12

Greenwich Village, New York

Ricardo Braun kehrte erst im Laufe des Nachmittags aus Langley nach New York zurück. In seinem Büro in der Special-Projects-Abteilung roch es nach feinen Zigarren und exquisitem Kaffee. August dachte sich, dass er auf den Kaffee verzichten sollte; er fühlte sich auch so schon nervös genug. Doch man sagte nicht einfach Nein zu einer Legende, und Braun war eine Legende. Also setzte sich August auf den schweren ledernen Lehnstuhl, mit einer duftenden Tasse des feinen brasilianischen Kaffees. Es war erst das zweite Mal, dass er dieses Büro betrat.

Ricardo Braun hatte sich frühzeitig pensionieren lassen und war erst vor wenigen Wochen in den Schoß der Agency zurückgekehrt, als Special Projects nach den Pannen der vergangenen Monate jemanden brauchte, der sie aus der Krise führte. August kam sich neben ihm vor wie ein Ochse. Braun war extrem schlank, kahlköpfig und hatte die drahtige Statur eines Läufers. Er war Ende fünfzig, hatte graue Augen und strahlte eine unerschütterliche Selbstsicherheit aus. Er trug eine schwarze Hose und ein makelloses weißes Hemd, und er besaß nach Augusts Einschätzung die aufwendigste Kaffeemaschine der Welt. Als er sich von dem Gerät abwandte, hielt er eine Tasse mit einem Gebräu in der Hand, das einen unglaublich würzigen Duft verströmte.

»Was soll ich tun?«, fragte August.

»Welch eine Frage: Stellen Sie dem Kerl einen Scheck aus«, antwortete Braun. »Muss man euch denn alles sagen?«

August wusste, dass es ein Scherz war, und lächelte. »So was darf ich nicht entscheiden. Aber Sie.«

»Wir werden dem Kerl keine zehn Millionen Dollar zahlen«, sagte Ricardo Braun. »Was ist, wenn seine Informationen völlig wertlos sind? Und wenn er verschwindet, bevor wir’s nachgeprüft haben.« Er nahm einen Schluck Kaffee.

»Er kann nicht verschwinden, er sagt, er will Schutz von uns.«

»Genau das würde ich sagen, wenn ich vorhätte zu verschwinden«, erwiderte Braun.

»Er wird doch nicht glauben, dass er sich vor uns verstecken kann.«

»Novem Soles hält sich jedenfalls gut versteckt. Was wissen wir denn wirklich über sie? Nichts. Alle Hinweise führen in eine Sackgasse.« Braun betrachtete die Tasse Kaffee, die er vor sich stehen hatte, rührte sie jedoch nicht an.

»Soll ich eine Akte anlegen?« Die Special-Projects-Abteilung operierte nach ihren eigenen Spielregeln, unabhängig von der CIA-Bürokratie. Dennoch wurden über alle Aktivitäten Aufzeichnungen geführt, wenn auch nur für den internen Gebrauch. Special Projects hatte Zugang zu den Datenbanken der Company, doch umgekehrt galt das nicht. Man verfügte über ein eigenes Computernetzwerk und war sogar in der Lage, auf Datenbanken von Polizei und Privatfirmen zuzugreifen, mitunter illegal. Dass man sich nicht immer starr an die Regeln hielt, verlieh der Abteilung außergewöhnliche Möglichkeiten.

»Ja, tun Sie das. Aber der Company berichten wir noch nichts.« Er stand auf und trat ans Fenster. »Diese Gruppe hat die Company schon einmal infiltriert, sogar mehr als einmal, durch Bestechung. Zwar nicht während ich noch hier war, aber ich hab mein tägliches Golfspiel und das Angeln nicht aufgegeben, um zu scheitern.« Er drehte sich mit strengem Blick zu August um. »Wir werden nicht irgendwelchen Verrätern einen Hinweis geben, die nur darauf warten, dass das Stichwort ›Novem Soles‹ in einer E-Mail oder einem Gespräch fällt. Die Sache bleibt erst mal unter uns. Finden Sie diesen Informanten, bringen Sie ihn her, dann sehen wir uns an, was er hat.« Braun stockte einen Augenblick. »Sind Sie mit Capra schon weitergekommen?«

»Er hat unsere Beschatter entdeckt, hat einen, der ihm zu nahe kam, außer Gefecht gesetzt und mich dann auf einen Martini eingeladen – in einer Bar, die jetzt ihm gehört, drüben beim Bryant Park. The Last Minute heißt sie.«

Braun lächelte. »Eine Bar. Wenn ich nicht so wütend auf ihn wäre, könnte ich den Kerl noch richtig sympathisch finden.«

»Er will uns nichts über diese Mila sagen und behauptet, keine anderen Informationen zu Novem Soles zu besitzen. Ich hab das Gefühl, dass er sein eigenes Leben führt und sich nicht weiter für uns interessiert. Er ist jetzt Geschäftsmann und will von unseren Angelegenheiten nichts mehr wissen.«

»Und sein Sohn?«

»Nichts Neues. Sagt er jedenfalls.«

»Ich glaub nicht, dass er die Hände in den Schoß legt«, meinte Braun. »Er wird alles tun, um seinen Sohn zu finden.«

August griff nach seiner Tasse und kostete das dunkle Gebräu. Der beste Kaffee, den er je getrunken hatte. So gehaltvoll und aromatisch, dass seine Geschmacksknospen fast geschockt waren. Braun beobachtete ihn lächelnd.

Das ist ein Typ, der auf jedes Detail achtet, dachte August.

Er wusste, dass Braun Sams Akte gelesen hatte. »Er steht vielleicht genauso vor einer Wand wie wir.«

»Könnte Ihr Informant von Capras Baby wissen?«

»Keine Ahnung. Ich hab ihn nicht gefragt«, fügte August mit einigem schlechten Gewissen hinzu. »Ich hatte keine Gelegenheit mehr, ins Detail zu gehen.«

»Dieses Kind könnte als Druckmittel verwendet werden.«

»Nur bis zu einem gewissen Grad. Sam würde nichts gegen uns unternehmen, auch wenn sie es von ihm verlangen. Er würde es uns sagen, wenn jemand eine solche Forderung an ihn stellt.«

Braun hob eine Augenbraue. »Liebt Ihr Vater Sie, August?«

»Ja, Sir.«

»Würde er töten, um Sie zu retten, falls es nicht anders ginge?«

»Ehrlich gesagt, Sir«, antwortete August, »ich glaube schon, dass mein Dad so weit gehen würde.«

»Sam würde Ihnen vielleicht die Kehle durchschneiden, wenn er dadurch seinen Sohn retten könnte. Gehen Sie zu dem Treffen, aber seien Sie sehr vorsichtig.« Braun sah ihn mahnend an. »Langley sagt, dieser Informant hat Sie verlangt. Er muss also wissen, dass Sie die Task Force leiten. Vielleicht ist das Treffen nur dazu gedacht, Sie zu töten oder Sie zu schnappen, um Sie auszuquetschen.«

»Sie machen mir richtig Lust auf die Arbeit.« August stand auf. »Darf ich Sie was fragen? Es geht um etwas, über das ich mit Sam gesprochen habe.«

»Ja?«

»Diese Mila.« Er legte das Foto vor Braun auf den Schreibtisch. »Sie war gestern Abend wieder mit Sam zusammen. Wir haben sie verloren.«

Braun studierte das Bild. »Ich hab Ihnen schon gesagt, ich kenne sie nicht. Ich war aber auch ein paar Jahre nicht im Geschäft.«

»Wir haben ein paar Dinge über sie aufgeschnappt. Vor drei Jahren hat jemand ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt: eine Million Dollar, und das gilt immer noch.«

»Ich hab noch nie gehört, dass ein Verbrecherring ein so hohes Kopfgeld zahlt. Wie hat sie’s geschafft, am Leben zu bleiben?«

»Sie ist entweder sehr gut oder hat verdammt viel Glück.«

»Vielleicht hat sie einfach noch niemand gefunden.« Braun studierte das Foto erneut. »Ein solches Kopfgeld, und keiner weiß, wo sie steckt? Unglaublich. Wo haben Sie das aufgeschnappt?«

»In verschiedenen Diskussionsforen von Extremisten, die auf der Suche nach Geld sind.«

»Wer hat das Kopfgeld ausgesetzt?«

»Die Spur führt zu einem Gmail-Account, den nie jemand genutzt hat. Oder vielmehr nur an einem Computer, der nicht aufzuspüren ist.«

»Stehen die Details in Ihrem Bericht?«

»Ja, Sie kriegen ihn bis heute Abend.«

Braun gab ihm das Foto zurück. »Okay, August. Bringen Sie uns diesen Informanten. Und die Frau auch.«

Sonst können Sie sich einen neuen Job suchen, fügte August säuerlich in Gedanken hinzu.

Das Internet-Café befand sich nahe dem Campus der New York University. Er suchte es eine Stunde, nachdem August gegangen war, auf, weil er keinen CIA-Computer benutzen wollte. Zuerst hatte er noch in Ruhe seinen exquisiten Kaffee getrunken. Ricardo Braun betrat das Lokal und bestellte einen koffeinfreien Kaffee, mit wenig Hoffnung, dass er den Ansprüchen seines Gaumens genügen würde. Er setzte sich an ein Terminal abseits der anderen Gäste und öffnete einen E-Mail-Account, den er vor sechs Jahren eingerichtet hatte und nur selten nutzte, ein kleines Versteck im Web. Heute hatte er sich an eine Nachricht erinnert, die er vor zwei Jahren hier erhalten hatte. Er bewahrte etwa zwei Dutzend Nachrichten hier drin auf, für den Fall, dass sie ihm noch einmal nützlich sein könnten. Anfragen nach Informationen. Angebote. Die CIA-Pension war nicht so üppig, wie sie sein sollte, und obwohl er etwas Geld geerbt hatte, war ein bisschen zusätzliches Kapital nie zu verachten. Jedenfalls solange er mit seinen kleinen kreativen Nebenjobs seinem geliebten Land nicht schadete. Er achtete stets darauf, das Geld sehr diskret zu investieren; die CIA hatte ein wachsames Auge auf das Einkommen ihrer ehemaligen Agenten.

Die Nachricht hatte ein Foto der Frau namens Mila enthalten. Damals hatte er ihr Gesicht zum ersten Mal gesehen. Diese fein geschnittenen Züge.

Er betrachtete das Foto: Tatsächlich, das musste sie sein. Sie hatte eine andere Frisur, doch die Wangenknochen waren so wie auf Augusts Foto, auch der Mund und die scharfen Augen, die schon viel Schlimmes gesehen zu haben schienen. Das Bild zeigte sie mit einer Pistole in der Hand, in Hose und Jacke aus Leder, sie blickte sich in einem Zimmer um. Das Foto stammte vermutlich von einer privaten Sicherheitskamera.

Er las die Nachricht noch einmal. Kontaktieren Sie 45899 wegen Details zum Job. Hohes Honorar. Er fragte sich, ob das Angebot noch galt. Kurz entschlossen schrieb er eine Nachricht auf seinem Handy, von dem die CIA nichts wusste.

Es kam ein Autoreply, das ihn auf eine private Website verwies und ihm ein Passwort lieferte.

Braun wechselte auf die angegebene Website. Die URL bestand aus einem wilden Durcheinander aus Zahlen und Buchstaben: keine Seite, auf der man zufällig landete. Er tippte das Passwort ein.

Die Website öffnete sich. Sie zeigte weitere Fotos von Mila, von derselben Kamera geschossen. Darunter der Text in fünf Sprachen: EINE MILLION US-DOLLAR FÜR DIESES MISTSTÜCK. ICH WILL SIE LEBEND. Braun starrte auf den Bildschirm. Eine Million Dollar war normalerweise der Preis für Staatsoberhäupter oder Direktoren irgendeiner bedeutenden Organisation. Braun selbst hatte einst hunderttausend CIA-Dollars dafür verwendet, einen ruandischen Warlord auszuschalten. Das Doppelte hatte er für einen Drogenboss in Ecuador bezahlt. Braun besaß ein privates Adressbuch mit Leuten, an die er sich wenden konnte, wenn CIA-Personal nicht in Frage kam.

Wer war diese Frau, und wer bot eine Million, um sie auszuschalten? Er blickte auf das letzte Update: vor einem Monat, eine kurze Botschaft. Angebot steht noch. Dazu eine E-Mail-Adresse.

Braun schrieb folgende Antwort: Ich habe eine Spur zu einem Partner von ihr, doch ich muss wissen, ob ich mich auf die Auszahlung verlassen kann.

Nachdem die Nachricht abgeschickt war, schloss er den E-Mail-Account und die Website und löschte den Browserverlauf. Er verließ das Internet-Café und suchte eine Pizzeria auf, die vor allem von Studenten besucht wurde. Dort aß er im Stehen eine dicke Pizzaecke und trank dazu eine Cola.

Eine Million Dollar. Mit der Bedingung, sie lebend abzuliefern, was die Sache natürlich komplizierter machte.

Als er aufgegessen hatte, ging er nach Hause und setzte sich in seinen Lederstuhl. Er dachte an Novem Soles, an Mila und überlegte, wie er sich die Million holen konnte.

Die letzte Minute
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