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Brooklyn
Du musst ganz normal aussehen. Jack klopfte sich den Sand aus den Kleidern und dem Haar, während er zur Subway-Station Marcy Avenue hinunterlief. Das Glück, das ihn gerettet hatte, war ihm noch einmal hold: Ein Zug fuhr in die Station ein, gerade als er den Bahnsteig erreichte. Es war ihm egal, wohin die U-Bahn fuhr, er stieg ein und tauchte im Gewühl unter.
Er ließ sich auf einen der harten Plastiksitze sinken. Er zitterte: Der Schock saß ihm immer noch in den Knochen. Niemand setzte sich neben ihn, was ihn nicht überraschte, so wie er aussah nach seinem Sturz. Sein Handgelenk schmerzte, wo Capra ihn festgehalten hatte, als dieser durchgeknallte Irre ihn vom Dach mitgerissen hatte.
Er beugte sich vor und umklammerte seine Ellbogen mit den Händen. Die Pistole aus der Wohnung seiner Mutter war weg. Er hatte sie auf dem Dach verloren, doch das Magazin war ohnehin leer. Er hätte den Kerl erschießen sollen, als sich die Chance geboten hatte, doch er wusste nicht, ob er es fertigbrachte, einem Menschen aus nächster Nähe eine Kugel ins Gesicht zu jagen, also hatte er sein Heil in der Flucht gesucht. Dieser verfluchte Sam Capra war wahnsinnig.
Er hatte sich mit ihm vom Dach gestürzt.
Das Notizbuch. Kalter Schrecken packte ihn. Falls es weg war, hatte er nichts mehr, das er gegen sein Überleben eintauschen konnte. Aber er spürte das kühle Gewicht des Buches im Rücken. Es war in seine Boxershorts gerutscht, ein Klebestreifen hatte sich gelöst, doch der andere hatte Gott sei Dank gehalten. Er zog das Notizbuch heraus und ignorierte die kurzen Blicke der Frauen, die ihm gegenübersaßen. In New York musste schon viel passieren, um den Leuten mehr als einen kurzen Blick zu entlocken, und wenn jemand ein Notizbuch aus der Unterhose zog, kümmerte das keinen. Er wischte den Sand von dem roten Einband und drückte das Buch an seine Brust.
Nach Hause konnte er jedenfalls nicht mehr. Seine eigene Mutter hatte ihn verraten. Die CIA hatte ebenfalls nicht Wort gehalten, und Novem Soles hatte Sam Capra und diese rothaarige Frau zum Treffpunkt geschickt, um ihn zu töten.
Novem Soles hatte Augusts Team infiltriert. Sie hatten von dem Treffen gewusst.
Was mach ich jetzt?, fragte er sich. Wo soll ich hin? Und zum ersten Mal hatte Jack Ming keine Antwort und keine Idee. Er zog die Knie hoch und fuhr in der U-Bahn unter dem großen pulsierenden Herzen der Stadt, dem einzigen Ort, an dem er sich zurzeit einigermaßen sicher fühlte.
Was soll ich tun?
Das Gewicht des Notizbuchs fühlte sich wie Gold in seinen Händen an. Es war alles, was er besaß. Er hatte seinen Rucksack verloren, seinen Laptop.
Sam Capras merkwürdige Worte gingen ihm durch den Kopf. Die bringen sonst meinen Sohn um. Es tut mir leid. Was meinte er damit? Und die Rothaarige hatte gesagt: Vergeben Sie mir. Sie müssen sterben, es tut mir leid.
Warum zum Teufel entschuldigten sich die Handlanger von Novem Soles bei ihm? Das ergab keinen Sinn.
Der Typ war sogar bereit gewesen, selbst zu sterben, nur um dich zu töten. Er entschuldigte sich dafür. So verhält sich kein Auftragskiller. Und auch kein CIA-Agent, der auf die schiefe Bahn geraten ist.
So verhält sich jemand, der verzweifelt ist.
Die bringen sonst meinen Sohn um.
Jack strich mit den Fingern über die Kante des Notizbuchs.
Sorry, Sam Capra, dachte er, aber ich sterbe nicht für dein Kind. Sorry.
Sein erster Impuls war wegzulaufen, wenn es sein musste bis zum Pazifik oder zu den Anden. Ein wirklich schlauer Plan. Nein, du kannst nicht ewig weglaufen. Genau das erwarten sie ja von dir. Du musst sie irgendwie stoppen, sonst wirst du nie mehr frei atmen können. Was hat dir das Weglaufen denn gebracht? Gar nichts. Du wärst um ein Haar gestorben. Du musst dich wehren, damit kannst du sie überraschen. Das heißt, du musst die Waffen einsetzen, die du hast: deinen Kopf und das Notizbuch.
Er würde seine Waffen als Köder benutzen, um sie anzulocken. Zeit und Ort würde er bestimmen.
Er begann über einen Plan nachzudenken. Falls jemand so nett war, seinen verlorenen Laptop einzuschalten, konnte er sich Zugang zu dem Gerät verschaffen und es für sein eigenes Vorhaben benutzen.