71
Last Minute Bar, Manhattan
Ich schloss die Datei. Dann löschte ich sie.
»Es tut mir leid«, sagte ich zu ihr.
»Schon gut«, antwortete Mila.
»Erinnere mich gelegentlich, dich nie wütend zu machen.«
»Ich hab mich heute besser im Griff, Sam. Yoga wirkt Wunder.«
»Zviman gehört zu Novem Soles. Darum bekämpfst du sie.«
»Ja.«
»Und Jimmy hat dich zur Tafelrunde gebracht, so wie du mich angeheuert hast.«
Sie nickte. »Iwan war mein erster Lehrer, Jimmy mein zweiter. Du wirst ihn irgendwann kennenlernen. Ihr werdet euch mögen – oder euch gegenseitig umbringen.« Sie stand auf und trat ans Fenster. »Jetzt weißt du jedenfalls, dass es mir nicht ganz unbekannt ist, was du mit deinem Sohn durchmachst und wie ich manche Dinge sehe.«
Ich sah sie an. »Du meinst, wir können sie nicht retten.«
»Ein Unschuldiger, der in diese Welt hineingerät … die Chancen stehen jedenfalls nicht gut. Für eine Weile dachte ich schon, du wärst für uns verloren. Glaub mir, wenn die wollen, haben sie dich mit Daniel für immer in der Hand. Ich wollte Nelly auch herausholen, und du siehst ja, wie es ausgegangen ist. Ich hatte sie fast gerettet, und dann hab ich doch zugelassen, dass sie stirbt.«
»Du warst allein. Wir haben einander.«
»Ich war dumm.«
»Du musstest es damals versuchen, Mila, und ich muss es jetzt tun. Ich kann Daniel genauso wenig im Stich lassen, wie du es mit Nelly konntest.«
»Du verstehst mich falsch.« Sie drehte sich zu mir um, die Arme verschränkt. »Der Mann, der Nelly erschossen hat, war nicht mal ein Wächter in dem Haus. Er arbeitete in einem anderen Bordell von Zviman, und als er von der Schießerei im Lucky Strike hörte, kam er her, um nach Zviman zu sehen. Er stößt auf ein Mädchen mit einer Pistole und erschießt sie. Er war der Faktor, den man nicht einplanen kann. Solche Dinge passieren immer wieder. Es ist das Unvorhersehbare, das einem das Genick bricht. Wäre ich bei ihr geblieben, statt mir das Geld zu holen … dann würde sie noch leben. Aber nein, sie zu retten war mir nicht genug, ich musste unbedingt auch noch Zviman ruinieren. Rettung und Rache: unmöglich. Du kriegst nicht beides hin.« Sie schluckte. »Du willst Daniel retten und Novem Soles zu Fall bringen. Das wird dir nicht gelingen.«
»Sie würden mich nie in Ruhe lassen. Ich muss beides tun.«
Sie seufzte tief. »Und ich dachte, ich könnte noch deine Lehrerin sein. Weißt du was? Eines Tages werden sie mich erwischen. Solange diese Million auf meinen Kopf steht, wird es passieren, Sam.« Sie klang resigniert.
»Nicht, solange ich noch da bin.«
»Ich könnte dir auch helfen, wenn du mich lässt.«
»Wie?«
»Zviman hatte die Novem-Soles-Tätowierung, obwohl ich damals noch nicht wusste, was dahintersteckt. Er gehört zu ihnen. Wir müssen Zviman anlocken, er soll sich selbst davon überzeugen, dass Jack tot ist. Wir sagen ihm, wir haben ihn getötet, ohne es wirklich zu tun.«
»Was ist mit dem Notizbuch?«
»Schon interessant, dass du das rote Notizbuch gar nicht erwähnt hast, als wir zum ersten Mal über die Sache sprachen.«
»Weil ich nichts davon wusste.«
»Es wäre aber nicht sehr klug gewesen, Jack zu töten, ohne sich darum zu kümmern, was er vielleicht in der Hand hat. Er hätte das Beweismaterial irgendwo versteckt haben können, dann wäre es dir völlig entgangen. Glaubst du, sie werden dich auffordern, es ihnen zu bringen, nachdem du Jack getötet hast?«
»Sie haben nichts davon gesagt.«
»Zu dir vielleicht nicht.«
Ich blickte auf die Tür zum Zimmer nebenan. »Leonie.«
»Könnte sein. Vielleicht soll sie ihnen das Notizbuch bringen, und du bist nur für das Töten zuständig. Dir würden sie das Notizbuch niemals anvertrauen.«
»Sie hätte es mir sagen müssen.«
»Es ist nur eine Theorie.«
Die Tür öffnete sich. Leonie trat ein. »Ich hab eine Idee, wie wir Jack Ming finden«, verkündete sie.
»Gut«, sagte ich. »Wir müssen reden.«
»Dann muss aber sie rausgehen.«
»Ich habe zwar kein entführtes Kind«, erwiderte Mila, »aber vielleicht lasst ihr mich trotzdem in euren supergeheimen Club.«
»Das ist überhaupt nicht witzig.«
»Ich weiß. Ich helfe euch. Es ist beschlossene Sache.«
»Nein, ist es nicht.«
»Doch«, sagte ich und stand auf.
»Wir sollen zusammenarbeiten«, protestierte Leonie. »Nur wir zwei.«
»Mich würde interessieren, was du dagegen hast«, beharrte ich. »Wenn sie uns hilft, Jack Ming zu töten, umso besser, oder etwa nicht?«
»Will sie uns wirklich dabei helfen? Ich dachte, sie will Novem Soles zu Fall bringen.«
»Das Leben eurer Kinder ist wichtiger als meine Rache«, versicherte Mila.
»Ja. Wir machen genau das, was sie von uns verlangen.« Ich wandte mich Mila zu; sie sah mich nicht an.
Leonie und ich schauten einander prüfend in die Augen. »Es gefällt mir zwar nicht, Sam, aber wenn du garantieren kannst, dass sie uns hilft und nichts anderes tut, dann soll’s mir recht sein.«
»Ein richtig warmer Empfang.«
»Zwei Waffen sind besser als eine, Leonie«, sagte ich.
Sie schaute uns beide an und gab schließlich nach. »Also gut. Danke, Mila. Wenn wir Taylor und Daniel zurückbekommen, bin ich Ihnen ewig dankbar.«
»Du hast gesagt, du weißt jetzt, wie wir Jack finden«, erinnerte ich sie.
»Seine Telefonnummer ist der erste Schritt«, erklärte sie. »Damit komme ich an seine Anrufliste ran. Vielleicht kann ich auch feststellen, ob irgendwelche neuen Nummern mit jemandem aus seinem Umfeld Kontakt aufnehmen, über sein Facebook-Netzwerk oder seine Verwandten oder andere Bezugspersonen.«
»Okay.« Ich stand etwas mühsam auf.
»Wo willst du hin?«, fragte Mila.
»Ich besuche einen alten Freund. Vielleicht kann er etwas für uns tun.«
Ich stieg die Treppe hinunter und bemerkte einen älteren, eleganten, hageren Mann, der an einem Ecktisch bei einem Bier saß. Er war als Einziger allein da. Jemand, der das Geschehen unauffällig beobachten will, setzt sich nicht an die Theke. Dort sieht einen jeder, und man müsste sich ständig umdrehen, um den Raum zu überblicken. Das mag ein bisschen paranoid klingen, aber so tickt mein Verstand nun mal. Außerdem vermutete ich ohnehin, dass Augusts Leute die Bar observierten. Der Mann gefiel mir irgendwie nicht. Er betrachtete mich indirekt, über den Spiegel hinter der Theke.
Als ich die Bar verließ, wartete ich an der nächsten Ecke auf ihn. Fünf Minuten. Zehn. Er kam nicht. Er beschattete mich also nicht.
Ich rief Bertrand an. »Der Typ in der Ecke, der allein bei einem Bier sitzt.«
»Ja.«
»Benimmt er sich irgendwie auffällig?«
»Nein.«
»Hast du ihn schon mal gesehen?«
»Nein, noch nie. Er hat ein Harp bestellt und trinkt es sehr langsam. Er hat sich nicht von seinem Tisch wegbewegt, seit du gegangen bist.«
Okay, dann vielleicht … Mila. »Ist Mila vor oder nach ihm gekommen?«
»Vor ihm.«
»Wir müssen besonders solche Leute im Auge haben, die allein da sind. Es könnte jemand sein, der es auf Mila oder mich abgesehen hat.«
»Keine Sorge. Kümmere du dich um das, was du zu tun hast«, meinte Bertrand. »Mila und ich, wir machen das schon, falls es Ärger gibt.«
»Okay«, erwiderte ich, »bist du sicher?«
»Hat sie dir nicht erzählt, warum wir das Badezimmer schalldicht gemacht haben?«
»Äh, ja, sie hat so was angedeutet. Okay, ich bin gleich wieder da.«
Ich ging in die Nacht hinaus.