87
Im Van
Mila hatte gewusst, dass es eines Tages so enden könnte: gefesselt im Auto eines Kopfgeldjägers, der sie ihrem Schicksal überantwortete, denn Zviman wollte sie lebend haben.
Sechs hatten es versucht in den vergangenen drei Jahren, und sechs waren bei dem Versuch umgekommen. Zwei hatten es sogar schon geschafft, ihr Handschellen anzulegen und sie an den Füßen zu fesseln. Zwei ehemalige IRA-Kämpfer, die sie vor der Adrenaline-Bar in London gefasst hatten, einem Lokal im Besitz der Tafelrunde. Kenneth, der Manager der heute von Sam geführten Bar, hatte beobachtet, wie ihr ein Betäubungsmittel in den Hals gespritzt und sie in den Kofferraum eines Audis gesteckt wurde. Kenneth hatte die Entführer verfolgt und den Fahrer durch das Autofenster hindurch erschossen. Der Wagen kam von der Straße ab, und Kenneth erschoss den zweiten Mann, ehe er Mila aus dem Kofferraum befreite. Sie war natürlich dankbar, empfand ihre Rettung jedoch auch als Schmach.
Der weitere beinahe erfolgreiche Versuch erfolgte knapp drei Wochen später. Es waren zwei Filipinos, die ihr Glück versuchten. Sie hatten sie in ihrer Wohnung bereits in Handschellen gehabt, doch bevor sie ihr auch die Füße fesseln konnten, hatte sie die beiden buchstäblich zu Tode getreten. Der Überfall hatte ihr den Abend gründlich verdorben, nachdem sie nur ihr Thai Curry mit einem kühlen Bier genießen und sich Emmerdale im Fernsehen hatte ansehen wollen. Beide Male hatte Kenneth sie befreien müssen. Außerdem war sie gezwungen, sich eine neue Wohnung unter einem anderen Namen zu suchen, am anderen Ende von London. Das alles gab ihr doch sehr zu denken.
Immerhin sprach es sich in den Kreisen der Auftragskiller herum, dass sie extrem gefährlich war. Wer sechs Leute erledigt, die hinter einem her sind, der bringt potenzielle Jäger zum Nachdenken, ob sie das Risiko wirklich eingehen wollen.
Sie erwachte blinzelnd aus der von Chloroform verursachten Bewusstlosigkeit. Ihre Nase tat weh, und die Lippen waren dick geschwollen, wo er sie geschlagen hatte. Auf dem Autoboden sah sie Splitter der Kisten, mit denen sie und Bertrand die beiden toten Leibwächter abtransportiert hatten, die sie vorher zusammen mit Sam getötet hatte. Sie hätte den Wagen gründlicher säubern sollen.
Warum bist du in New York?, hatte Sam sie in der Last Minute Bar gefragt, nachdem er aus Las Vegas zurückgekehrt war. Schuhe, hatte sie lächelnd geantwortet. Für ihn war das einer ihrer typischen Scherze. Doch was Sam noch nicht ganz herausgefunden hatte, war, dass sie meistens die Wahrheit sagte.
Sie hatte sich in New York tatsächlich Schuhe gekauft. Maßgeschneiderte Stiefel. Sie zog die Absätze zu ihren Händen herauf. Als der linke Stiefel nah genug war, drehte sie den Absatz leicht mit den Fingerspitzen und drückte ihn gleichzeitig hinunter, wie man es bei einer Medikamentenflasche machte. Der Absatz löste sich. Darunter war ein Handschellenschlüssel verborgen, ein Universalschlüssel, von einem Schlossermeister angefertigt, der einst erfolgreich für den KGB gearbeitet hatte. Sie schnippte den Schlüssel vom Absatz und drehte sich so, dass sie den Schlüssel ins Schloss bekam.
»Ich hör Sie«, sagte der Mann, der den Van lenkte. »Gut geschlafen?«
»Hab schlecht geträumt.«
»Baby, da kommt ein noch viel größerer Albtraum auf Sie zu. Aber Ihre Träume werden bald für immer vorbei sein.«
»Sie haben eine poetische Ader.«
»Ich hab ja schon viele Komplimente bekommen, aber das hat noch niemand zu mir gesagt. Danke, Mila.«
»Wie heißen Sie?«
»Oh, ich bewahre mir lieber ein paar Geheimnisse. Ich bin ein Niemand.«
»Ich hab Ihr Gesicht auf einer Videoaufnahme gesehen. Sam schickt das Bild bestimmt an die CIA.«
Schweigen.
»Ah. Das gefällt Ihnen wohl nicht«, fuhr Mila fort. »Sie sind ein Niemand, der bald ziemlich bekannt sein wird.«
»Mein Name ist Braun«, sagte er stolz. »Sie sollen ruhig wissen, wer Sie besiegt hat, nachdem so viele daran gescheitert sind.«
»Okay, Mr. Braun, ich zahle Ihnen mehr als eine Million Dollar, wenn Sie mich freilassen.«
»Verlockend. Aber es geht mir gar nicht so sehr ums Geld. Mehr darum, reinen Tisch zu machen. Einen Fehler zu korrigieren. Ich hab gehört, Sie haben auch einmal so angefangen: mit dem Ziel, einen Fehler zu korrigieren.«
»Man hat’s nicht leicht als Star, den jeder kennt.«
»Wirklich faszinierend, diese Selbstsicherheit so kurz vor dem Tod. Sie gefallen mir. Wenn Mr. Zviman nicht so versessen darauf wäre, Sie lebend zu bekommen, würde ich Ihnen einen Gnadenschuss verpassen«, sagte er gutgelaunt. »Einfach aus Respekt.«
»Ich bin neugierig …«
»Wozu, wenn Sie sowieso bald sterben? Wozu sich noch mit irgendwelchen Details beschäftigen? Ich würde über die vielen Entscheidungen nachdenken, die Sie in diese Situation gebracht haben. Wir haben die Pflicht, aus unseren Fehlern zu lernen. Sie, zum Beispiel, sind einer meiner Fehler, und ich lerne aus Ihnen. Ich hätte gern einmal mit Ihnen zu Abend gegessen, Mila. Mich mit Ihnen unterhalten. Sie faszinieren mich. Sie und Zviman.«
Es interessierte sie nicht sonderlich, was er zu sagen hatte, doch sie wollte, dass er weitersprach. So würde er weniger auf das achten, was sie tat.
»Ich wüsste nicht, warum ich ein Fehler von Ihnen sein sollte«, erwiderte Mila. Der Handschellenschlüssel glitt ins Schloss. Wenn er jetzt bloß funktionierte. Eigentlich sollte er. Sie hatte eine hübsche Summe dafür gezahlt.
»Sie und Zviman sind zwei Seiten derselben Medaille, meine Liebe. Das Lustige ist, dass ich jetzt von meinem Fehler profitiere. Aber dafür räume ich auch das ganze Schlamassel auf. Ich war schon im Ruhestand. Ich hatte mein Haus in Florida und wollte nur noch Golf spielen und angeln. Da sollten einen eigentlich keine Fehler mehr heimsuchen, die man irgendwann mal begangen hat. Nicht so spät im Leben, nicht als Pensionär.«
Dieser Braun war ein Verrückter. Die Handschellen öffneten sich. Mila stieß einen leisen Seufzer aus.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Ich bin keine Medaille.«
»Nein, Mila, Sie sind ein Edelstein. Für mich sind Sie Gold wert. Jetzt kann ich meinen Ruhestand erst richtig genießen, weil meine vergangenen Fehler bereinigt sind. Das wirkt sich bestimmt positiv auf mein Golfspiel aus.«
Sie zog das Handgelenk vorsichtig heraus, sorgfältig bedacht, kein klickendes Geräusch zu machen.
Jetzt der andere Absatz. Sie löste ihn und fand darin ein kleines Messer in einer Scheide. Sie zog die Scheide herunter und hielt die Klinge aus japanischem Stahl in der Hand. Die Fußfesseln bereiteten ihr sogar mehr Mühe als die Handschellen: Das Seil war nicht so leicht durchzuschneiden.
»Ich frage mich, warum Sie mich einen Fehler nennen, obwohl ich Sie noch nie gesehen habe. Sind Sie vielleicht mein Vater, den ich als Kind verloren habe, Mr. Braun?«
»Nicht biologisch, aber in gewisser Weise bin ich Ihr Vater, das stimmt.«
Okay, dachte sie, völlig durchgeknallt. »Sie beantworten eine Frage nie ganz direkt«, sagte sie. »Sie müssen von der CIA sein. Sie sprechen genauso ausweichend wie Sam.«
»Ja, er ist das Problem, nicht wahr? Der Kern des Problems.«
Sie spürte, wie der Van langsamer wurde und abbog. Sie waren sonst geradeaus in nördlicher Richtung gefahren.
»Wir sind da, Mila. Da, wo alles begann«, sagte er. »Wo es ins Leben gerufen wurde.«
Er hielt den Van an.
»Dann beeilen wir uns mal«, fügte er hinzu. »Ich will nicht zu spät kommen.«
Er stieg aus und knallte die Tür zu.
Mila wand sich und versuchte verzweifelt, die Stricke durchzuschneiden. Ihr blieben vielleicht acht Sekunden, bis Braun die Heckklappe öffnete.
Nicht genug Zeit.