31

Morris County, New Jersey

Ich sah den gemieteten Prius zwischen den Bäumen stehen. Ich stieg aus, kletterte über einen Zaun und folgte einer asphaltierten Straße. Auf einem Schild stand: PRIVATWEG. BETRETEN VERBOTEN. Vor mir lag eine lange gewundene Auffahrt und ein altes, einst herrschaftliches Haus, vielleicht zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erbaut. Leonie hatte sich einzuschleichen versucht, doch ich wurde erwartet. Es hatte also wenig Sinn, irgendetwas anderes zu tun, als direkt zum Haus zu gehen.

Mein Handy klingelte erneut. »Kommen Sie zur Haustür. Keine Dummheiten, sonst stirbt die Rothaarige, und Sie dürfen zusehen.« Kurz und schmerzlos.

Ich schritt über eine prächtige Veranda zur Haustür. Ich öffnete die Tür und trat in einen großzügigen Vorraum.

»Hier«, rief eine Stimme.

Ich ging nach hinten und betrat einen Raum zur Linken, der einmal eine Bibliothek oder ein Arbeitszimmer gewesen sein mochte. Der Typ hatte vermutlich bei den Pfadfindern einiges gelernt, er war extrem gut vorbereitet. Er richtete eine Pistole auf mich und eine zweite gegen Leonies Schläfe. Ein Taser steckte in seinem Hosenbund. Leonie hatte blaue Flecken im Gesicht.

»Hi«, sagte er. »Freut mich, dass du schon wieder fit bist nach unserem kleinen Unfall.«

»Vitamine und Milch.«

»Leider keine gute Nahrung fürs Gehirn«, gab er zurück. Er tippte mit dem Lauf der Pistole gegen Leonies Kopf, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. »Ich denke, du weißt, was du zu tun hast.«

»Ich bin nicht bewaffnet«, sagte ich.

»Lügner. Wenn ich dich durchsuche, und du hast eine Knarre, schieß ich dem Miststück hier die Daumen weg.«

Ich zog die Pistole des Sicherheitsmanns aus meiner Hose und warf sie auf den Boden.

»Kick sie zu mir rüber«, forderte er mich auf.

Ich tat, was er verlangte.

»Für wen arbeitest du?«, fragte er.

»Nur für mich«, antwortete ich.

Er richtete die Waffe auf Mrs. Mings Kopf, und sie begann zu wimmern. »Ich glaub dir nicht. Ich weiß nicht, wer dir wichtiger ist – deine Partnerin oder deine Zielperson.«

»Ich will, dass keinem was passiert.«

»Dann sag mir, für wen du arbeitest.«

»Für niemanden«, beharrte ich. »Wir suchen Mrs. Mings Sohn.«

»Und du hast gedacht, ich bringe sie zu ihm?«

»War wohl ein Irrtum.«

Er lachte kurz. Ich war nun unbewaffnet, deshalb richtete er seine Waffen auf die beiden Frauen. Er spielte mit mir.

»Ich bin mir nicht sicher, wen du lieber lebend haben willst«, sagte er.

»Beide.« Drei Meter lagen zwischen uns, genug Zeit für ihn, um mich zu erschießen, falls ich etwas unternahm.

Ich wusste, dass er zumindest im Fall von Mrs. Ming bluffte. Er hatte sie hergebracht, um sie hier festzuhalten oder auszufragen, auf irgendjemandes Anweisung.

»Sind Sie von Novem Soles? Dann stehen wir nämlich auf derselben Seite, und das Ganze ist ein Missverständnis.« Mir kam der Gedanke, Anna könnte ein Kopfgeld auf Jack Ming ausgesetzt haben. Sie wollten ihn einfach nur beseitigen, es war ihnen egal, ob ich es tat oder ein anderer.

»Novem was?«

»Neun Sonnen.«

»Klingt wie ein Chinarestaurant.« Er musterte mich eingehend, während Mrs. Ming ihn mit hasserfüllten Augen ansah. »Außerdem stell ich hier die Fragen, nicht du. Wer ist deine Freundin?«

»Sie heißt Leonie.«

»Und wo finde ich Mila? Ich hab deiner Freundin ein bisschen auf den Zahn gefühlt, sie weiß es nicht.«

Eine Frage, mit der ich absolut nicht gerechnet hatte. Was zum Teufel ging hier vor? »Ich hab keine Ahnung.«

Er richtete die Pistole auf Leonies Auge. »Ich will wissen, wo ich Mila finde.«

»Mila ruft mich an, wenn sie mir was zu sagen hat«, antwortete ich.

»Du sagst mir jetzt sofort, wie ich Mila finde, oder ich erschieße eine der beiden.« Er drückte die Pistolen hart gegen ihre Köpfe. Mrs. Ming stöhnte verzweifelt, Leonie biss sich auf die Lippe und sah mich an. »Die Frage ist, welche. Wir werden’s wissen, wenn ich abgedrückt hab. Auf fünf. Eins. Zwei. Drei.«

»Sie trifft sich manchmal in einer Bar mit mir«, sagte ich hastig. »Sie ruft an, sie sucht die Bar aus.«

»Was heißt manchmal?«

»Einmal die Woche, wenn ich in New York bin«, log ich. »Aber es geht immer von ihr aus, nie von mir.«

Er musterte mich eingehend. »Setz dich auf den Boden. Die Hände hinter den Rücken.«

Ich gehorchte. Er nahm die Waffe von Sandra Ming weg, steckte sie in sein Holster und zog stattdessen ein Handy hervor. Er wählte eine Nummer. »Ja«, sagte er auf Russisch, »ich habe ihn. Er sagt, die Frau trifft sich jede Woche mit ihm in einer Bar, aber sie ist es, die ihn anruft.« Er hörte eine halbe Minute zu. »Ja. In Ordnung.« Er beendete das Gespräch.

Es ist nicht so einfach, drei Gefangene zu bewachen, wenn einer davon nicht gefesselt ist. Er hielt mich in Schach, indem er die Frauen bedrohte. Sie waren meine Fesseln.

Doch er war selbst gefesselt, weil er nicht selbst bestimmen konnte, was er tat. Er musste jemanden anrufen und Anweisungen entgegennehmen. Um es zu verbergen, hatte er Russisch gesprochen. Ich sollte nicht wissen, dass er nicht der Boss war.

Doch er ließ die zweite Pistole im Holster, er glaubte, die Situation unter Kontrolle zu haben. Ich beobachtete ihn. Er beobachtete mich. Eine Minute verstrich. Noch eine. Er erschoss keinen von uns, er stellte keine weiteren Fragen und sagte auch nicht, wie es weiterging.

»Irgendwie langweilig, wenn keiner redet«, sagte ich.

Ihm schien es jedoch nichts auszumachen.

»Lass mich raten. Dein Boss hat gesagt, du sollst uns keine Fragen stellen.«

Er sah mich an.

»Du sollst nicht erfahren, was unsere Informationen wert sind. Sonst könntest du auf die Idee kommen, dir selbst einen Teil abzuzweigen.«

»Halt die Klappe«, erwiderte er. »Du nervst mich. Du hast nicht mal versucht zu kämpfen. Feigling.«

»Hat er dir gesagt, wie hoch das Kopfgeld auf Mila ist?«

»Halt die Klappe«, versetzte er erneut, diesmal jedoch nach kurzem Zögern.

»Wenn er hier ist, wirst du vermutlich nichts anderes tun, als die Gräber schaufeln«, stichelte ich weiter. »Ich wette, du kriegst nicht mal ein Prozent von dem, was er für Mila kassiert. Zahlt er dir einen Stundenlohn? Bestimmt bist du deswegen ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten gekommen: um Gräber zu schaufeln, während dein Boss das große Geld macht, das er ohne deine Hilfe nie kriegen würde.«

Er starrte mich finster an. Sein Mund öffnete sich, und ein Speichelfaden zog sich zwischen den Lippen in die Länge.

»Er hat dir gesagt, du sollst auf uns aufpassen, bis er hier ist. Oder sie.« Ich schwieg für eine Minute. »Er hat dir auch nicht verraten, was Mrs. Mings Sohn einbringt, oder?«

Wieder starrte er mich nur schweigend an, doch ich sah, wie er schluckte.

Ich hatte ihm eine Schlinge um den Hals gelegt, und jetzt zog ich kräftig daran. »Auf Mila ist das höchste Kopfgeld ausgesetzt, das es je gegeben hat, mit Ausnahme von Staatsoberhäuptern oder Terroristen. Ich weiß, wie man an sie herankommt – aber du gibst die Informationen einfach an deine Bosse weiter und lässt sie den dicken Gewinn einstreichen? Dafür darfst du dann am Abend die Limousine waschen.«

»Ich wüsste ganz gern, wer diese Mila ist«, warf Leonie ein.

»Halt den Mund«, versetzte der Chauffeur. Er wandte sich wieder mir zu und lachte. »Was hättest du davon, wenn ich abkassiere und nicht mein Boss? Glaubst du, dann kommst du leichter mit dem Leben davon?«

»Mich hat auch mal ein Boss beschissen«, erklärte ich. »Ziemlich übel sogar. Seitdem mag ich keine Bosse mehr. Ich hab immer die Drecksarbeit gemacht, und sie haben abgesahnt. Mila ist mein Boss. Und ich hab keine Lust, für sie zu sterben.« Dann spielte ich den Trumpf aus. »Eine Million. Das ist das Kopfgeld für sie. Und ich kenne Leute, die mindestens eine Million, wenn nicht zwei, für Mrs. Mings Sohn zahlen würden. Er hat ihnen was gestohlen, und das wollen sie zurückhaben. Dein Boss wird sich auch diesen Gewinn unter den Nagel reißen.« Es blieb mir nichts anderes übrig, als zu improvisieren.

Er sah mich nur schweigend an.

Sein Handy klingelte erneut. »Ja?«, meldete er sich auf Russisch. »Ja, ich kann länger bleiben. Natürlich. Soll … soll ich ihnen auf den Zahn fühlen, ob sie was wissen?« Schweigen. »Ja, selbstverständlich.« Er trennte die Verbindung.

»Lass mich raten. Er will unbedingt verhindern, dass du mit uns sprichst«, sagte ich. »Ich hab mich also nicht getäuscht.«

»Er kommt bloß ein bisschen später.«

»Er will nicht, dass du weißt, was wir wissen. Er will den Kuchen nicht teilen.«

»Ich will nicht, dass dieser Mann sauer auf mich ist«, erwiderte er.

»Verstehe«, sagte ich. »Er hat die Macht. Und was hast du? Er kassiert drei Millionen Dollar. Eine Million für Mila, eine Million für den Jungen und eine Million für das, was der Junge gestohlen hat.«

Seine Lippen zuckten.

»Was soll das, zum Teufel noch mal?«, fuhr mich Leonie an. »Sei endlich still!« Sie funkelte mich zornig an, während ihr der Chauffeur die Pistole an den Kopf drückte.

»Wir zwei könnten einen Deal schließen«, schlug ich vor. »Du lässt die beiden laufen, und wir zwei holen uns das Kopfgeld. Zusammen.«

Er lachte. »Warum sollte ich dir trauen?«

»Weil ich die Wahrheit sage, und du glaubst mir auch, das spüre ich. Dein Boss sagt dir gar nichts, außer was du zu tun hast, und er überlässt dir den schwierigen Teil.« Mit besonderem Nachdruck fügte ich hinzu: »Du bist halt nur ein Laufbursche und kein Macher. Du willst die Dinge nicht selbst in die Hand nehmen.«

»Sei still, verdammt!«, versetzte Leonie.

»Du bist still!«, befahl der Mann. »Wenn ich sie laufen lasse, gehen sie zur Polizei.«

Es ist immer wieder amüsant, wenn ein nicht übermäßig intelligenter Mensch zu denken anfängt.

»Nein. Denn die Leute, die das Kopfgeld zahlen, haben ihre Kinder«, entgegnete ich. »Sie haben sie in der Hand. Die beiden werden nach Hause gehen und um ihre Kinder weinen.«

Manchmal passiert das Unerwartete. Manchmal wirkt ein Wort wie eine Bombe. Leonies Augen weiteten sich schockiert, ihr Unterkiefer zitterte. Sie drehte den Kopf, sodass die Pistole mitten auf ihre Stirn gerichtet war, und starrte den Mann an der Waffe vorbei an. Er erwiderte ihren Blick. Dann machte er den Fehler. Er blickte zu mir herüber. »Woher weiß ich, dass es stimmt, was du sagst?«

Lügen ist nicht schwer. Ich weiß nicht, warum die Psychologen so etwas behaupten. Lügen ist die einfachste Sache der Welt. Mit der Wahrheit ist es viel schwieriger. »Ruf deinen Boss an, und erzähl ihm, was ich dir gesagt habe«, schlug ich vor. »Sag ihm, du weißt jetzt, wo sich Mila aufhält und dass sie eine Million wert ist. Mal sehen, wie er reagiert. Welche Anweisung er dir dann gibt.«

»Wie wär’s, wenn ich die beiden ausschalte, und wir zwei machen einen Deal?«, schlug er vor. Er wollte mich auf die Probe stellen.

»Sam, hör auf!«, protestierte Leonie.

Ich zuckte nur mit den Schultern. Er lächelte.

Es gibt zwei Sorten von Killern. Solche, die nur töten, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen, und solche, denen das Töten leichtfällt. Der Typ hier gehörte zur zweiten Sorte. Er war innerlich klein und fühlte sich größer, wenn er Macht über ein Menschenleben besaß. Ich hatte ihm seine Kleinheit vor Augen gehalten. Die Sache war recht einfach: Seine Reaktion entschied, ob es mir leichtfallen würde, ihn zu töten, oder nicht. Ich glaube an den alten Spruch: Wie du mir, so ich dir.

»Du wirfst sie einfach so weg?«, sagte er zu mir. Er begutachtete Leonie, als würde ihm gerade bewusst, was für eine Vergeudung das wäre. Sie erwiderte seinen Blick, die Pistole an ihrer Stirn, und ich spürte ihre Wut noch aus drei Metern Entfernung, ein Feuer aus Zorn und Frustration.

»Das Gleiche macht dein Boss mit dir. Er wirft dich auch weg.«

Wahrscheinlich war es dieser Satz, der den Ausschlag gab. Ich löste damit einen Stolperdraht in Leonies Kopf aus. Die Vorstellung, dass jemand weggeworfen wird. Erst viel später wurde mir bewusst, welchen Nerv ich bei ihr getroffen hatte. Damals glaubte ich, sie würde an Daniel und ihre Tochter denken, doch ich wollte sicher nicht, dass sie in den Kampf eingriff.

Ich wollte nur seine Zweifel verstärken und seine Gier wecken, und sobald er mir nahe kam, um mit mir zu sprechen, würde ich ihn mir schnappen. Aber nun griff Leonie ihn an. Ihr Manöver war gut getimt. Jemand, der an einen Stuhl gefesselt ist, kann normalerweise nicht viel ausrichten. Ihr kam zugute, dass er direkt neben ihr stand, und sie wuchtete sich mit dem Stuhl und ihrem ganzen Gewicht gegen ihn, von unbändiger Wut getrieben.

Denn er stand ihr im Weg, er war schuld, dass ihr Kind sterben würde, weggeworfen wurde.

Leonie krachte gegen seine Beine, und er taumelte zur Seite und stieß gegen Sandra Ming, die erschrocken aufschrie.

Ich stürmte sofort los.

Die Zeit lief nicht plötzlich langsamer ab, wie es im Film in solchen Momenten oft der Fall ist. Hier in diesem alten Haus schienen sich die Dinge vielmehr zu beschleunigen und außer Kontrolle zu geraten. Der Killer drückte zweimal ab, und ich hörte einen Schrei, während ich zum Sprung ansetzte. Der Mann riss Leonie mitsamt dem Stuhl hoch und warf sie mir entgegen, als rechnete er damit, dass ich sie auffing. Ich tat es nicht, sondern duckte mich, und die Stuhlbeine schrammten über meinen Rücken. Sie krachte gegen die Wand hinter mir und landete auf dem schmutzigen Holzboden. Und bevor sich der Killer mir zuwenden konnte, stürzte ich mich auf ihn. Ich warf ihn hart gegen die Wand und versuchte ihn mit dem Unterarm am Kehlkopf zu treffen. Doch der Angriff fiel etwas zu hoch aus, und ich erwischte ihn mehr am Kinn als am Hals.

Wir krachten beide gegen die Wand, und er hakte sein Bein hinter mir ein und brachte mich zu Fall. Er hatte die Pistole fest in der Hand, als sein Handgelenk zu mir schwenkte. Ich stieß den Lauf der Waffe zur Seite, und er warf sich auf mich. Mit der rechten Hand drückte ich die Pistole von mir weg, mit der linken versetzte ich ihm kurze harte Schläge auf die empfindlichen Stellen: Hals, Solarplexus, Hoden. Drei schnelle brutale Hiebe. Er stieß zischend seinen fauligen Atem aus, und ich bekam sein Handgelenk besser in den Griff und brach es ihm. Ein lautes Knacken. Ich rammte ihm den Ellbogen gegen den Hals, und er hustete und spuckte Blut.

Geld oder Kind: Was lässt einen wohl verbissener kämpfen?

Leonie warf sich auf uns. Ihr Sturz hatte den Stuhl zertrümmert und sie von ihren Fesseln befreit. Sie griff nach seiner Pistole. Er versuchte, sie mit dem Ellbogen im Gesicht zu treffen, verfehlte sie jedoch.

Sie entriss ihm die Waffe. Doch statt ihm eine Kugel zu verpassen, schoss sie auf Mrs. Mings Handschellen und zog sie mit sich aus dem Zimmer. Sie ließ mich allein gegen den Kerl kämpfen.

Er schlug mir mit seiner gesunden Hand ins Gesicht, und ich stürzte gegen Mrs. Mings Holzstuhl. In diesem Fall eine geeignete Waffe. Ich schnappte mir den klapprigen Stuhl mit einer Hand und schlug zu, so hart ich konnte. Wieder und wieder, während ich seinen Hieben auswich. Er schrie vor Schmerz und Frustration.

Ich legte meine ganze Kraft hinein, ein Stuhlbein brach, und ich warf es weg. Der Killer rollte sich zur Seite, und ich schmetterte den Stuhl knapp neben ihm in den Holzboden. Die Sitzfläche löste sich und schlitterte über den Boden. Sein Gesicht war inzwischen ebenso blutig wie meine Hände. Er stöhnte gequält, sah, dass er keine Chance hatte und ich ihn zu Tode prügeln würde, und flüchtete sich zum Fenster.

»Sag mir, wer dein Boss ist, dann lass ich dich leben!«, rief ich.

Er gab einen unverständlichen Laut von sich, dann stürzte er sich durch das Fenster, die Arme hochgerissen, um seinen zerschundenen Körper zu schützen. Es waren nur eineinhalb Meter, doch er landete so unkontrolliert auf dem Grashügel vor dem Haus, als wäre er aus großer Höhe abgestürzt.

Das letzte Bruchstück des Stuhlrückens, das ich noch in der Hand hielt, war einen halben Meter lang und vorne spitz wie ein Speer.

Ich sprang aus dem Fenster und folgte ihm.

Er wankte zwischen den Bäumen hindurch, vom bloßen Überlebenswillen angetrieben. Doch ich hatte ihn übel zugerichtet: Wahrscheinlich hatte ich ihm nicht nur das Handgelenk gebrochen, sondern auch mehrere Rippen, denn er rannte nicht allzu schnell. Er hatte die Kontrolle über die Situation verloren und wollte sich nur noch in Sicherheit bringen. Er tauchte zwischen den Eichen hindurch, und während ich ihn den Hügel hinunter verfolgte, stolperte er über einen Felsbrocken und stürzte.

Ich warf mich auf ihn und hob drohend das spitze Holzstück. »Rede«, sagte ich.

Er spuckte mich an.

»Für wen arbeitest du?«

»Du bist so oder so im Arsch. Du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst.«

»Sag’s mir.«

Er lächelte mit seiner aufgeschlitzten Lippe. »Nein.«

Ich hielt ihm den Holzspieß direkt vor die Augen. »Ich ramm dir das Ding zwischen die Rippen, wenn du nicht redest.«

»Ich sollte diese Ming und ihren Sohn schnappen, falls er auch da ist. Sie herbringen und rauskriegen, was er in der Hand hat.«

»Und uns hier festhalten.«

»Ja.«

»Was weißt du über Mila?«

»Mein Boss kennt sie. Er weiß, dass du mit ihr zu tun hast. Ich hatte vorher noch nie von ihr gehört.«

»Für wen arbeitest du?«

»Ich kann’s dir nicht sagen, weil ich es selbst nicht weiß.«

»Er muss doch einen Namen haben.«

»Glaubst du wirklich, er hat mir seinen echten Namen verraten?«

»Wie bekommst du deine Aufträge von ihm?«

»Er ruft mich an. Ich tu, was er verlangt, und er überweist eine Stange Geld auf ein Konto auf den Caymans.«

»Was hast du früher gemacht?«

»Ich war beim lettischen Geheimdienst«, sagte er.

Sehr kleine Behörde. »Haben sie nicht gut gezahlt?«

»Nein. Man verdient mehr, wenn man selbstständig arbeitet. Ich fahr die Limousine und mach andere Sachen, die mein Boss braucht. Bitte.« Ihm war klar, dass ich ihm mit dem Spieß die Luftröhre durchtrennen konnte. »Lass mich laufen«, bat der Mann. »Bitte.«

Er selbst hätte mir oder Leonie gegenüber nicht die geringste Gnade gezeigt.

»Steh auf«, sagte ich. »Gib mir deine Brieftasche und den Autoschlüssel.«

Er gehorchte. Sein Atem kam keuchend: Ich hatte ihm mit dem Stuhl tatsächlich mehrere Rippen gebrochen. Sein Gesicht war blutverschmiert, Hemd und Hose zerrissen. Er vermied es, mir in die Augen zu schauen. »Du kannst mich nicht einfach hierlassen, er bringt mich um.«

Der Holzspieß fühlte sich schwer an in meiner Hand. Ich konnte ihn nicht kaltblütig erstechen. »Geh, und bleib nicht stehen, bis du Pennsylvania erreichst. Falls ich dich noch einmal sehe, bist du tot.«

Er nickte. Stolperte ein paar Schritte und fiel zu Boden.

»Steh auf«, befahl ich ihm.

Er nickte erneut, und ich beugte mich hinunter, um ihn hochzuziehen.

Der Stein traf mich seitlich am Kopf, und ich sank auf die Knie, vor Schmerz benommen. Er stürzte sich auf mich und versuchte, mir den Spieß zu entreißen. Dann hob er den Stein erneut und knallte ihn mir ins Gesicht. Ich drehte mich im letzten Moment weg, sodass er meine Nase verfehlte, doch er traf mich am rechten Auge. Es brannte wie Feuer.

Ich spürte, dass das Ende des Spießes in der Erde steckte, und drückte den Mann weit genug von mir weg, um ihm das Holz in die Seite stoßen zu können. Er heulte auf vor Schmerz, doch der Spieß hatte die Haut nicht durchstoßen. Er wand sich herum, und im nächsten Augenblick war ich über ihm und rammte ihm das Holz mit aller Kraft in den Bauch.

Ich kehrte zum Haus zurück, benommen vor Schmerz und mit dem säuerlichen Geschmack von Kotze im Mund. Mein Auge war zugeschwollen. Es schmerzte, war aber nur ein normales Veilchen, die Augenhöhle war nicht gebrochen. Wankend schleppte ich mich zum Haus.

Leonie stand zitternd vor der Tür. »Mrs. Ming …«, begann sie. »Schnell, im Haus. Wo ist der Kerl?«

»Tot.« Ich erwähnte nicht, dass es kein schöner Tod war, der ihn ereilt hatte.

»Du hast ihn umgebracht?«

»Von allein ist er nicht gestorben. Danke übrigens für die Hilfe. Und dass du gleich auf ihn geschossen hast, als du die Pistole hattest. Wirklich sehr hilfreich.«

»Ich musste mich um Mrs. Ming kümmern …«, stöhnte sie, und ich rannte ins Haus.

Eine verirrte Kugel des Killers hatte sie in die Brust getroffen. Ihr Gesicht war grau wie ein bewölkter Himmel, Blut lief ihr aus Mund und Nase. Leonie hatte versucht, die Blutung zu stillen. Ich kniete mich zu ihr.

»Mrs. Ming.«

Ihre Augen flatterten auf.

»Mrs. Ming. Wo ist Jack?«

»Sag ich nicht«, presste sie zwischen den blutigen Lippen hervor. »Ihr wollt ihn umbringen.«

»Geht er zum Haus seines Vaters in Brooklyn? Er hat die Schlüssel mitgenommen.«

»Ich sag nichts … Sie wollen meinem Sohn etwas antun.«

»Ich kann Ihrem Sohn helfen, ihn schützen«, erwiderte ich.

»Lügner.«

Oh Gott, bitte, dachte ich, bitte lass sie mit mir sprechen. »Mrs. Ming. Ich war früher bei der CIA. Ich will Ihrem Sohn nichts tun. Schauen Sie mich an.« Ihr trüber Blick richtete sich auf mein zerschundenes Gesicht. »Ich hab den Mann getötet, der Sie entführt hat. Ich will Ihnen helfen. Ich hab den Mann vorhin angelogen. Ich bin der Einzige, der Jack jetzt helfen kann. Die CIA sucht ihn.«

»Die CIA hat mich angerufen …«, begann sie mühsam. »Lügner. Alles Lügner.« Ihre Augenlider flatterten.

Ihre Worte trafen mich hart. »Wer von der CIA hat Sie angerufen? Wer?«

Ihre Lippen zuckten, und sie atmete so schwer, als wäre es das letzte Mal. »Sie wollten einen Deal … Jack schützen, mich auch … falls Sie kommen, sollte ich Sie hinhalten, bis sie da sind …«

»Wer von der CIA hat mit Ihnen gesprochen, Mrs. Ming?«

Doch sie wollte nicht mehr darüber reden, nicht ihre letzten Atemzüge dafür verschwenden. »Mein Sohn …«, brachte sie hervor. »Helft meinem Sohn, bitte.«

Was sollte ich ihr versprechen? Ich sollte ihren Sohn töten, um meinen zu retten. Ich nahm ihre Hand. »Jack wird nichts passieren«, sagte ich. »Ich verspreche es Ihnen.«

»Ich hab ihn geliebt«, stöhnte sie. »Ihm verziehen …« Ihre Stimme stockte so wie ihr Atem, und im nächsten Augenblick war es zu Ende.

»Oh mein Gott«, sagte Leonie.

»Bist du okay?«

Sie nickte und starrte die tote Frau an. Sie drückte die Finger an den Hals der Frau, wie um sicherzugehen, dass ihr nicht mehr zu helfen war. »Was tun wir jetzt? Sein Boss kommt her …«

»Ich weiß. Es gibt zwei Möglichkeiten. Ich weiß, wo Jack Ming sich versteckt. Vielleicht ist er noch dort, wenn wir gleich hinfahren. Oder wir warten hier auf den Boss des Fahrers und finden heraus, mit wem wir’s zu tun haben. Beides können wir nicht tun.«

»Jack Ming«, antwortete sie, ohne zu zögern. »Keine Frage.«

Die letzte Minute
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