25

Manhattan, New York City

Eine Stunde später sah Jack sie.

Seine Mutter schritt in ihrem typischen steifen Gang den Bürgersteig entlang. Sie trug einen hellblauen Regenmantel, ihr Haar war makellos gestylt und mit mehr grauen Strähnen durchsetzt, als er es in Erinnerung hatte. Sie war mit Einkaufstüten aus einem nahe gelegenen Lebensmittelladen bepackt. Rasch überquerte er die Straße und lief ihr entgegen.

Bitte, dreh dich nicht weg, dachte er. Bitte.

Er blieb stehen und wartete, dass sie zu ihm kam. »Hi, Mom.«

Sie blieb ebenfalls stehen und studierte ihn unter ihrem Regenschirm wie ein altes Foto, von dem sie nicht mehr wusste, wann und wo es geknipst worden war. Ihr Schweigen zog sich quälend in die Länge. Er wünschte sich, der Beton würde sich unter seinen Füßen öffnen und ihn verschlucken. Regentropfen fielen von ihrem leicht geneigten Schirm. »Jack. Hallo.« Sie wirkte überhaupt nicht überrascht.

Er griff nach ihren Einkaufstüten. »Die sehen schwer aus.« Er sah, dass sie Reis und Huhn gekauft hatte, aber auch Oreo-Kekse, Äpfel und Jalapeño-Kartoffelchips. Seltsam, sie kaufte immer noch seine Lieblingssorte.

Sie ließ ihn die Tüten tragen. »Ja, sind sie. Danke.«

»Können wir kurz reden?«

»Kurz?«, fragte sie, und er hörte den leisen Schmerz in ihrer Stimme.

»Ich weiß doch, wie beschäftigt du bist, Mom.« Er hatte es in seiner Jugend oft genug zu hören bekommen: Nicht jetzt, Jack, ich hab zu tun. Ja, Liebling, ich seh mir deine Zeichnung gleich an, Mama ist beschäftigt. Und schließlich: Worüber will die Polizei mit dir sprechen? Ich hab jedenfalls einen Termin beim Botschafter. Einmal, als er neun Jahre alt war, hatte er verkündet, er sei der Botschafter von Kindland, dem Heimatland der Kinder, und sie hatte ihn lachend umarmt und gar nicht begriffen, dass er nur ihre Aufmerksamkeit wollte. Er war stolz auf sich, dass seine Stimme frei von Bitterkeit war.

»Eigentlich hab ich nicht viel zu tun, und es freut mich, dich zu sehen.« Sie beugte sich vor und umarmte ihn linkisch. Das letzte Mal hatte sie ihn umarmt, als er vor zwei Jahren sein Studium an der NYU abgeschlossen hatte. Bevor das FBI anklopfte und ihn suchte. Er widerstand dem Drang, sie so fest an sich zu drücken, dass sie sich nicht mehr losreißen konnte.

Sie legte ihm die Hand auf die Wange. Er hatte Mühe, nicht die Augen zu schließen vor Erleichterung. »Was ist denn passiert? Die Narbe an deinem Hals, bist du operiert worden?«

»Ein Unfall.« Sie haben auf mich geschossen, Mom. Jemand hat auf deinen Sohn geschossen. Doch ihr das zu sagen, brachte er nicht fertig.

»Was für ein Unfall?«

»Ist nicht so wichtig.«

»Aber natürlich ist es wichtig, Jack. Warum hast du nicht angerufen? Wo warst du die ganze Zeit?«

»Das spielt keine Rolle.« Er hielt seine Mutter fest, bis er spürte, wie sie ihre Hände an seinen Rücken drückte.

»Jack, ist alles in Ordnung? Vielleicht sollten wir reingehen.« Ein Hauch von Angst lag in ihrer Stimme.

Er löste sich von ihr und spürte Tränen auf seinem Gesicht, die sich mit den Regentropfen mischten. Es war ihm sehr peinlich. Sie sagte nichts, als er sich die Tränen mit dem Handrücken wegwischte. Ihr Gesicht war trocken, wie immer.

»Bist du gekommen, um dich der Polizei zu stellen?«

Sie war Diplomatin, also gab er eine diplomatische Antwort. »Ja. Ich mag nicht mehr weglaufen und mich verstecken. Aber zuerst wollte ich dich sehen. Bevor ich zur Polizei gehe.« Nein, Mom, ich bin gekommen, um Lebewohl zu sagen, hätte er am liebsten geantwortet. Um mich für immer zu verabschieden. Ich hätte nicht nach New York fliegen sollen. Es tut zu weh.

»Komm doch rein, wir trinken einen Kaffee und rufen den Anwalt an.«

Sie war immer noch genauso praktisch und effizient wie früher, dachte er. »Ich möchte zuerst mit dir sprechen. Nur wir zwei. Bevor wir einen Anwalt anrufen, okay?«

Seine Mutter eilte mit ihm am Portier vorbei, und sie fuhren schweigend mit dem Fahrstuhl zu ihrer Wohnung hinauf. Er wollte ihr ins Gesicht schauen, doch sein Blick blieb auf den tropfenden Regenschirm gerichtet. Jack trat in die Wohnung ein und spürte trotz der frühlingshaften Wärme eine unangenehme innere Kälte. Die Wohnung war so makellos, wie er sie in Erinnerung hatte. Die roten Wände mit ihrer Sammlung chinesischer Kunst geschmückt, dazwischen Fotos von seiner Mutter mit Präsidenten, Unternehmern, Diplomaten und anderen hohen Amts-und Würdenträgern. Kunst, die sie auf ihren Reisen im Dienst des Außenministeriums gesammelt hatte: Hongkong, Vietnam, Südkorea, Peru, Luxemburg. Es war, als hätte sie wie eine Elster überall auf der Welt schöne Dinge gesammelt, um ihr Nest damit zu schmücken. In einer Ecke hing ein Familienfoto, das ihn selbst zusammen mit seinem Vater zeigte. Ganz am Rande ihres Lebens, im äußersten Winkel.

»Magst du koffeinfreien Kaffee?«, fragte sie.

»Hast du auch richtigen? Ich bin ziemlich erledigt.«

»Ähm, nein. Zu viel Koffein macht mich unruhig.«

Typisch Mom. Das Einzige, was dich unruhig macht, ist Kaffee, dachte er verbittert. »Koffeinfreier ist schon okay.«

»Hast du Hunger?«

»Nein.« Er folgte ihr in die Küche und sah zu, wie sie mit der Kaffeemaschine hantierte. »Wie geht’s dir so, Mom?« Ich hätte nicht herkommen sollen. Der Drang, ihr alles zu erzählen, eine große Beichte abzulegen und sie um Hilfe zu bitten, war plötzlich überwältigend. Verabschiede dich von ihr und verschwinde, schau nicht zurück, nie mehr.

»Mir geht’s gut.«

»Machst du immer noch Unternehmensberatung?«

»Ja, gelegentlich. Ich möchte wieder ein Buch schreiben.«

»Das freut mich.«

»Jack, wo hast du dich versteckt?«

»In den Niederlanden.«

»Darauf hätte ich auch kommen können. Dorthin zieht es so viele junge Leute. Du bist wegen der Drogen hingegangen, nehme ich an.«

»Nein, Mom, ich hab weiterstudiert. Ich hab zwar auch einmal gekifft, aber ehrlich gesagt lese ich lieber ein Buch oder seh mir einen Film an.«

Sie blinzelte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Obwohl du auf der Flucht vor der Polizei bist, besuchst du die Uni.«

»Na ja, unter einem anderen Namen.«

»Wie bist du zu einer neuen Identität gekommen? Zeugnisse? Wovon hast du die Studiengebühren bezahlt?« Sie hob abrupt die Hand, wie um sich vor etwas Unangenehmem zu schützen. »Du brauchst es mir nicht zu sagen. Besser, ich weiß nicht, was du noch angestellt hast. Das kannst du alles dem Anwalt erzählen. Mein Gott, jetzt werden sie dich auch in den Niederlanden anklagen.«

Vielleicht sogar wegen Totschlags, dachte er. Aber das erwähnte er besser nicht.

»Ich würde gern Dads Grab sehen.«

»Es gibt kein Grab. Ich habe ihn einäschern lassen. Er ist im Arbeitszimmer.«

»Er ist hier?«

Sie drehte sich zur Kaffeemaschine um. »Natürlich. Ich werd die Asche doch nicht wegwerfen.«

»Verstreuen, meinst du.«

»Jedenfalls ist er hier.«

Jack ging ins Arbeitszimmer hinüber. Auf einem großen Bücherregal stand eine Urne neben einigen Bänden Kunstgeschichte. Sie sah hübsch aus. Er spürte heiße Tränen in sich aufsteigen, während sein Blick über den Schreibtisch und den Teppich wanderte. Der Schmerz war wie ein Brunnen, tief und dunkel, aus dem die schrecklichen Erinnerungen zwanghaft hervorkamen.

»Wie konntest du nur so leichtsinnig sein?«, rief sein Vater schockiert und beschämt. »Die Polizei wird dich festnehmen. Was du getan hast, ist ein Verbrechen!«

»Ich weiß.«

»Ein Verbrechen! Womit haben wir das verdient, deine Mutter und ich? Du hast dein Leben ruiniert! Und wofür? Um zu beweisen, dass du schlauer bist als alle anderen? In Wirklichkeit hast du nur bewiesen, dass du unglaublich dumm bist.«

»Ja. Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

»Was tut dir leid? Dass du’s getan hast oder dass sie dich erwischt haben?«

»Ich weiß nicht. Ich hab’s halt getan.«

»Du bist nicht unschuldig? Es ist kein Irrtum?«

»Nein, Sir. Ich hab das alles getan.«

»Warum? Warum? Hast du die gestohlenen Informationen verkauft?«

»Nein. Ich weiß nicht, warum ich’s getan hab.«

»Du erwartest doch nicht …« – sein Vater musste erst einmal Luft holen –, »du erwartest doch nicht, dass ich dir das glaube? Dass ein schlauer Bursche wie du nicht weiß, warum er etwas getan hat?«

»Ich hab’s einfach getan, es ist eben so.« Jacks Stimme brach. »Ich hab dich lieb, Dad, es tut mir leid. Ich hab dich lieb.«

»Warum hast du dann deine Zukunft einfach weggeschmissen?«

»Das ist alles, was dich interessiert, meine Zukunft?«

»Willst du vielleicht sagen, du hast es getan, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen, Jack? Das kann’s doch nicht sein, das wär so kindisch.«

»Ich weiß nicht, warum. Ich weiß es wirklich nicht.«

Der Kummer und die Enttäuschung in den Augen seines Vaters hatten ihn tief getroffen. Sein Vater hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt, einen gelben Notizblock hervorgeholt und begonnen, seine Gedanken niederzuschreiben. »Wir müssen uns überlegen, wie es jetzt weitergeht. Deine Mutter … und ich …«

Sein Vater krampfte überrascht die Faust um den Hemdstoff über seinem Herzen. »Das ist … nicht gut …«, stammelte er, dann brach er auf dem Teppich zusammen.

Seine Mutter stürmte herein und schrie den Namen seines Vaters. Jack griff zum Telefon, wählte 9-1-1 und flehte, der Krankenwagen möge sich beeilen.

Er legte den Hörer auf, und seine Mutter sagte ganz ruhig: »Geh hinaus.«

»Der Krankenwagen kommt, Mom.«

»Geh hinaus.«

»Ich kann Dad doch nicht alleinlassen.«

»Du bist schuld mit deiner egoistischen Dummheit. Ich will dich nicht mehr sehen.« Sie kniete sich zu ihrem Mann; ihren Sohn schaute sie nicht mehr an. »Geh, sonst nimmt dich die Polizei fest.«

»Mom, ich kann Dad nicht im Stich lassen.«

»Im Gefängnis gibt es keine Computer. Es ist besser, du verschwindest jetzt.« Seltsam, ihre kalte Gelassenheit.

»Das ist mir egal.«

»Er ist tot.« Seine Mutter funkelte ihn so eindringlich an, dass es ihm Angst machte, denn was er in ihren Augen sah, war Hass. »Du hast ihn mir weggenommen. Geh. Geh mir aus den Augen, Jack. Ich will dich nie wiedersehen.«

Er hatte sich umgedreht und war weggerannt. Als er aus der Haustür kam, brauste der Krankenwagen schon mit Blaulicht heran, zu spät.

Seine Mutter stand in der Tür und beobachtete, wie er die Urne anstarrte. »Ich glaube, rein juristisch wäre es besser, du würdest dich gleich an einen Anwalt wenden.«

»Ich will einen Abend hier sein, Mom. Zu Hause. Bitte.«

»Natürlich.« Doch er hörte die Anspannung in dem einen Wort. Als wäre sie es, die Ärger bekäme. Sie kehrte in die Küche zurück, und er ging ihr nach.

»Ich pass auf, dass mich niemand sieht. Ich weiß, was du damals gesagt hast, aber wenn du mich nicht sehen wolltest, hättest du mich nicht reingelassen. Möchtest du nicht auch, dass wir noch ein bisschen Zeit miteinander haben?« Sie schwieg und wandte sich wieder der Kaffeemaschine zu.

»Natürlich«, sagte sie schließlich. Sie dachte wieder daran, was er getan hatte, das sah er ihr an ihrem verkniffenen Gesicht an. Doch was sie wusste, war gar nichts im Vergleich zu dem, was er sich in Amsterdam geleistet hatte. Zuerst hab ich für ziemlich üble Typen gehackt. Ich wusste nicht, wie schlimm sie waren, doch jetzt wollen sie mich umbringen, weil ich ein Notizbuch habe, das ihnen gefährlich werden kann. Ich verkaufe es an die CIA, dann siehst du mich nie wieder, Mom. Aber das wolltest du ja sowieso.

»Ich finde, wir sollten gleich morgen einen guten Strafverteidiger anrufen.«

»Du hast recht, Mom. Morgen, okay?«

Seine Mutter wandte sich ihm zu, ein unsicheres Lächeln auf den Lippen. »Ich hab recht? Das hab ich von dir noch nie gehört. Ich bin ja fast sprachlos.«

»Dann freu dich einfach, dass es so ist. Wenigstens ein Mal.«

Zu seiner Überraschung lachte sie. »Okay, dann genieße ich das Lob. Es freut mich, dich wiederzusehen, Jack. Wirklich.«

»Mom …«

Eine peinliche Stille breitete sich zwischen ihnen aus wie ein Vorhang. Sie schienen beide nicht recht zu wissen, was sie sagen sollten, um das Schweigen zu überbrücken.

»Ich hätte nicht nach Amsterdam gehen sollen, Mom.« Die Worte hingen in der Luft, und er hätte sie am liebsten wieder heruntergeholt und zurückgenommen. Was dachte er sich bloß dabei, ein solches Geständnis zu machen? Es war völlig unsinnig. Er war nur gekommen, um sich zu verabschieden, bevor er sich mit dem Geld der CIA nach Australien oder auf die Fidschi-Inseln absetzte, oder nach Thailand, egal wohin. Was erhoffte er sich denn noch? Sie wusste nicht, warum er hier war: weil er sie ein letztes Mal sehen musste. »Das Gefängnis wäre besser gewesen. Irgendwann hätte man mich entlassen. Jetzt werd ich nie frei sein.«

Sie schwieg, und die Kaffeemaschine blubberte in der Stille. »Welche Probleme hast du außerdem, Jack?«

Er spürte, wie es in ihm zu brodeln begann. Er blinzelte. »Ich hab keine Probleme, Mom. Also, keine neuen.« Er kämpfte dagegen an, doch die Verzweiflung stieg ihm in die Kehle.

»Lüg nicht, Jack. Ich weiß … ich hab dir früher nicht viel geholfen.« Sie knetete den Spüllappen in ihren Händen. »Lass mich dir jetzt helfen.«

»Ich kann nicht.«

»Du kannst.«

»Ich … ich hab mich mit üblen Typen eingelassen, Mom, ich hatte keine Ahnung, wie …«

Sie machte einen Schritt auf ihn zu. »Erzähl’s mir.«

»Sie … sie hätten mich fast umgebracht. Ich wurde angeschossen. Schwer verletzt. Sie haben sogar jemanden zu mir ins Krankenhaus geschickt, um mich zu töten.«

Sie wurde ganz blass, sichtlich schockiert. »Oh, mein Gott, Jack.«

»Ich hab den Typ umgebracht und bin geflüchtet. Ich glaube, sie werden es wieder versuchen.«

Er sah, wie es in ihr arbeitete: Sie überlegte sich bereits fieberhaft die nächsten Schritte. »Es war Notwehr«, fügte er hinzu.

»Erzähl mir, was passiert ist.«

Das tat er.

»Hast du die Pistole gesehen, bevor du zugeschlagen hast?«

Die Frage war wie ein Schlag ins Gesicht. »Er hat auf mich geschossen. Mom, um Himmels willen, glaubst du mir nicht?«

»Doch. Natürlich. Und dann bist du geflüchtet.«

»Ja.«

»Und dann?«

Er wollte ihr nicht von dem Notizbuch erzählen. Er trug es auch jetzt mit sich, an den Rücken geklebt. »Dann hat mir eine Freundin geholfen, die Niederlande zu verlassen. Mit einem belgischen Pass.« Er berichtete ihr das im gleichen Ton, in dem er früher vielleicht zugegeben hätte, dass er die Schule geschwänzt hatte.

»Du bist also mit einem falschen Pass in die Vereinigten Staaten eingereist, und die niederländische Polizei sucht dich?«

»Ja. Es ging nicht anders.«

»Jack, du tust aber auch immer das Gegenteil von dem, was du tun solltest.« Sie legte den Spüllappen auf die Arbeitsplatte. »Ich glaube, wir brauchen jetzt etwas Stärkeres zum Kaffee.«

»Mom. Es tut mir leid.«

Ihre Reaktion überraschte ihn. »Jack, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Dafür, dass du überlebt hast und dich in Sicherheit bringen willst.«

»Ich habe mehr gesagt, als ich wollte.«

Sie blieb auf dem Weg zur Arbeitsplatte stehen. »Mehr, als du wolltest? Heißt das, du wolltest gar nicht ehrlich zu mir sein?«

»Ich wollte es dem Anwalt erzählen«, log er. »Dich wollte ich damit nicht belasten.«

»Oh, Jack. Du hältst mich wohl für eine arme zerbrechliche Witwe?«

Zwei Seitenhiebe auf einmal. »Du bist nicht zerbrechlich, Mom, das weiß ich. Und du brauchst mich auch nicht daran zu erinnern, dass du Witwe bist. Du bist immer noch meine Mutter.« Die Worte sprudelten aus ihm heraus.

»Du hast recht. Und was ich damals zu dir gesagt habe, als dein Vater starb … na ja, es ist Vergangenheit. Du kannst mir jedenfalls nicht die Schuld daran geben, dass du seitdem noch größeren Ärger bekommen hast.«

Er blinzelte. »Ich gebe dir überhaupt keine Schuld, Mom.«

»Oh, doch. Du hältst mich für eine schlechte Mutter.«

»Nein, das stimmt nicht.« Er konnte ihr nicht ins Gesicht schauen.

Zum Glück wechselte sie das Thema. »Warum genau sind diese Leute hinter dir her?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Ich sage meine Termine für heute Nachmittag ab«, schlug sie vor. »Wir überlegen uns, wie wir vorgehen. Nur wir zwei. Wollen Sie dich umbringen, weil du etwas weißt?«

»Ja, Ma’am.«

»Was?«

»Eigentlich weiß ich gar nichts. Sie glauben es nur.« Mit der Wahrheit hätte er sie in Gefahr gebracht. Das konnte er nicht tun. Er hatte schon seinen Vater verloren und war nicht ganz unbeteiligt daran; er wollte nicht auch noch seine Mutter verlieren.

»Okay. Aber du hast Informationen, die du der Polizei geben kannst. Wir müssen versuchen, einen Deal zu schließen. Was hast du in der Hand?«

Ganz die Diplomatin, immer auf einen Deal aus. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre gegangen. Würde sie die Polizei anrufen, noch bevor er beim Fahrstuhl war? Oder würde sie ihn einfach wieder verschwinden lassen, weil das für sie letztlich das Bequemere wäre?

»Ich kann ihnen einige Namen nennen. Ein paar Typen in Amsterdam und New York.«

»Gut, das ist schon mal ein Anfang. Aber wenn sie dich umbringen wollen, musst du doch mehr wissen als nur diese Namen.«

»Eigentlich nicht.«

»Warum … ich weiß, du bist erschöpft. Du solltest erst mal duschen und dich umziehen. Deine alten Sachen werden noch passen. Ich hab alles aufgehoben.«

»Mom.«

»Ich wusste, du kommst irgendwann nach Hause.«

Deinen Glauben hatte ich nicht, dachte Jack. Plötzlich erschien ihm der Gedanke an sein altes Zimmer unglaublich verlockend. Ein Kokon, in dem er sich in den alten Jack Ming zurückverwandeln konnte, der nichts angestellt hatte und nicht von Verbrechern gejagt wurde, der sich nicht unter falschem Namen in sein Heimatland einschleichen musste, nicht der Sohn, der der Mutter seine Sünden beichten musste. »Ich will trotzdem erst morgen mit dem Anwalt sprechen, Mom, okay? Wir rufen ihn gleich morgen früh an.« Er würde alles mitnehmen, was er für sein Treffen mit der CIA benötigte, und verschwinden. Das hier blieb immer noch sein Abschied von seiner Mutter.

Sie schenkte ihm Kaffee ein, und er trank ihn schweigend. Er schmeckte köstlich. Seine Mutter hatte immer schon guten Kaffee gekocht, und er fand es kurios, dass er sich weniger an ihre Erdnussbutter-Sandwiches, an selbstgemachte Eiscreme oder gefüllte Wan-Tan-Taschen zurückerinnerte als an ihren Kaffee. Sie hatte ihn zu früh Kaffee trinken lassen. Nie hatte sie etwas dagegen gehabt, wenn er sich einen Schuss in seine Milch goss. Einfach nur, um zu sehen, wie sie reagierte.

»Hast du Hunger?«, fragte sie, wie man es von einer fürsorglichen Mutter erwarten würde.

»Ja.«

»Dusch doch erst mal, und zieh dir was Frisches an, ich mach das Mittagessen. Dann können wir reden.«

»Gut.«

Sie ging zum Kühlschrank und blickte hinein, offenbar überzeugt, die richtigen Zutaten zu Hause zu haben. Er ging in sein Zimmer. Es war wie ein Echo seines alten Lebens: gerahmte Urkunden von schulischen Leistungen, vor allem in Mathematik, die abgegriffenen Taschenbücher, die er in seiner Jugend verschlungen hatte, ein ordentlicher Stapel Videospiele, die er bis ins kleinste Detail durchexerziert hatte. Eine Reihe CDs, von denen er vergessen hatte, dass er sie besaß, von Bands, die irgendwelche Ängste in den Vorortsiedlungen besangen. Damals hatte er geglaubt zu wissen, was es hieß, in einer misslichen Lage zu stecken. Welch ein riesengroßer Irrtum.

Er drehte die Dusche auf, wartete und hielt die Hand in den Wasserstrahl. Kalt. Er wollte es so heiß wie möglich, um den ganzen Amsterdamer Schmutz wegzuspülen. Es hatte ihn immer schon genervt, in der Duschkabine zu stehen und zu warten, bis das Wasser warm war. Vielleicht konnte er inzwischen alles holen, was er brauchte, während seine Mutter in der Küche hantierte.

Er tappte über den Flur zum Arbeitszimmer seines Vaters. Eigenartig, dachte er, dass seine Mutter in einer Wohnung lebte, die mehr von Männern geprägt war, die sie verlassen hatten, als von ihrem eigenen Leben. Er eilte ins Arbeitszimmer, um den Schreibtisch herum. Hier vor diesem Schreibtisch hatte das Herz seines Vaters aufgehört zu schlagen, und er wollte seinen Blick nicht auf dieser Stelle verweilen lassen. Es war schaurig: Er hatte den dumpfen Aufprall seines Körpers immer noch im Ohr.

Jack öffnete die Schreibtischschublade. Die Schlüssel für die sieben Häuser, die sein Vater in der New Yorker Gegend besaß, lagen noch an ihrem Platz. Gott sei Dank hatte seine Mutter sie nicht verkauft. Und gut, dass er nicht danach gefragt hatte. Er setzte sich an den Laptop und rief die Website von Ming Properties auf. Das Haus in Williamsburg, Brooklyn, stand noch leer. Sein Vater hatte die Kosten für die Sanierungsarbeiten nicht allein tragen wollen und war gestorben, bevor er einen Partner gefunden hatte. Mom hatte ebenfalls nichts unternommen, zum Glück. Jack steckte die Schlüssel ein. Seine Mutter würde kaum merken, dass die Schlüssel fehlten; zu sehr würde sie mit seiner Rückkehr und seinem neuerlichen Verschwinden beschäftigt sein.

Neben den Schlüsseln lag die Pistole seines Vaters. Er hatte sie besorgt, als er noch Häuser in weniger feinen Wohngegenden besaß. Jack prüfte die Waffe: drei Patronen im Magazin. Er vergewisserte sich zweimal, dass sie gesichert war, und nahm sie an sich. Ein seltsames Gefühl. Er würde sie in seinen Rucksack stecken.

Er kehrte zur Dusche zurück – das Wasser würde inzwischen schön heiß sein –, da hörte er ihre leise Stimme. Bestimmt dachte sie, er stehe unter der Dusche.

Sie stand mit dem Rücken zu ihm und sprach leise vor dem Hintergrundrauschen des heißen Wassers. »Ja, er ist hier. Wohin soll ich ihn bringen?«

Er trat von der Tür zurück, das Notizbuch juckte an seinem Rücken.

»Nein, das tu ich nicht. Aber ich will einen Deal für ihn herausholen.«

Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Sie hatte gelogen. Wen zum Teufel rief sie an? Einen Anwalt.

»Also, wohin soll ich ihn bringen?«

Du hast es versprochen, Mom, dachte er. Er lauschte, während seine Mutter ihn verriet.

»Schicken Sie einen Wagen. Es kann sein, dass er … sich weigert.« Sie gab die Nudeln in den Topf und rührte geschnittenes Gemüse hinein. Er wich einen Schritt zurück. »Ich weiß nicht, ob ich ihn ohne Hilfe aus der Wohnung bringe.«

Es rieselte ihm kalt über den Rücken.

»Nein. Sonst hat ihn niemand gesehen. Er will für heute Nachmittag hierbleiben.« Stille. »Ich bin so froh, dass Sie angerufen haben. Danke.«

Jack Ming entfernte sich langsam von der Küche, schlich zurück in sein Zimmer und zu der dampfenden Dusche. Er schnappte sich den Rucksack. Die Dusche ließ er laufen. Der Wasserdampf stieg auf wie eine Hand, die sich zum Abschied hob. Er warf einen letzten bitteren Blick auf das Zimmer seiner Kindheit. Dann eilte er zur Wohnungstür.

»Jack?« Die Stimme seiner Mutter schnitt durch den Raum.

Er blickte zu ihr zurück.

»Mach’s gut, Mom«, sagte er.

»Du hast gelogen!«, stieß sie hervor. Er wusste, sie meinte die Dusche, so als wäre sie es, die Grund hatte empört zu sein.

»Leb wohl. Ich hab dich trotzdem lieb.«

»Jack, warte! Warte! Sie können alle Anklagen abwenden. Sie hatten mich vorher angerufen, weißt du …«

Sie hat gewusst, dass ich komme? Panik stieg in ihm auf. Er rannte zur Treppe, wollte nicht auf den Fahrstuhl warten und stürmte hinunter, durch die Lobby und auf die Straße hinaus. Er sprang in die erste U-Bahn, die kam. Da saß er nun auf der kalten Plastikbank, den Rucksack fest an sich gedrückt.

Schicken Sie einen Wagen. Es kann sein, dass er sich weigert. Mit wem zum Teufel hatte sie gesprochen? Wer mochte sie angerufen haben, bevor er hergekommen war?

Das kann nicht sein. Nicht meine Mom.

Er fuhr bis zum Union Square und nahm den L-Train nach Brooklyn. An der Station Bedford Avenue in Williamsburg stieg er aus. Du kannst niemandem trauen, dachte er.

Er überquerte die Driggs Avenue und studierte die Gesichter der Leute, die mit ihm ausgestiegen waren. Hatte seine Mutter jemanden angerufen, nachdem er eben geflüchtet war? Folgte ihm schon jemand? Ihr Verrat traf ihn so tief, dass es ihm die Luft nahm.

Sie können alle Anklagen abwenden. Wer zum Teufel waren diese Leute?

Er würde von jetzt an noch vorsichtiger sein müssen. In seinem Kopf begann ein Plan Gestalt anzunehmen.

Die letzte Minute
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