72
Ollie’s Bar, Brooklyn
Ich saß auf den Bierkästen, und als Ollie hereintrat und das Licht aufdrehte, bekam er fast einen Herzinfarkt.
»Jesus Maria!«, rief er aus und starrte mich an. »Du! Was zum Teufel machst du hier?«
»Ich schulde dir eine Pistole.«
»Allmächtiger Gott. Du hättest kündigen können, statt einfach so abzuhauen.« Als mich die Company vor einigen Monaten aus ihrem Privatgefängnis in Polen entlassen hatte, damit ich ihnen den Lockvogel für Novem Soles spielte, verschafften sie mir einen Barkeeper-Job, hier in Ollie’s Bar. Nach einer Weile entzog ich mich der Aufsicht der Company und konnte deshalb Ollie unmöglich Bescheid sagen, bevor ich verschwand. Ich hatte auch seine Pistole aus dem Safe gestohlen, ihm aber wenigstens einen Schuldschein hinterlassen.
»Weißt du, es tut schon weh, seinen einzigen fähigen Barkeeper zu verlieren.« Ollie war bekannt dafür, sich ständig über die geringe Qualität seiner Mitarbeiter zu beklagen. »Und dann noch von ihm bestohlen zu werden.«
»Du hast doch wohl den Schuldschein gefunden.«
»Und ich hab das sogar akzeptiert, was mich selbst wundert«, meinte Ollie. »Ich hab dir jedenfalls nicht die Bullen an den Hals gehetzt.«
»Die Pistole war gar nicht registriert, Ollie«, bemerkte ich trocken. »Ich hab sie verloren, aber eine bessere mitgebracht.« Ich reichte ihm eine Beretta und eine Schachtel Munition aus den Beständen meiner Bar.
»Sieht gut aus«, meinte er. »Ich werd nie lernen, damit zu schießen.«
»Das hast du mit der anderen auch nicht gekonnt«, entgegnete ich.
»Stimmt. Wo warst du?«
»Ich hab meine Frau und meinen Sohn gesucht.« Aus irgendeinem Grund mochte ich Ollie einfach nicht mehr belügen. Ich würde seine Fragen so weit wie möglich beantworten. Er war ein guter Mann. Mila hielt sehr viel von ihm und wollte ihm seine Bar schon seit Jahren abkaufen. Hier war ich ihr auch zum ersten Mal begegnet; sie hatte mich bereits für ihre Organisation im Auge gehabt.
Ollie brauchte einen Augenblick, um mein Geständnis zu verarbeiten. »Und hast du sie gefunden?«
»Ja.«
»Das ist gut.«
»Ich versuche gerade, August zu finden, ohne ihn anzurufen«, sagte ich. »Ich dachte mir, du könntest ihm vielleicht etwas von mir ausrichten.«
»Bist du allergisch auf Telefone?«
»Nein.«
»Angeblich erzeugen Handys Hirntumore.« Ollie fühlte sich am wohlsten, wenn er sich wegen irgendetwas Sorgen machen konnte. »Er sitzt an der Bar, hat schon ein bisschen viel intus.«
»Ist er allein?«
»Ja, obwohl eine gutaussehende Lady ein Auge auf ihn geworfen hat.«
»Ich will ja der Liebe nicht im Weg stehen, aber meinst du, du könntest ihn herholen, ohne jemanden wissen zu lassen, dass ich hier bin?«
»Warum sollte ich dir einen Gefallen tun, Sam? So wie du mich behandelt hast?«
»Ollie, willst du dich irgendwann aus dem Geschäft zurückziehen?«
»Ja.«
»Ich kaufe dir diese Bar ab, sobald du sie abstoßen willst. Du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen, ich werde einen guten Preis zahlen.«
Er blinzelte. »Wieder mal einer von deinen Späßen.«
»Wie viele würden zurückkommen, nachdem sie eine Waffe gestohlen haben, und die Sache bereinigen?«
»Nicht viele, aber kann ich das trotzdem schriftlich haben?«
»So wie der Schuldschein, den ich dir hinterlassen habe?«
»Ja.«
Ich riss ein Etikett von einem Kasten Newcastle Brown Ale und schrieb auf die Rückseite: Ich verspreche hiermit, Ollie’s Bar zu einem fairen Preis zu kaufen, sobald Ollie das Lokal nicht mehr führen möchte. Samuel Clemens Capra.
»Das ist dein voller Name? Armer Junge.« Ollie inspizierte mein Versprechen nach irgendwelchen rechtlichen Hintertürchen. »Okay«, sagte er schließlich, »ich frag ihn, ob er mir mal kurz hilft, ein Bierfass zu tragen. So betrunken, wie er ist, müsste es klappen.«
»Danke, Ollie.«
Zwei Minuten später kam August in das Hinterzimmer. »Oh, verdammt«, murmelte er.
»Hi.«
Er betrachtete mich kopfschüttelnd und setzte sich auf einen Stapel Heineken-Kästen. »Was zum Teufel denkst du dir eigentlich? Na ja, mit deinem gebrochenen Arm bist du wenigstens leichter festzunehmen.«
»Das wirst du aber nicht tun. Wir werden uns auch nicht prügeln. Wir müssen uns überlegen, wie wir zusammenarbeiten können. Bist du okay? Tut mir leid, dass ich dich niedergeschlagen hab.«
»Es musste genäht werden.« Er deutete auf seinen Hinterkopf. »Die friedlichen Töne kommen ein bisschen spät, Sam. Wegen dir hab ich heute meinen Job verloren.«
Ich ließ erst einmal zehn Sekunden verstreichen. Ich wusste nicht recht, ob er noch richtig sauer auf mich war. »Tut mir leid.«
»So geht’s dir, wenn du einen Kontaktmann ohne jede Agenten-Ausbildung treffen sollst. Einen, der dich auffordert, deine Beschatter loszuwerden, weil er dich über ein gehacktes Kamerasystem beobachtet. Und dann kannst du mit deinem Team einen Exagenten nicht überwältigen und verlierst auch noch den Kontaktmann.« Seine Stimme klang immer zorniger. »Sorry, ich weiß, du tust das wegen deinem Jungen, aber verdammt, so geht’s wirklich nicht, Sam. Ich nehm dich in Gewahrsam.«
»August. Wenn du deinen Job zurückwillst, dann hör mir bitte zu.«
»Ich glaube, ich krieg meinen Job zurück, wenn ich dich ausliefere.«
»Das würde dir nichts nützen. Weil es innerhalb von Special Projects ein Sicherheitsproblem gibt, das weißt du genauso gut wie ich.«
August sah mich stirnrunzelnd an.
»Ihr habt entweder einen Maulwurf im Team, oder jemand überwacht eure Netzwerke.«
»Wir haben nichts gefunden.«
»Jack Ming hatte während seiner Hacker-Zeit an der NYU eine Spezialität: Er hat Computersysteme – zum Beispiel die Software von Kopierern – so manipuliert, dass sie ihm Informationen schickten, ohne dass es jemand mitbekam. Das machte er mit kleinen Codes, die er in verschiedenen Programmen versteckte. Wahrscheinlich hat er solche Sachen auch für Novem Soles geschrieben, und sie erpressen damit Leute in wichtigen Positionen.«
August rieb sich am Kinn. »Alle Verräter, die wir nach Lucy erwischt haben, behaupten, sie wären dazu erpresst worden. Wir glauben ihnen kein Wort.«
»Entweder hat jemand eure Systeme geknackt, oder ihr habt wieder einen faulen Apfel im Korb.«
»Verdammt.« August flucht nicht oft, und wenn, dann meint er es so.
»August, du bist nicht der Verräter, oder?«
»Nein.« Er hob eine Augenbraue.
»Okay«, sagte ich, »ich wollt’s nur von dir hören.«
August tippte mit dem Fuß auf den Betonboden. »Diese Frauen, die du getötet hast – was weißt du über sie?«
»Zwei Schwestern, mutmaßliche Mörderinnen, die neue Identitäten bekamen. Ein Mann namens Ray Brewster versteckte sie und setzte sie für Spezialaufträge als Killer ein. Er hat wahrscheinlich auch den Typ angeheuert, den ich in New Jersey getötet habe und der Jack Mings Mutter entführt hatte.«
»Jemand, der Mördern und Psychopathen neue Identitäten verschafft. Und Jobs als Killer.«
»Kennst du diesen Ray Brewster?«
»Nein.« August schüttelte den Kopf. »Hast du den Namen Lindsay Partridge schon mal gehört?«
»Nein.«
»Sie ist deine rothaarige Freundin.«
Ich wartete.
»Ehemalige Fälscherin und CIA-Informantin, wir haben sie gut bezahlt, aber vor zwei Jahren ist sie von der Bildfläche verschwunden.«
»Sie verschafft Leuten neue Identitäten. Novem Soles hat auch ihr Kind entführt.«
»Ein Teil ihrer Akte ist verschlüsselt. Ich komm nicht ran, nicht einmal mit dem Special-Projects-Zugang. Was ist ihr Geheimnis?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.
»Wer sind diese Mistkerle?«
»Einer von ihnen ist ein Mädchenhändler namens Yaakov Zviman. Heute scheint er hauptsächlich Erpressung zu betreiben, doch er hat die Million Dollar auf Milas Kopf ausgesetzt. Er dürfte eine große Nummer in der Organisation sein. Kennst du den Namen?«
»Nein.«
»Ich glaube, Jack Mings Informationen haben mit dem zu tun, was Zviman heute für Novem Soles macht. Vielleicht geht es um die Namen der Leute, die sie in der Hand haben. Wenn wir uns das holen, nehmen wir ihnen eine wichtige Informationsquelle. Mit solchen Programmen, wie Ming sie geschrieben hat, gewinnt die Organisation Macht über Leute, von denen sie enorm profitieren.«
August fuhr sich mit der Hand durch sein blondes Haar. »Hast du schon mal von einer Associated Languages School gehört?«
»Ja. Der offizielle Besitzer des Hauses, in dem sie Mrs. Ming festgehalten haben. Ein altes verlassenes Haus im Morris County.«
August stand auf und begann zwischen den Bierkästen hin und her zu gehen. »Bei dieser feinen Sprachschule war eine der toten Frauen offiziell beschäftigt.«
»Meggie oder Lizzie Pearson? Das waren ihre richtigen Namen. Von Lizzie kann ich mir schwer vorstellen, dass sie mit anderen zusammengearbeitet hat.«
»Dann gehörten sie zu Novem Soles?«
»Eher nicht. Sie hatten es auf mich abgesehen, und ich spiele ja den Laufburschen für die Organisation. Nein, ich glaube, ein Kopfgeldjäger hat sie beauftragt. Sie sprachen davon, mich in einen Käfig zu sperren, um mich zum Reden zu bringen. Leute zu entführen und auszuquetschen scheint ihr Spezialgebiet gewesen zu sein.«
»Dann haben wir’s also nicht nur mit Novem Soles zu tun, sondern auch noch mit jemand anderem, und wir haben keine Ahnung, ob es eine Verbindung zwischen ihnen gibt?«
»So ist es.«
»Ich würde zu gern wissen, was sich in unseren Datenbanken über die zwei Frauen findet, aber ich soll mich nächste Woche in Langley melden. Wahrscheinlich bekomme ich dann einen Hausmeisterjob, oder ich darf als Koch in der Cafeteria anfangen.«
»Immerhin ehrliche Arbeit.«
»Ja, sicher«, meinte August. »Meine Laufbahn kann ich vergessen, Sam.«
Ich überlegte einen Augenblick. »Wollte dich dein Boss schon länger loswerden?«
»Eigentlich nicht. Aber heute ist einiges schiefgelaufen. Ein Kopf musste rollen, und den seinen wollte er nicht hinhalten, obwohl ihm sowieso nichts passieren würde.«
»Warum?«
»Offiziell ist er im Ruhestand. Vor ein paar Monaten haben sie ihn zurückgeholt, damit er unseren Laden auf Vordermann bringt. Der Typ ist noch von der alten Schule, die Ehre und der Ruf der Company gehen ihm über alles. Er heißt Braun. Hast du ihn mal getroffen?«
»Nein.«
»Er ist schon vor unserer Zeit ausgeschieden, und zurückgekommen, nachdem … nachdem du gegangen bist.«
»Falls du mit neuen Informationen zu ihm kommst, würde er dir zuhören?«
»Kann sein.«
»Gibt es sonst jemanden bei euch, der dir helfen würde?«
August setzte sich wieder auf die Bierkästen. Er wirkte so müde und ausgebrannt, wie ich ihn noch nie gesehen hatte. »Vielleicht Griffith.«
»Ich fürchte, ich war ein bisschen grob zu ihm, und dem anderen hab ich ins Bein geschossen. Ist er okay?«
»Ja. Und du hast vor seinen Augen versucht, Ming umzubringen.« Er schüttelte den Kopf. »Warum red ich überhaupt mit dir, Sam? Wir sind fertig. Es geht nicht anders. Ich muss mir meine Karriere zurückholen. Ohne die Company bin ich nichts. Ja, ich weiß, das klingt armselig, das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich hoffe, du findest deinen Jungen, das hoffe ich wirklich. Aber ich kann dir dabei nicht helfen.«
»Ich kann dir Jack Ming bringen.«
»Was?«
»Ich kann dir Jack Ming bringen.«
August stand von dem Bierkasten auf und setzte sich wieder hin. »Du willst ihn doch ausschalten.«
»Ja«, antwortete ich. »Und danach gebe ich ihn dir.«