28
East 59th Street, Manhattan
Ich lief hinunter in die Lobby. Der Portier stand bei der Glastür, und als er mich bei der Treppe sah – mit dem Laptop in der Hand –, eilte er empört auf mich zu. Empört, aber immer noch äußerst höflich.
»Sir, ich weiß, Sie müssen sich erholen, aber das ist ein Privathaus und …«
Ich schlug zu, kurz und hart, auf die weiche Stelle zwischen Kiefer und Lippe. Er taumelte zurück, und ich rammte ihm die Faust erst in die Magengrube, dann in den Nacken.
»Sorry«, sagte ich. »Es tut mir wirklich leid, Mister.« Er klappte zusammen. Ich kniete mich zu ihm, durchsuchte seine Taschen und fand einen Hauptschlüssel. Ich stand auf und rannte den Flur entlang. Eine Tür trug die Aufschrift »Security«. Ich schloss sie auf und sah einen Sicherheitsmann vor seinen Monitoren sitzen. Er sprang auf und griff nach seinem Holster. Ich schlug ihn nieder und nahm ihm die Waffe ab. Forderte ihn auf, sich hinzusetzen, und er gehorchte.
»Umdrehen. Ich bringe Sie nicht um.« Ich knallte ihm die Pistole auf den Hinterkopf, dreimal, und er sank zu Boden. Ich wandte mich den Sicherheitsaufzeichnungen zu und spulte zurück. Zuerst sah ich mich selbst eintreten, dann Mrs. Ming das Haus verlassen. Leute kamen und gingen, so schnell und energisch, als hätten sie Espresso im Blut. Und dann er.
Jack Ming kam allein aus dem Haus, und er hatte es sehr eilig. Auf dem Bürgersteig wandte er sich nach links.
Ich spulte noch weiter zurück und sah, wie er zusammen mit seiner Mutter das Haus betrat. An dieser Stelle ließ ich die Aufzeichnung langsamer laufen.
Auf einem anderen Monitor trat eine Frau aus dem Aufzug und schrie, als sie den Portier am Boden liegen sah. Okay. Zeit zu verschwinden.
Ich beobachtete die Körpersprache von Jack Ming, als er mit seiner Mutter das Haus betrat. Der Junge hatte augenscheinlich Angst. Er trug zwei Einkaufstüten und auf dem Rücken einen kleinen Rucksack, mit dem er das Haus auch wieder verließ. Er blickte sich nervös um und sah seine Mutter gar nicht an, während sie auf den Fahrstuhl warteten.
Und Mrs. Ming. Auch sie feierte eindeutig kein fröhliches Wiedersehen. Ihr Blick war zu Boden gerichtet, dann auf ihre Uhr. Hatte sie einen dringenden Termin? Sie schien sich ziemlich unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Immer wieder schüttelte sie Regentropfen von ihrem Schirm. So brauchte sie ihren Jungen nicht anzuschauen.
Ich stoppte die digitale Aufzeichnung und löschte alles von Jacks Ankunft bis jetzt, dann schaltete ich die Kameras aus. Ich hatte keine Lust, gefilmt zu werden.
Rasch verließ ich den Sicherheitsraum, vorbei an der Frau, die bei dem bewusstlosen Portier hockte, ein Handy ans Ohr gedrückt. Sie rief mir zu, ihr zu helfen, doch ich eilte weiter.
Ich ließ mich in der Menge treiben, nur weg aus dieser Gegend. Bei der nächsten Subway-Station stieg ich hinunter und fuhr bis zum Grand Central Terminal. Dort betrat ich einen Laden und kaufte einen Rucksack, in dem ich den Laptop verstaute.
Ich versuchte Leonie auf dem Handy zu erreichen, doch sie meldete sich nicht. Das kam mir verdächtig vor. Vielleicht wollte sie nicht telefonieren, während sie fuhr, doch ich nahm an, dass sie für mich eine Ausnahme gemacht hätte.
Einen Moment lang fühlte ich mich innerlich zerrissen. Ich hatte die Adresse eines leerstehenden Hauses, in dem sich mit hoher Wahrscheinlichkeit meine Zielperson aufhielt. Und wenn man vorhat, jemanden umzubringen, dann ist ein leeres Gebäude in New York City ein günstiger Ort dafür. Doch ich hatte zunehmend das Gefühl, dass es ein Fehler war, Leonie auf die Limousine mit dem grimmigen Fahrer angesetzt zu haben. Vielleicht wusste Jacks Mutter, wo ihr Sohn hinwollte, vielleicht aber auch nicht. Ich hatte eine handfeste Adresse, eine heiße Spur, während Leonie möglicherweise völlig sinnlos durch die Gegend fuhr. Ich trat auf die Straße hinaus und rang mit mir, was ich tun sollte.
Der Wind zerriss die Regenwolken in kleine graue Knäuel, das schwache Sonnenlicht erhellte den Himmel.
Während ich überlegte, klingelte in meiner Tasche das iPhone, das Anna mir gegeben hatte.
»Ja?«
»Sam?« Leonie. Ihre Stimme war angespannt und zittrig vor Angst. Man hört es, wenn jemand mit geschwollenen Lippen spricht: Die Worte klingen irgendwie anders.
»Ja?«
»Oh Gott, ich hab’s vermasselt, bitte …«
Und dann die Stimme des Chauffeurs: »Sie. Sie haben mir die Frau nachgeschickt. Wer sind Sie?«
»Tun Sie ihr nichts.«
»Wenn Sie wollen, dass ihr nichts passiert, dann kommen Sie her und holen sie.«
Nein. Nicht jetzt. Ich kannte die Adresse, die Jack höchstwahrscheinlich aufsuchte. Ich hatte Jack Ming zum Greifen nahe.
Was würden Sie tun, um Ihr Kind zu retten?, hatte sie mich gefragt.
Eine Entscheidung. Was würde ich tun, um mein Kind zu retten? Würde ich diese Frau, die ich kaum kannte, opfern? Eine hässliche kleine Stimme in mir flüsterte: Du brauchst sie nicht. Du hast Jack gefunden, nicht sie. Wofür ist sie gut, was hat sie denn schon getan, um dein Kind zu retten? Die Stimme kam aus einem dunklen Winkel meiner Seele, doch wenn du um dein Kind kämpfst, ist die Dunkelheit immer nah und flüstert dir ins Ohr. Novem Soles würde mir Daniel nicht geben – und auch Leonie würde ihre Tochter nicht bekommen –, falls Jack Ming lang genug am Leben blieb, um mit der CIA zu sprechen.
»Hören Sie mir gut zu, Mister: Holen Sie das Miststück ab, sonst schneid ich ihr die Kehle durch.«
Im Hintergrund hörte ich Leonies Stimme: »Nein! Nicht!«
Ich wusste nicht, ob sie mit mir sprach oder mit dem Fahrer. Dann ein durchdringender Schrei.
»Wo sind Sie?«, brachte ich heraus.
Er nannte mir eine Adresse und beschrieb mir den Weg ins Morris County im Norden von New Jersey.
Ich trennte die Verbindung. Wenn ich die falsche Entscheidung traf, überließ ich vielleicht eine Frau, die ich kaum kannte und die mich noch dazu zu verachten schien, dem Tod, oder aber mein eigenes Kind.
Wäre die Situation umgekehrt gewesen – was hätte ich von ihr erwartet? Dass sie mich sterben lässt? Ja. Los, Lady, retten Sie die Kinder, hätte ich gesagt. Was mit mir passiert, ist egal. Holen Sie die Kinder zurück.
Wir hatten nicht damit gerechnet, es mit einem anderen Gegner zu tun zu bekommen als der CIA, die uns sicher nicht mit dem Tod bedrohen würde. In meiner verzweifelten Jagd nach Jack Ming hatte ich eine solche Entwicklung nicht einkalkuliert. Ich musste mich entscheiden.
Ich stand auf dem Bürgersteig in der feuchten Wärme und begann zu zittern. Es war, als stünden meine Nerven unter Strom. Ich gönnte mir dreißig Sekunden der Schwäche, dann hörte ich auf zu zittern und fasste einen Beschluss. Leonie schwebte in akuter Gefahr. Ich konnte sie nicht einfach sterben lassen.
Ich marschierte los. Ich brauchte ein Auto.
Nachdem ich ein paarmal abgebogen war, sah ich eine Parkgarage. Vier Männer in Anzügen kamen die Rampe herunter, um sich in den Strom der Fußgänger zu mischen. Ich timte mein Manöver sorgfältig und rempelte den Mann an, der die Hand noch in der Tasche gehabt hatte, als er auf den Bürgersteig getreten war.
»Herrgott, passen Sie doch auf, Idiot«, fuhr er mich an.
»Tut mir leid, meine Schuld«, sagte ich. Ich bog zur Parkgarage ab und eilte die Treppe hinauf. Erst in der zweiten Etage sah ich nach, welche Schlüssel ich dem Mann abgenommen hatte: Am Schlüsselanhänger prangte das Mercedes-Logo. Ich lief die geparkten Autos entlang und hielt den Knopf der Fernbedienung gedrückt, bis die Scheinwerfer eines Mercedes SE aufflammten.
Eine Minute später war ich bereits unterwegs zum Lincoln-Tunnel.
Wenn du sie rettest und Jack Ming entkommt …
Ich musste mich auf den nächsten Schritt konzentrieren. Ich würde mich eben beeilen. Bitte, dachte ich, nur jetzt kein Verkehrsstau oder Unfall vor mir. Und der Typ, dem das Auto gehört, soll bitte nicht gleich merken, dass ich ihm den Schlüssel geklaut habe. Der Portier und der Sicherheitsmann sind hoffentlich auch wohlauf. Gott, vergib mir alles, was ich tue, um meinen Sohn zu retten.
Und lass mich nicht scheitern.