54

Brooklyn

Du musst ganz normal aussehen. Jack klopfte sich den Sand aus den Kleidern und dem Haar, während er zur Subway-Station Marcy Avenue hinunterlief. Das Glück, das ihn gerettet hatte, war ihm noch einmal hold: Ein Zug fuhr in die Station ein, gerade als er den Bahnsteig erreichte. Es war ihm egal, wohin die U-Bahn fuhr, er stieg ein und tauchte im Gewühl unter.

Er ließ sich auf einen der harten Plastiksitze sinken. Er zitterte: Der Schock saß ihm immer noch in den Knochen. Niemand setzte sich neben ihn, was ihn nicht überraschte, so wie er aussah nach seinem Sturz. Sein Handgelenk schmerzte, wo Capra ihn festgehalten hatte, als dieser durchgeknallte Irre ihn vom Dach mitgerissen hatte.

Er beugte sich vor und umklammerte seine Ellbogen mit den Händen. Die Pistole aus der Wohnung seiner Mutter war weg. Er hatte sie auf dem Dach verloren, doch das Magazin war ohnehin leer. Er hätte den Kerl erschießen sollen, als sich die Chance geboten hatte, doch er wusste nicht, ob er es fertigbrachte, einem Menschen aus nächster Nähe eine Kugel ins Gesicht zu jagen, also hatte er sein Heil in der Flucht gesucht. Dieser verfluchte Sam Capra war wahnsinnig.

Er hatte sich mit ihm vom Dach gestürzt.

Das Notizbuch. Kalter Schrecken packte ihn. Falls es weg war, hatte er nichts mehr, das er gegen sein Überleben eintauschen konnte. Aber er spürte das kühle Gewicht des Buches im Rücken. Es war in seine Boxershorts gerutscht, ein Klebestreifen hatte sich gelöst, doch der andere hatte Gott sei Dank gehalten. Er zog das Notizbuch heraus und ignorierte die kurzen Blicke der Frauen, die ihm gegenübersaßen. In New York musste schon viel passieren, um den Leuten mehr als einen kurzen Blick zu entlocken, und wenn jemand ein Notizbuch aus der Unterhose zog, kümmerte das keinen. Er wischte den Sand von dem roten Einband und drückte das Buch an seine Brust.

Nach Hause konnte er jedenfalls nicht mehr. Seine eigene Mutter hatte ihn verraten. Die CIA hatte ebenfalls nicht Wort gehalten, und Novem Soles hatte Sam Capra und diese rothaarige Frau zum Treffpunkt geschickt, um ihn zu töten.

Novem Soles hatte Augusts Team infiltriert. Sie hatten von dem Treffen gewusst.

Was mach ich jetzt?, fragte er sich. Wo soll ich hin? Und zum ersten Mal hatte Jack Ming keine Antwort und keine Idee. Er zog die Knie hoch und fuhr in der U-Bahn unter dem großen pulsierenden Herzen der Stadt, dem einzigen Ort, an dem er sich zurzeit einigermaßen sicher fühlte.

Was soll ich tun?

Das Gewicht des Notizbuchs fühlte sich wie Gold in seinen Händen an. Es war alles, was er besaß. Er hatte seinen Rucksack verloren, seinen Laptop.

Sam Capras merkwürdige Worte gingen ihm durch den Kopf. Die bringen sonst meinen Sohn um. Es tut mir leid. Was meinte er damit? Und die Rothaarige hatte gesagt: Vergeben Sie mir. Sie müssen sterben, es tut mir leid.

Warum zum Teufel entschuldigten sich die Handlanger von Novem Soles bei ihm? Das ergab keinen Sinn.

Der Typ war sogar bereit gewesen, selbst zu sterben, nur um dich zu töten. Er entschuldigte sich dafür. So verhält sich kein Auftragskiller. Und auch kein CIA-Agent, der auf die schiefe Bahn geraten ist.

So verhält sich jemand, der verzweifelt ist.

Die bringen sonst meinen Sohn um.

Jack strich mit den Fingern über die Kante des Notizbuchs.

Sorry, Sam Capra, dachte er, aber ich sterbe nicht für dein Kind. Sorry.

Sein erster Impuls war wegzulaufen, wenn es sein musste bis zum Pazifik oder zu den Anden. Ein wirklich schlauer Plan. Nein, du kannst nicht ewig weglaufen. Genau das erwarten sie ja von dir. Du musst sie irgendwie stoppen, sonst wirst du nie mehr frei atmen können. Was hat dir das Weglaufen denn gebracht? Gar nichts. Du wärst um ein Haar gestorben. Du musst dich wehren, damit kannst du sie überraschen. Das heißt, du musst die Waffen einsetzen, die du hast: deinen Kopf und das Notizbuch.

Er würde seine Waffen als Köder benutzen, um sie anzulocken. Zeit und Ort würde er bestimmen.

Er begann über einen Plan nachzudenken. Falls jemand so nett war, seinen verlorenen Laptop einzuschalten, konnte er sich Zugang zu dem Gerät verschaffen und es für sein eigenes Vorhaben benutzen.

Die letzte Minute
titlepage.xhtml
Die_letzte_Minute_split_000.html
Die_letzte_Minute_split_001.html
Die_letzte_Minute_split_002.html
Die_letzte_Minute_split_003.html
Die_letzte_Minute_split_004.html
Die_letzte_Minute_split_005.html
Die_letzte_Minute_split_006.html
Die_letzte_Minute_split_007.html
Die_letzte_Minute_split_008.html
Die_letzte_Minute_split_009.html
Die_letzte_Minute_split_010.html
Die_letzte_Minute_split_011.html
Die_letzte_Minute_split_012.html
Die_letzte_Minute_split_013.html
Die_letzte_Minute_split_014.html
Die_letzte_Minute_split_015.html
Die_letzte_Minute_split_016.html
Die_letzte_Minute_split_017.html
Die_letzte_Minute_split_018.html
Die_letzte_Minute_split_019.html
Die_letzte_Minute_split_020.html
Die_letzte_Minute_split_021.html
Die_letzte_Minute_split_022.html
Die_letzte_Minute_split_023.html
Die_letzte_Minute_split_024.html
Die_letzte_Minute_split_025.html
Die_letzte_Minute_split_026.html
Die_letzte_Minute_split_027.html
Die_letzte_Minute_split_028.html
Die_letzte_Minute_split_029.html
Die_letzte_Minute_split_030.html
Die_letzte_Minute_split_031.html
Die_letzte_Minute_split_032.html
Die_letzte_Minute_split_033.html
Die_letzte_Minute_split_034.html
Die_letzte_Minute_split_035.html
Die_letzte_Minute_split_036.html
Die_letzte_Minute_split_037.html
Die_letzte_Minute_split_038.html
Die_letzte_Minute_split_039.html
Die_letzte_Minute_split_040.html
Die_letzte_Minute_split_041.html
Die_letzte_Minute_split_042.html
Die_letzte_Minute_split_043.html
Die_letzte_Minute_split_044.html
Die_letzte_Minute_split_045.html
Die_letzte_Minute_split_046.html
Die_letzte_Minute_split_047.html
Die_letzte_Minute_split_048.html
Die_letzte_Minute_split_049.html
Die_letzte_Minute_split_050.html
Die_letzte_Minute_split_051.html
Die_letzte_Minute_split_052.html
Die_letzte_Minute_split_053.html
Die_letzte_Minute_split_054.html
Die_letzte_Minute_split_055.html
Die_letzte_Minute_split_056.html
Die_letzte_Minute_split_057.html
Die_letzte_Minute_split_058.html
Die_letzte_Minute_split_059.html
Die_letzte_Minute_split_060.html
Die_letzte_Minute_split_061.html
Die_letzte_Minute_split_062.html
Die_letzte_Minute_split_063.html
Die_letzte_Minute_split_064.html
Die_letzte_Minute_split_065.html
Die_letzte_Minute_split_066.html
Die_letzte_Minute_split_067.html
Die_letzte_Minute_split_068.html
Die_letzte_Minute_split_069.html
Die_letzte_Minute_split_070.html
Die_letzte_Minute_split_071.html
Die_letzte_Minute_split_072.html
Die_letzte_Minute_split_073.html
Die_letzte_Minute_split_074.html
Die_letzte_Minute_split_075.html
Die_letzte_Minute_split_076.html
Die_letzte_Minute_split_077.html
Die_letzte_Minute_split_078.html
Die_letzte_Minute_split_079.html
Die_letzte_Minute_split_080.html
Die_letzte_Minute_split_081.html
Die_letzte_Minute_split_082.html
Die_letzte_Minute_split_083.html
Die_letzte_Minute_split_084.html
Die_letzte_Minute_split_085.html
Die_letzte_Minute_split_086.html
Die_letzte_Minute_split_087.html
Die_letzte_Minute_split_088.html
Die_letzte_Minute_split_089.html
Die_letzte_Minute_split_090.html
Die_letzte_Minute_split_091.html
Die_letzte_Minute_split_092.html
Die_letzte_Minute_split_093.html
Die_letzte_Minute_split_094.html
Die_letzte_Minute_split_095.html
Die_letzte_Minute_split_096.html
Die_letzte_Minute_split_097.html
Die_letzte_Minute_split_098.html
Die_letzte_Minute_split_099.html
Die_letzte_Minute_split_100.html