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Upper West Side, Manhattan

Es ist nicht einfach, die Leichen zweier schwergewichtiger Männer aus einer Wohnung zu schaffen. Wir mussten davon ausgehen, dass die Wohnung irgendeinen Bezug zu Bell aufwies, und wir wollten vermeiden, dass jemand nach ihm suchte oder ihn mit zwei Toten in Verbindung brachte. Wir wollten seinen Namen nicht in der Zeitung lesen.

Ich rief Bertrand an. Er traf eine Stunde später ein, mit einem Umzugswagen und Kisten. Für Mila hatte er eine dazu passende Möbelpackerkluft dabei, samt Kappe, die einen großen Teil ihres Gesichts verdeckte. Er hob eine Augenbraue, als er die Toten sah, murmelte etwas in seinem haitianisch angehauchten Französisch und ging an die Arbeit. Die Leichen waren binnen fünfzehn Minuten verladen und abtransportiert. Er packte auch Bell, mit Beruhigungsmittel vollgepumpt, in eine Kiste.

»Du bringst ihn nicht in die Bar?«, fragte ich, zu Mila gewandt.

»Soll ich vielleicht einen Bewusstlosen an den Gästen vorbeischleppen?« Mila hält mich manchmal für bescheuert. »Ich bringe Bell an einen Ort, wo er keinen Ärger macht und man ihn verhören kann. Ein Familienvater will sein nettes Leben bestimmt nicht verlieren, deshalb wird er mit uns zusammenarbeiten. Kümmere du dich um die Reise nach Las Vegas.«

Als sie weg waren, trat ich ans Fenster, um zu sehen, ob ihnen jemand folgte. Die CIA hatte mich in Ruhe gelassen, seit ich ihr Angebot, wieder in ihre Dienste zu treten, abgelehnt hatte. Zwar hielt ich es für unwahrscheinlich, dass sie das Interesse an mir ganz verloren hatten, aber zumindest konnte ich niemanden erkennen, der Mila und dem Truck folgte.

Ich ging hinaus auf die Straße und prägte mir die Gesichter der Leute um mich herum ein. Es waren acht Blocks bis zum Columbus Circle. Es tat gut, den Wind im Gesicht zu spüren. Der Abend war seltsamerweise voller Musik. Aus den Häusern, an denen ich vorbeikam, hörte ich die leisen Töne einer Mahler-Symphonie, flotte kubanische Salsa und donnernde Rhythmen über Hip-Hop-Gesang. Musik war etwas, an dem sich Leute erfreuten, die ein normales Leben führten.

Wenn man sein Kind sucht, lebt man in seiner eigenen Hölle. Es ist wie in einem großen dunklen Raum, man tastet sich an der Wand entlang, auf der Suche nach einer Tür oder einem Fenster. Weil man trotzdem die Hoffnung hat, dass es einen Ausgang gibt, dass eines Tages eine Tür aufgeht, das Licht in deine Gefängniszelle hereinflutet und dein Kind vor dir steht, gesund und wohlbehalten.

Ich wollte alles daran setzen, aus dieser Dunkelheit auszubrechen.

Meinen ersten Beschatter entdeckte ich, als ich in die U-Bahn einstieg. Eine Frau von ungefähr sechzig Jahren, das Haar modisch kurz geschnitten, dunkle Brille, blaue Ohrringe. Ich hatte sie schon an einer Hausecke stehen sehen, als ich aus Mr. Bells Wohnung kam. Sie hatte nicht zu mir herübergeblickt. Und jetzt stieg sie einen Wagen vor mir in die U-Bahn ein. Sie hatte mit mir Schritt gehalten, obwohl ich sehr zügig gegangen war.

Ich stieg an der nächsten Haltestelle, in der Seventh Avenue, aus. Sie ebenfalls, inmitten einer kleinen Gruppe von Leuten. Ich verlangsamte meine Schritte und zwang sie, mich zu überholen. Sehr wahrscheinlich hatte sie mindestens einen Partner, jemanden, der mir auf den Fersen blieb, falls sie mich verlor, den ich jedoch bisher übersehen hatte.

Der Frau blieb in der Menge nichts anderes übrig, als vor mir die Treppe zur Straße hinaufzusteigen. Oben musste sie sich entscheiden. Sie schritt entschlossen nach links, ich wandte mich nach rechts. Ich blickte nicht zurück, ob sie kehrtmachte und mir folgte.

Ich ließ mir Zeit, weil ich wissen wollte, wie sie reagieren würde. Außerdem wollte ich meinen zweiten Beschatter entdecken. Ich betrat einen kleinen Laden und schaute mich ein wenig um. Ich nahm eine Flasche Rotwein, ein paar Äpfel und ein Stück Cheddar-Käse. Alles ganz gemächlich, um zu sehen, welcher Fisch anbiss. Außer mir befanden sich noch sieben Kunden in den schmalen Gängen. Ich betrachtete unauffällig ihre Gesichter. Eines kam mir bekannt vor: Er war ebenfalls mit der U-Bahn gefahren. Ende zwanzig, ein bisschen älter als ich, dunkles Haar, Yankees-Kappe, dunkles T-Shirt und eine Jacke, obwohl es ein warmer Tag war. Mit Jacken kann man leicht sein Aussehen verändern, und man kann sie schnell verschwinden lassen. Kopfbedeckungen ebenso.

Ich zahlte an der Kasse und ging zurück zur U-Bahn-Station. Ich sah mich nicht um, doch im Rückspiegel eines geparkten Autos erblickte ich die Yankees-Kappe hinter mir. An der nächsten Ecke betrat ich ein Kleidergeschäft.

In einem der Spiegel an der Decke beobachtete ich, wie er mir folgte. Ich schnappte mir ein knallbuntes Hemd von einem der Regale und fragte eine Angestellte nach den Umkleidekabinen. Sie zeigte mit einer Kopfbewegung nach hinten und meinte, ich könne die Einkaufstüte aber nicht mitnehmen. Als hätte ich vor, dieses schauderhafte Hemd zu klauen. Ich gab ihr die Tüte, damit sie sie unter der Theke aufbewahrte, und ging in den Umkleidebereich. Vier Schwingtüren wie in einem Saloon, ein Schneidertisch mit einem dreiteiligen Spiegel. Ich betrat eine der Kabinen und wartete.

Falls er gesehen hatte, dass ich nur ein Hemd zum Anprobieren mitgenommen hatte, würde er vielleicht warten. Vielleicht war ihm entgangen, dass ich ihn entdeckt hatte; ich hatte ihn nie direkt angesehen.

Und so beschloss ich zu prüfen, ob dieses bunte Kaleidoskop von einem Hemd nicht doch seine Vorzüge hatte.

Fünf Minuten. Zehn. Die Verkäuferin war noch nicht gekommen, um nach mir zu sehen. Dann hörte ich ihn. Ich wusste, dass es er war, weil er ganz vorsichtig eine der Schwingtüren öffnete. Dann die nächste. Hätte er nur etwas anprobieren wollen, so hätte er gleich die erste Kabine genommen.

Falls ich mich irrte, würde ich mich entschuldigen.

Er drückte die Tür zu meiner Kabine ein Stück weit auf, und ich packte seine Hand. Ich zog ihn herein und knallte ihn mit dem Kopf gegen die Wand. Er stöhnte, und ich hämmerte ihn noch einmal gegen die Wand.

Ich riss seinen Arm bis zu den Schulterblättern hoch und checkte sein linkes Ohr. Nichts. Rechtes Ohr. Da war er, wie ein winziger beigefarbener Wachsfleck. Diese Ohrstöpsel werden jedes Jahr kleiner. Ich griff hinunter und riss das Kabel für sein Mikro unter dem Hemd heraus.

»Wer hat dich geschickt?«, fragte ich.

Er gab keine Antwort.

»Special Projects?« Die geheime CIA-Abteilung, für die ich gearbeitet hatte. Diese Leute können offenbar nicht loslassen.

Er schwieg, versuchte seinen Arm zu befreien. Ich hielt ihn weiter oberhalb des Handgelenks fest, am Stoff seines Hemds.

Ich sehe es nicht ein, jemandem hundert Chancen zur Kooperation zu bieten. Ich schlug zweimal zu, auf die Stelle zwischen Hals und Schulter, und er brach zusammen. Ich nahm das Mikro und den Ohrstöpsel, steckte ihn in mein Ohr und schaltete ein. Rasch durchsuchte ich seine Taschen. Die Brieftasche ließ ich ihm, doch das handliche kleine Fernrohr nahm ich mit. Dann setzte ich den bewusstlosen Beschatter auf den kleinen Sitz in der Umkleidekabine. Er atmete regelmäßig.

»Gato, bitte melden.« Ich kannte die Stimme, die ihn rief. Also antwortete ich in dem Code, der bei Special Projects in solchen Situationen gebräuchlich war.

»Er hat ’ne Vier-neun gemacht.« Ich hatte ihn im Geschäft mit der Kassiererin reden gehört, mit einem leichten Bostoner Akzent, den ich nun imitierte. Es brauchte nicht perfekt zu sein. Vier-neun bedeutete, die Zielperson hatte mich in der Menge abgeschüttelt.

»Lucky, bitte melden.« Er meinte wohl die Partnerin, die ältere Frau aus der U-Bahn. Ich sah mich nach ihr um, während ich das Hemd, das ich nicht anprobiert hatte, auf den Ladentisch warf und meine Einkaufstüte nahm. Ich eilte auf die Straße hinaus.

»Ich habe keinen Blickkontakt«, meldete sie. »Er ist nicht zur U-Bahn-Station zurückgekehrt.« Sie hatte wohl dort gewartet, um die Beschattung fortzusetzen, falls ich wieder einsteigen würde.

»Kommt zurück zur Basis«, sagte die Stimme. »Vielleicht finden wir ihn über die Verkehrskameras.«

Ja, bitte geh zurück zur Basis. Ich wartete. Ich hatte als Gato nichts zu ihrer internen Diskussion beizutragen, also schwieg ich. Die beiden waren hoffentlich die Einzigen, die sie auf mich angesetzt hatten. Normalerweise übernahm so etwas ein Team von vier Leuten. Entweder fand man mich nicht so wichtig, oder die Personaldecke war gerade etwas dünn. Der Grund konnte mir egal sein.

Ich mischte mich in den Strom der Fußgänger auf der Seventh Avenue, die Hand um das Fernrohr gelegt, als würde ich meine Augen abschirmen. Ich beobachtete, wie die Frau sich von mir entfernte, in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Sie strich sich die Haare zurück, sodass ihre blauen Ohrringe hervortraten. Ich folgte ihr in einigem Abstand.

Sieben Blocks weiter, an der West 58th Street, sah ich sie zu einem geparkten Van gehen. Er trug die Aufschrift eines Blumenservice. Ich fand das lustig, weil in der CIA ein alter Witz kursiert, wonach die CIA viel fürs Geschäft der Floristen tut, weil wir unsere Partnerinnen vernachlässigen und uns oft mit Blumen entschuldigen müssen.

Diese Sorgen hab ich nicht mehr.

Ich lief los. Ich holte sie ein, legte die Hand unter ihre Rippen und stieß sie sanft – wie ein Gentleman, dachte ich – nach vorne.

»Mach die Tür auf«, befahl ich.

Sie war schlauer als Gato und verzichtete auf Sperenzchen. Sie klopfte dreimal an die Tür des Vans, bis jemand von innen öffnete.

Drinnen saß mein bester Freund. August Holdwine ist ein kluger Farmjunge aus Minnesota: groß, breitschultrig, Engelsgesicht mit roten Wangen, kurzes blondes Haar und blassblaue Augen. Ich liebe ihn wie meinen Bruder. Er sah mich stirnrunzelnd an. »Okay, du kannst aufhören zu lächeln. Wo ist mein Mann?«

»Macht ein Nickerchen.«

»Sag nicht, du hast ihn verletzt.«

»Blaue Flecken verheilen. Er ist okay und wahrscheinlich schon wieder wach. Vielleicht meldet er sich nicht, weil’s ihm peinlich ist. Ich hab ihm sein Handy gelassen. Ruf ihn an.«

»Du hast einen CIA-Mann angegriffen.«

»Und du benutzt die Namen deiner Haustiere aus der Kindheit für dein Team. Ziemlich dumm.« Ich wandte mich der Frau zu. »Lucky hieß seine Katze.«

»Steig ein, Sam«, sagte er. »Wir müssen reden.«

»Was ihr da macht, ist illegal. Ihr dürft nicht auf amerikanischem Boden operieren.«

»Trink irgendwo einen Kaffee«, forderte August Holdwine seine Kollegin auf. »Wir unterhalten uns später im Büro.«

»Diese Ohrringe«, sagte ich zu der Frau. »Das Blau ist ein bisschen zu auffällig im Grau der Straßen und Häuser. Aber es passt gut zu Ihren Augen.«

»Sehr witzig«, erwiderte sie, drehte sich um und verschwand in der Menge.

»Steig ein«, wiederholte August. »Bitte.«

»Das wäre dumm, falls ihr mich beschattet, um mich zu schnappen.«

»Tun wir aber nicht. Ich will mit dir reden.«

»Warum kommst du dann nicht einfach zu mir?«

»Weil du dauernd mit dieser Frau zusammen bist. Mila.« Er warf seinen Kopfhörer auf die Computertastatur hinten im Van.

»Siehst du sie hier irgendwo? Lüg mich nicht an, August. Glaubst du, ich führe euch zu ihr?« Ich musste wissen, warum sich August und seine Vorgesetzten für Mila interessierten, deshalb stieg ich ein. August wechselte auf den Fahrersitz.

»Wohin geht’s?«, fragte er.

»Was ist mit dem anderen Typen?«

»Der findet allein nach Hause. Wo können wir uns ungestört unterhalten?«

»Ich kenne eine Bar.«

Die letzte Minute
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