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Manhattan, New York City
Die Wohnung seiner Mutter befand sich mehrere Blocks nördlich der United Nations Plaza, in der East 59th Street. Eine günstige Lage, was durchaus im Sinne seiner Mutter war, die es sich in ihrem Leben immer schon so eingerichtet hatte, dass alles möglichst glattlief. Mit Schwierigkeiten und Hindernissen konnte sie schlecht umgehen.
Jack Ming kannte den Portier nicht und hatte auch keinen Schlüssel, also setzte er sich in die kleine elegante Teestube gegenüber und trank einen starken Earl Grey, um den Jetlag abzuschütteln, während er auf sie wartete. Das Donnergrollen am Himmel war lauter als der Verkehr. Die Wolken dimmten das helle Licht des Vormittags immer stärker, und ein warmer böiger Wind kam auf. An der Straßenecke stand urplötzlich ein Regenschirmverkäufer, fast so, als hätte ihn der Regen hergezaubert. Es war ungewöhnlich warm in New York, vor allem nach der Kälte in Amsterdam.
Er hätte nicht gedacht, jemals hierher zurückzukehren. Doch die Heimkehr löste keine großen Gefühle in ihm aus, wie er es erwartet hatte, sondern nur eine bedrückende leise Traurigkeit.
Er spürte förmlich, welcher Gefahr er sich aussetzte. Novem Soles hatte vielleicht auch hier einen Killer auf ihn angesetzt, der seine Mutter beobachtete und zuschlug, sobald er auftauchte. Vielleicht hatte die CIA inzwischen herausgefunden, wer er war. Er blickte sich um. Falls ihre Wohnung observiert wurde, hätte man ihn längst schnappen können. Er steckte sich die iPod-Stöpsel ins Ohr, ließ das Gerät jedoch ausgeschaltet. Er hatte mit einem Prepaid-Handy bei ihr zu Hause angerufen, als er in Manhattan eingetroffen war. Als sich der Anrufbeantworter einschaltete, legte er auf und beschloss, einfach zu ihr zu gehen, ohne sich vorher anzukündigen. Sein Vater war recht wohlhabend gewesen, die Mings hatten schon in Hongkong umsichtig investiert, aber seine Mutter arbeitete immer noch als Beraterin, obwohl sie es nicht nötig hätte.
Mom, komm nach Hause, dachte er. Er versuchte es erneut am Telefon in ihrer Wohnung. Keiner hob ab. Manchmal verreiste sie auch geschäftlich, womöglich war sie gerade in Südamerika, Hongkong oder Kanada. Vielleicht checkte sie wenigstens ihre Anrufe. Er konnte auch versuchen, ihren Laptop zu hacken: Sie war nicht besonders sicherheitsbewusst. Doch das wäre ihm vorgekommen, als würde er in ihren Kleiderschränken wühlen oder ihre Liebesbriefe aus der Teenagerzeit lesen. Der eigenen Mutter spionierte man nicht nach.
Er wartete und beobachtete mit klopfendem Herzen, wie der warme Regen über die Fenster lief. Vielleicht spuckte sie ihn an, sobald sie ihn sah. Oder sie schrie nach der Polizei. Er wusste nicht, ob er es ertragen würde, wenn sie ihm noch einmal ins Gesicht sagte, der Mörder seines Vaters zu sein.