15
Henderson, Nevada
Leonie öffnete die Augen und blinzelte. Sie war am Schreibtisch eingeschlafen, und ihr Gesicht fühlte sich etwas zerknittert an. Na toll, dachte sie und wischte sich ein wenig Speichel von der Wange. Der Computer spielte immer noch den Soundtrack von Rent. Zurzeit hörte sie am liebsten Songs, die eine Geschichte erzählten. Ihre iTunes-Sammlung war voll mit Musicals und Filmsoundtracks. Sie drückte die Leertaste, und die Stimmen, die sie beschworen, ganz im Augenblick zu leben, verstummten. Sie blinzelte erneut in der plötzlichen Stille und zwang sich wachzubleiben.
Mein Gott, was ist nur mit mir los? Es war schon das vierte oder fünfte Mal in dieser Woche, dass sie bei der Arbeit einschlief. Langsam wurde das zu einer schlechten Gewohnheit. Ihr Tag hatte heute früh begonnen.
Leonie schaute auf die Uhr. Sie war eingenickt, nachdem sie das Baby schlafengelegt hatte. Es war kurz vor zehn Uhr abends. Die Erschöpfung machte sich eben bemerkbar. Sie trug noch T-Shirt und Jeans, als sie vom Schreibtisch in einem Winkel des Schlafzimmers aufstand, sich auszog und in ihren dünnen Baumwollpyjama schlüpfte. Sie putzte sich die Zähne und wischte sich den Schlaf aus den Augen.
Jetzt würde sie vielleicht nicht mehr einschlafen können, und das Baby schlief sicher die ganze Nacht durch. Okay, sie konnte natürlich etwas Arbeit erledigen. Leonie war früh draufgekommen, dass man als Mutter jede einzelne Sekunde nutzen musste.
»Schätzchen«, hatte ihre wohlmeinende achtzigjährige Nachbarin Mrs. Craft zu ihr gesagt, »nehmen Sie sich ein Kindermädchen. Sie können sich’s doch bestimmt leisten«, hatte sie mit einem Blick auf die Granit-Arbeitsplatte und den Perserteppich auf dem makellosen Hartholzboden hinzugefügt.
»Ich will niemand Fremden im Haus haben«, hatte Leonie geantwortet.
»Wenn Sie ein Kindermädchen erst mal kennen, wär sie ja keine Fremde mehr.«
Leonie hatte nur mit den Schultern gezuckt, anstatt zu sagen, was sie dachte: Ich darf das Risiko nicht eingehen. Ein Kindermädchen könnte mitbekommen, was ich hier tue. Die langen einsamen Arbeitsstunden und den Schlafmangel nahm sie gern in Kauf. Taylor war jede schlaflose Nacht wert.
Leonie machte sich eine Kanne koffeinfreien Haselnusskaffee und ließ auf ihrem iPod mit den kleinen Lautsprechern den Soundtrack von Chicago laufen. Sie öffnete den Laptop und checkte ihre E-Mails; sie benutzte mehrere anonyme Konten, um mit ihren Klienten in Kontakt zu bleiben.
Nichts von Gunnar. Sie seufzte erleichtert. Gunnar war einer ihrer schwierigeren Klienten. Seine Wünsche änderten sich ständig; zuerst wollte er nach New Orleans umziehen – aber nein, das lag zu nah bei Atlanta, da konnte er in den Bars im French Quarter jemandem begegnen, den er kannte. Also entschied er sich für Kanada – bis ihm bewusst wurde, dass es dort richtige Winter mit Schnee und Kälte gab. Jetzt ging es um Panama, aber schon begann er zu jammern, dass es dort langweilig wäre, so als gäbe es im ganzen Land keinen Nachtclub, kein Kino, keine Buchhandlung und keinen Strand. Leonie konnte keine neue Identität für ihn ausarbeiten, solange er nicht wusste, wo er sich verstecken wollte.
Am liebsten hätte sie ihm gesagt: Wenn Sie Ihr altes Leben hinter sich lassen, dann dürfen Sie nicht zögern, Sie müssen sich entscheiden. Doch bei Gunnar musste man aufpassen, was man sagte, und das galt für alle verzweifelten Klienten. Deshalb begnügte sie sich damit, die Leute behutsam zu behandeln und ihnen ein neues Leben zu ermöglichen, irgendwo weit weg, wo sie nichts mehr mit ihnen zu tun hatte. Panama. Sie würde ihm klarmachen, dass das die ideale Lösung für ihn war. Er musste einfach auf sie hören, schließlich war sie die Expertin.
Es war ein Albtraum, wenn ein Mensch, der untertauchen wollte, sich nicht zu einer klaren Linie entschloss. Zu groß war das Risiko, sich zu verraten. Ein falsches Wort zu irgendwem, eine Spur, die man auf einem Computer hinterließ: Solche Fehler konnten sich als fatal erweisen. Sie würde für den Mann Bankkonten in Panama einrichten und ein passendes Haus in der Hauptstadt finden, in einer guten Gegend, wo er nicht auffiel. Natürlich benötigte er einen zuverlässigen Spanisch-Privatlehrer. Sie hatte vor, aus ihm einen Neuseeländer zu machen. Die nötigen Papiere wären innerhalb von zwei Tagen fertig. Mit Hilfe ihres Netzwerks würde sie ihm zu einem neuen Namen und einer neuen Welt verhelfen. Am besten ging sie sofort ans Werk.
Sie holte ihren Kaffee und ignorierte das Verlangen nach einer Zigarette (die letzte hatte sie vor sechs Monaten geraucht). Sie hörte ein Auto vorbeifahren und wenig später einen Vorhang flattern.
Das Geräusch kam ihr viel zu laut vor. Sie stoppte die singenden Mörderinnen aus Chicago mitten im Cell Block Tango und lauschte angestrengt. Ein heftiger Windstoß.
Da war irgendwo ein Fenster offen.
Es rieselte ihr eisig den Rücken herunter. Sie stand von ihrem Computer auf und eilte über den Flur. An der Tür zum Kinderzimmer blieb sie stehen und drückte die Tür vorsichtig auf. Das Fenster gegenüber, das zum Garten hinausging, stand offen, die Winnie-Puuh-Vorhänge tanzten im Wind.
Ihr Herz stockte. Sie stürmte durch das dunkle Zimmer. Im Mondlicht sah sie, dass das Gitterbett leer war. Ihr Baby war weg. Sie schrie auf und griff nach der zusammengeknüllten gelben Decke, als könnte Taylor irgendwo darin verschwunden sein.
Sie taumelte durch das Haus. Bitte sei da, sagte sie sich.
Doch auch der Rest des Hauses war leer. Der Schock fuhr ihr in die Knochen.
Das Telefon. Benommen stolperte sie zurück und nahm den Apparat auf. Sie drückte die Neun, die Eins … und hielt inne.
Was sollte sie sagen? Mein Kind ist weg. Sie würden Fragen stellen. Wer sind Sie, Ma’am? Wer ist der Vater? Wie lange leben Sie schon hier? Haben Sie eine Ahnung, wer Ihr Baby entführt haben könnte? Was war, wenn sie mit ihren Fragen der Wahrheit auf die Spur kamen, dass sie unter einem falschen Namen hier lebte und nicht die war, als die sie sich ausgab.
Sie wählte die Notrufnummer nicht fertig. Sie musste nachdenken, bevor sie sich an die Polizei wandte. Sie war so vorsichtig gewesen und hatte ein so gutes Versteck gefunden. Niemand würde sie hier finden. Außer …
Das Telefon klingelte in ihrer Hand, und sie hätte es beinahe fallen lassen, als könnte sich das Geräusch in Hitze verwandeln und ihr die Hand verbrennen. Sie starrte auf das Display. Eine unterdrückte Nummer.
»Hallo?«
»Hallo, Leonie. Wie geht es Ihnen?« Eine freundliche Frauenstimme, die sie kannte. Anna Tremaine.
»Wo? Wo?«, schluchzte sie ins Telefon.
»Oh, vermissen Sie jemanden? Junge Mütter sind manchmal so vergesslich.«
»Wo ist mein Baby?!«, schrie sie. Die Angst war weg, da war nur noch nackte Wut.
Annas Stimme klang ganz ruhig. »Ich versichere Ihnen, Ihrem Kind geht es gut.«
Ein heiseres Stöhnen entrang sich Leonies Kehle.
»Hören Sie mir zu, Leonie?«, fragte Anna. »Es ist mühsam, wenn ich alles zweimal sagen muss.«
»Warum haben Sie das getan? Warum?«
»Weil Sie etwas sehr Wichtiges für mich tun werden, und das sofort, ohne lange Diskussionen.«
Leonie zwang sich, ruhig zu bleiben. »Was wollen Sie?«
»Sie sind so gut darin, Leute für uns zu verstecken, Schätzchen, aber können Sie es auch andersrum? Können Sie jemanden für uns finden, der sich versteckt?«
»Ja«, sagte Leonie. Es war keine andere Antwort denkbar. Um Taylor wiederzubekommen, würde sie alles tun.
»Okay. Falls Sie gerade einen anderen Klienten haben, vergessen Sie ihn.«
Sie dachte an Gunnar, der dringend von der Bildfläche verschwinden musste. Doch er konnte sich ohnehin nicht für einen Ort entscheiden, also sollte er sehen, wo er blieb. Er würde eben warten müssen. »Okay. Bitte, tun Sie Taylor nichts. Bitte.«
»Reißen Sie sich zusammen. Ich brauche Sie ruhig und konzentriert.«
»Sie hätten doch einfach fragen können! Sie hätten mich fragen können, ob ich Ihnen helfe! Sie wissen genau, ich würde … ich hab schon so oft …«
»Ich brauche Gewissheit, dass Sie’s tun«, fiel ihr Anna ins Wort.
»Ich tu alles, was Sie wollen.«
»Sie werden mit einem Mann zusammenarbeiten. Er ist genauso wie Sie sehr motiviert, gute Arbeit für uns zu leisten.«
»Ich arbeite nicht mit anderen zusammen.«
»Diesmal werden Sie, Leonie. Es sei denn, Sie wollen selbst den Abzug drücken und einen Mann erschießen. Sie müssen die Zielperson nur finden. Dieser Mann wird das Ziel töten. Danach bekommen Sie Taylor zurück. Ganz einfach.«
Panik stieg in ihr hoch. Sie sank auf die Couch. Okay, dachte sie, die Lage ist nun mal so. Erst mal tief durchatmen. »Welchen Mann soll ich finden, und mit wem arbeite ich zusammen?«
»So hab ich’s gern: ruhig bleiben und kooperieren«, sagte Anna. »Für Sie ist es ja kein Problem, kurzfristig eine Reise zu planen. Sie treffen sich mit ihm am Flughafen. Er heißt Sam Capra. Er sagt Ihnen dann genau, worum es geht.«
»Anna, geht es Taylor gut?«
»Ausgezeichnet. Ihr Baby schläft friedlich auf einer Decke.«
Leonie spürte, wie ihr die Angst durch und durch ging. Sie zwang sich, aufmerksam zuzuhören. Anna oder einer ihrer Leute musste Taylor irgendwann in den letzten zwei Stunden geholt haben, als sie gerade in die Arbeit vertieft gewesen war oder am Schreibtisch geschlafen hatte. Das bedeutete, Anna befand sich vielleicht noch in Las Vegas oder saß gerade im Auto. Sie lauschte am Telefon nach irgendwelchen Geräuschen, die ihr verraten hätten, wo Anna sein könnte. Falls sie irgendwo angehalten hatte, musste es doch Verkehrsgeräusche geben, vielleicht ein vorbeirollender Lastwagen. Es war nichts zu hören. Leonie ärgerte sich über sich selbst, dass sie nicht früher darauf geachtet hatte, doch der Schock hatte sie gelähmt. In Gedanken versuchte sie, das Gespräch noch einmal abzuspulen und sich jede Kleinigkeit in Erinnerung zu rufen. Denn falls sie tat, was man von ihr verlangte, und ihr Kind trotzdem nicht zurückbekam, gab es nur noch eine Person, die sie finden würde: Anna Tremaine. Um sie zu töten.
»Sie können sich darauf verlassen, dass Ihrem Baby kein Haar gekrümmt wird«, sagte Anna in babyhaftem Singsang. »War ich nicht immer nett zu Ihnen? Schauen Sie unter der E-Mail-Adresse nach, die wir immer benutzt haben. Dort finden Sie weitere Details und Anweisungen. Packen Sie Ihre Reisetasche, es wird ein paar Tage dauern. Und machen Sie Ihren Job so perfekt wie immer. Für Ihr Kind.« Im nächsten Augenblick war die Verbindung getrennt.
Weitere Anweisungen? Leonie stand auf und hastete zum Laptop.