Zeile für Zeile zu einer sinnlosen Tragödie entfaltete, in der normale Menschen ihrer Menschlichkeit beraubt und auf ihr animalisches Selbst reduziert wurden. Es war eine Beschreibung, scheinbar aus erster Hand, des Verfalls der Welt; des Übergangs von einem fruchtbaren grünen Lebensraum zu einem kargen Felsbrocken mit Vulkanen und Finsternis, in der es kaum Nahrung gab und man ums Überleben kämpfen musste. No Love was left, las er. Und als er zum Ende kam – the waves were dead –, schwankte er wie hypnotisiert vom Rhythmus – the winds were withered in the stagnant air; er war benommen, weil er keine Luft holte und schwer getroffen war von der Gewalt des Gedichts. Er hob den Blick und war beinahe überrascht, das Apartment und nicht die öde Landschaft zu sehen. Darkness had no need of them, endete das Gedicht, und Andrew deklamierte wieder die letzten Worte, ohne es zu wollen, während er Persephone in die Augen schaute:
» … She was the Universe.«
Persephones Gesicht hatte jede Spannung verloren. Fawkes rauchte, an seiner Zigarette hing ein langes Aschestück. Andrew wurde unsicher. Hatte er es vermasselt? Zu schnell oder zu undeutlich gesprochen? Ein- oder zweimal hatte er genuschelt – er war an Dosenbier, nicht aber an Schnaps gewöhnt – und sich verflucht, weil er den Martini angenommen hatte. Ärger und Verlegenheit erstickten ihn fast.
Fawkes wusste, dass er sich später aufregen würde, weil ihn ein Rotzlöffel als abgehalfterten Schriftsteller entlarvt hatte. Dabei brachte ihn nicht so sehr die Frechheit des Jungen auf (so etwas schätzte Fawkes im Prinzip), sondern vielmehr die Tatsache, dass er selbst so leicht zu durchschauen war. Dieser Halbwüchsige konnte von der Straße in seine Wohnung marschieren und ihn nach ein paar unbedachten Äußerungen analysieren. Als mittelmäßig und festgefahren outen. Das alles stimmte. Und dass er nicht schrieb – oder nichts Gutes schreiben konnte –, machte ihm mehr zu schaffen als sein Scheitern im Job. Verdammter Jute, dachte er wohl zum elften Mal an diesem Tag, aber dieses Mal war es kein wütender Fluch, sondern eher eine Zurückweisung. Was war Jute schon verglichen mit einer Schreibblockade? Mit dem Wissen, dass man nur schwaches Zeug fertigbrachte und nicht imstande war, mehr Qualität zu produzieren? Die Poesie war immer Fawkes ̛ private Schatzkammer gewesen, das Geheimnis, das er inmitten einer Festung hütete, wo man suchte und suchte und endlich das Metall von unsichtbarem Wert fand: das kleine, wahrhaftige Bröckchen Erkenntnis – ein Stück von einem Dialog, einen Vergleich, ein Bild, das einen beinahe an den Tod erinnerte wie ein sentimentaler Schnappschuss. In der Zeit gefangen, um einen daran zu erinnern, wie schnell sie verflog. Aber das Byron-Stück – es widersetzte sich. Bis jetzt. Bis er Andrew gesehen hatte. Es war fast Betrug. Jemand lud die DVD mit Byron-Dokumentationen auf und erlaubte Fawkes, den echten Mann ( Jungen) zu beobachten, der mit einer wackeligen Videocam auf dem Harrow-Gelände verfolgt wurde. Fawkes hörte zu – their feeble breath blew for a little life and made an flame – und spürte, wie er die Treppe in seiner Festung hinabstieg, fröstelnd und unsicher, aber mit angehaltenem Atem. Jetzt war er überzeugt, dass er durch diesen eigenartigen, schmollenden Amerikaner einen goldenen Lichtstreifen unter einer Tür sah, dass er die Schatzkammer gefunden hatte.
Ein langer Moment verstrich. Andrew stand mit puterrotem Gesicht in Fawkes’ Zimmer.
Fawkes kehrte in die Wirklichkeit zurück. Er war nicht sehr aufmerksam gewesen, doch es war wahrscheinlich ein gutes Zeichen, dass ihn der Junge auf den Weg – zu was? – geschickt hatte. Zu Tagträumen? Zum Teufel, warum nicht?, dachte er.
»Kannst du hinken?«, fragte er. Die beiden Schüler sahen ihn verwirrt an. »Byron hatte einen Klumpfuß«, erklärte er. »Wenn du hinken kannst, bekommst du die Rolle.«
Sie lachten. Andrew humpelte durch die Wohnung.
»Schon gut, schon gut. Du spielst keinen Piraten. Du hast die Rolle von George Gordon Byron, dem sechsten Lord Byron, Autor von Childe Harold, Don Juan und Verantwortlichen für viele zerbrochene Ehen. Und gewiss hat er sich irgendwann, irgendwo in jemanden verliebt, den er nie vergessen hat.«