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Sydney, Australien
Sydney ist eine nette Stadt. Der Hafen ist wunderschön, es gibt ausgezeichnete Restaurants, und die Australier sind erstaunlich freundliche Leute. Ich unternehme lange Spaziergänge entlang der Küste, an der vor über zweihundert Jahren die ersten Schiffe mit Sträflingen an Land gingen, eine klägliche menschliche Fracht.
Ich bin selbst eine klägliche menschliche Fracht.
Vom Meer weht eine kräftige Brise herein, und wenn ich mich in den Wind lehne, habe ich das Gefühl zu laufen, obwohl ich stehe.
Ich bin frei und doch eine Gefangene.
Ich bleibe auf meinem Vormittagsspaziergang stehen und beobachte die Touristen, wie sie die berühmte Oper knipsen. Gleich muss ich nach Hause zurückkehren. Meine Tante und mein Onkel werden unruhig, wenn ich zu lange weg bin. Ihr Englisch ist noch nicht besonders, ich bringe es ihnen nach und nach bei. Sie lernen viel, indem sie sich die australischen Seifenopern ansehen, die die rumänischen an Schmalzigkeit sogar übertreffen. Einen Lehrer zu engagieren wäre mir zu riskant. Die Leute reden halt. Und ich muss davon ausgehen, dass Zviman – mit seinem zerschnittenen Penis – mich und meine Familie sucht.
Ein gut gekleideter Mann, ein bisschen jünger als ich, bleibt einen Meter neben mir stehen. Er hat dunkles Haar, ein ruhiges, gefasstes Gesicht und trägt eine graue Hose und ein teuer aussehendes oranges T-Shirt. Kein Businesstyp, eher ein junger Mann, der gern Schauspieler wäre. Er hat ein listiges Lächeln auf den Lippen.
»Eine glatte Million«, sagt er, als würde er mit dem Wind sprechen. Sein Akzent ist britisch und klingt gebildet.
Ich denke mir, er telefoniert mit einem Handy, mit einem kabellosen Headset, oder er will bei mir Eindruck schinden, indem er einfach einen gewaltigen Geldbetrag ausspricht. Er unterscheidet sich nicht so sehr von den anderen Männern, die mich abends ansprechen, wenn ich mich in eine nette Bar setze, um dem Geschwätz von Onkel und Tante zu entgehen.
Also beachte ich ihn nicht weiter.
»Eine glatte Million ist als Kopfgeld auf Sie ausgesetzt. Ein starker Anreiz, Sie zu finden. So wie Sie Nelly gefunden haben. Solche Beträge werden sonst nur für Staatsoberhäupter oder besonders üble Warlords in irgendeinem Krisengebiet gezahlt.«
Jetzt werfe ich ihm einen kurzen Blick zu, und es schnürt mir fast die Kehle zu.
»Ich habe übrigens ein interessantes Foto gesehen«, fährt er fort und bläst dabei eine Rauchwolke seiner Dunhill aus, »ein Foto von Zvimans … äh … ramponiertem Ding. War schwierig zu kriegen. Wussten Sie, dass er sich nicht in ein Krankenhaus gewagt hat, um sich Ihre nette kleine Mausefalle entfernen zu lassen? Er flog mit dem Flugzeug eines Freundes in eine zwielichtige Privatklinik in Straßburg. Das war bestimmt der längste Flug seines Lebens. Ich musste ein horrendes Bestechungsgeld an diese Klinik zahlen, um dieses ausgesprochen unappetitliche Foto zu bekommen«, fügt der junge Mann mit einem leichten Schaudern hinzu.
Ich laufe nicht mit einer Pistole in Sydney herum, doch den ausziehbaren Schlagstock habe ich immer in der Jackentasche. »Sie müssen mich mit jemandem verwechseln.«
»Nein, Mila, tu ich nicht.« Er lächelt. Nicht spöttisch. Freundlich.
Eine Million auf meinen Kopf. Also sage ich: »Dann hab ich ihm wohl nicht sein ganzes Geld gestohlen.«
Der junge Mann räuspert sich. »Zviman war nicht nur im Menschenhandel aktiv, meine Liebe. Er war … nein, ist immer noch einer der größten Schmuggler im Mittelmeerraum. Waffen, Drogen, sogar Blumen und Fisch. Sie haben ihm einen schmerzhaften Schlag versetzt – in mehr als einer Hinsicht, und dazu kann man Ihnen nur gratulieren –, aber er ist nach wie vor im Geschäft. Er arbeitet mit gefährlichen Leuten zusammen. Trotzdem, Sie haben ihn empfindlich getroffen. Für Schmuggeloperationen dieser Dimension braucht es Geld. Also ist er zuerst einmal untergetaucht. Angeblich hat er sich auf großangelegte Erpressung verlegt. Mit Hilfe von Computern findet er schmutzige Geheimnisse über alle möglichen Leute heraus. Bei Erpressung geht es vor allem um Information, und wir leben schließlich heute in einem Informationszeitalter, nicht wahr?«
»Hat er Sie geschickt?« Wenn die mich hier finden, dann finden sie mich überall.
»Nein. Hätte der Mann mit dem zerschnittenen Schwanz mich geschickt, würden Sie längst tot im Hafen treiben, mein Schatz.«
»Ich bin nicht Ihr Schatz.«
»Nein, aber träumen darf man ja.« Er sieht mich mit einem gewinnenden Lächeln an.
»Was wollen Sie?«
»Ich will Sie. Ich möchte, dass Sie etwas Konstruktives tun mit Ihrem Schmerz und Ihrem Zorn.«
»Ich bin gescheitert. Meine Schwester …«
»Mila.«
»Ich hab versagt.«
»Mila. Sie sind eine Lehrerin aus einer kleinen Stadt in Moldawien und haben eine Operation eines Menschenhändlerrings zunichtegemacht. Sie haben diesen Leuten einen schweren Schlag versetzt und ihnen einen großen Batzen Geld abgenommen. Wissen Sie, wie selten es in unserer übervorsichtigen Welt geworden ist, dass jemand so etwas wagt? Ich würde Ihnen am liebsten Diamanten zu Füßen legen. Sie sind unglaublich.«
Ich schaue ihn an, als wollte ich ihn ohrfeigen. »Meine Schwester ist tot – Ihr Lob bedeutet mir nichts.« Ich blicke auf das stahlgraue Meer hinaus.
»Was Sie getan haben …«
»… das ist misslungen.« Ich wende mich ihm zu. »Das Einzige, was am Ende geblieben ist, war das Geld. Geht es Ihnen darum? Geld für Ihr Schweigen?«
»Nein. Nicht jeder hätte diese Datenbank mit den geraubten Mädchen an das Rolling Stone Magazine geschickt, zusammen mit den Namen der Käufer und dem Konto mit Zvimans Geld. Sie haben einen ganz schönen Aufruhr ausgelöst, meine Liebe. Und dann noch Ihre Weisung, das Geld den Frauen zu geben, die gefunden und befreit werden. Sehr großzügig. Aber mein Schweigen brauchen Sie sich nicht zu erkaufen, Mila. Ich will Ihnen nichts Böses, im Gegenteil, ich möchte Sie auf das beste Mittagessen in ganz Sydney einladen.«
»Und einen Drink«, füge ich hinzu. Ich glaube, den kann ich jetzt gebrauchen.
»Gern, meine Liebe. Was möchten Sie trinken?«
»Ich hab kein Lieblingsgetränk.«
»Ich glaube, Glenfiddich würde gut zu Ihnen passen.«
»Was soll das sein?«
»Whisky.«
Ich verschränke die Arme. »Hab ich noch nie probiert.«
»Und nachdem Sie festgestellt haben, wie gut ein feiner Whisky tun kann, möchte ich Ihnen einen Job anbieten.«
»Ich halte mich unter einem falschen Namen hier in Australien auf, ich hab keine Arbeitsgenehmigung. Sorry.«
»Die brauchen Sie nicht. Wenn ich Sie hier finde, dann schafft es Zviman auch. Und mit einer Million auf Ihren hübschen Kopf ist das nur eine Frage der Zeit.« Er beugt sich vor. »Wir können Ihre Tante und Ihren Onkel besser verstecken, als Sie es je tun könnten. Und Sie ebenfalls. Aber Sie würden wahrscheinlich verrückt werden, wenn Sie nur herumsitzen und darüber nachdenken, was mit Nelly passiert ist. Sie haben so viele Menschenleben gerettet, Mila. Sie haben viel Gutes getan. Und Sie könnten noch viel mehr tun. Sie können natürlich weiterhin zu Hause bei Ihrem Onkel und Ihrer Tante sitzen und sich australische Fernsehserien anschauen, damit die beiden Englisch lernen, während der Mann, der Ihre Schwester zerstört hat, frei herumläuft und hinter Ihnen her ist.« Er riskiert ein Lächeln. »Wenn Sie nicht an einem Ort bleiben, sind Sie viel schwerer zu finden.«
»Was ich getan hab, war verrückt.«
»Eindeutig.«
»Ich bin sonst nicht so. Das hab ich für meine Schwester getan.«
»Ist Ihnen vielleicht eine Tätowierung an Zviman aufgefallen? Eine Sonne in einer Neun?«
Ich schließe die Augen und erinnere mich an die Tätowierung auf Zvimans Arm. »Ja, ich hab sie gesehen. Ein hässliches Ding.«
»Was dahintersteckt, ist noch viel hässlicher. Diese Tätowierung bedeutet, dass er nicht nur mit seinem Verbrecherring operiert, sondern zu einer größeren Organisation gehört. Einer Gruppe, die wesentlich schlimmer ist als er selbst.«
»Das ist nicht mein Problem.«
»Nein, Ihr Problem ist, dass sich so ziemlich jeder geldgierige Auftragskiller die Million holen will, die Zviman auf Ihren Kopf ausgesetzt hat. Das sind Dutzende, Mila. Ich kann Ihnen helfen. Wenn wir Ihre Familie verstecken, ist sie in Sicherheit. Aber Sie können kein normales Leben führen, solange Zviman und seine Bosse ihr Unwesen treiben. Die lassen Sie kein normales Leben führen.«
»Für wen arbeiten Sie?«
»Wir sind das Gegenstück zu Mr. Zviman und seinen Freunden.«
»Wer sind Sie? Die Polizei?«
Er lächelt.
»Die CIA?«
Er lächelt erneut, schüttelt den Kopf.
»Der MI6?«
»Oh, Mila, das war im zwanzigsten Jahrhundert.« Er lacht, und ich stelle fest, dass ich sein Lächeln mag. »Die Tafelrunde ist viel mehr. Gehen Sie mit mir essen, dann reden wir über alles.«
»Wie heißen Sie?«
»Sie können mich Jimmy nennen. Und ich werde Ihr bester Freund sein.« Er streckte mir die Hand entgegen. Ich überlegte einen Augenblick, dann nahm ich sie.