26
Manhattan
Während ich zur Subway ging, tippte ich eine Nachricht an Leonie. Ich berichtete ihr, dass Jin Ming in Wahrheit Jack Ming hieß, und fügte hinzu, sie solle mit unserem Mietwagen zur Adresse in der East 59th Street kommen. Wir waren so nah dran.
Sollte ich Daniel nicht finden – nein, mit diesem Gedanken würde ich mich gar nicht beschäftigen. Annas grausame Worte – Ich werde ihn nicht an nette Leute verkaufen – gingen mir nicht aus dem Kopf. Daniel, mit meinen Augen und dem Mund seiner Mutter, an Leute verkauft, die ihn misshandelten und töteten, wenn sie ihn nicht mehr brauchten. Und falls er es überlebte, würde er wahrscheinlich für immer gezeichnet bleiben von dem, was man ihm als Kind angetan hatte. Ich hatte Daniel nie im Arm gehalten, nie gesehen, doch einem solchen Schicksal konnte ich ihn nicht überlassen. Niemals.
Es war seltsam, sich vorzustellen, dass ich mit der Subway fuhr, um jemanden umzubringen. Ein Typ, der nach Pfefferminzbonbons roch, stand dicht neben mir, ein Mädchen mit violett schimmerndem Haar starrte auf meine Schuhe, während aus ihrem Kopfhörer leise Mozartklänge drangen. Zwei Leute gegenüber sprachen portugiesisch miteinander, und ich lauschte ihrem Gespräch. Wenn man seine Kindheit überall auf der Welt verbracht hat, schnappt man von vielen Sprachen ein wenig auf. Sie plauderten über einen Freund, seine Stärken und Schwächen, sein Lächeln, seinen Hang zu billigen Restaurants, banaler Alltagstratsch, und ich saß hier und dachte daran, wie ich einen jungen Mann kaltblütig ermorden würde.
Gegenüber von Sandra Mings Wohnhaus befand sich eine Sushi-Bar. Sie war in kargem, minimalistischem Stil eingerichtet, im Hintergrund lief schlechte japanische Popmusik, wenn auch zum Glück nur ganz leise. Der Koch schien aus irgendeinem Grund wütend zu sein, während er mit finsterer Miene Ahi-Thunfisch, Seeigel und Lachs hackte. Er murmelte japanische Worte vor sich hin, und ich hätte ihm fast in seiner Sprache geraten, einen Zorn-Management-Kurs zu besuchen. Man sah ihm an, dass er gern Fleisch zerhackte. Immerhin hatte er ein nützliches Ventil.
Ich bekam mein Mittagessen serviert und schaute weiter aus dem Fenster. Ich aß mein Sushi. Fisch, Reis und Wasabi, ohne etwas zu schmecken. Der Regen hatte nachgelassen, doch der Himmel war immer noch grau. Mrs. Ming oder ihr Sohn hatten sich bisher nicht beim Haus blicken lassen. Ich wollte ihn mir nicht als Jack Ming vorstellen. Jack Ming, das klang nach einem meiner vielen ehemaligen Mitschüler in den vierzehn Ländern, in denen ich meine Kindheit und Jugend verbracht hatte, von meinen Eltern im Laufe ihrer Arbeit für eine Hilfsorganisation rund um die Welt geschleppt. Sie waren gute Leute, doch die Welt zu verbessern interessierte sie mehr, als sich länger als fünf Minuten mit ihren eigenen Kindern zu beschäftigen. Ich liebte sie, und sie schienen mich ebenfalls zu lieben, mehr gab es zu dem Thema nicht zu sagen. Bestimmt hätten sich Psychologen mit Freude auf meine Kindheit gestürzt und einen Bezug zu meinem gestohlenen Kind hergestellt. Doch es ging gar nicht nur darum, dass es mein Sohn war. Mit keinem Kind sollte so etwas passieren. Es gibt gewisse Prinzipien. Man muss sich einfach wehren.
Leonie setzte sich auf den Hocker neben mir. »Sie haben ihn gefunden.«
»Ja.«
»Ohne Datenbank.« Es klang so, als hätte ich irgendwie geschummelt.
»Ja.«
Sie klappte ihren Laptop auf. »Und was jetzt? Wir sitzen hier und warten, bis er aufkreuzt …« – ihre Stimme wurde leiser –, »und dann erschießen Sie ihn mitten auf der Straße?«
»Nein.« Ich schluckte den letzten Bissen Sushi hinunter. Das Essen war kein Vergnügen gewesen, es hatte lediglich der Sättigung gedient. Wenn man auf jemanden wartete, um ihn zu töten, fühlte man sich selbst innerlich wie tot.
»Wir müssen uns an das halten, was Anna gesagt hat«, erinnerte sie mich wieder einmal, und ich fragte mich, was sie tun würde, wenn ich ein Essstäbchen nahm und es ihr ins Ohr stieß.
»Ich habe bis jetzt meinen Job getan und einen großen Teil des Ihren noch dazu«, erwiderte ich. »Sie verlieren immer mehr Ihr Mitspracherecht.«
»Okay, Sam. Sie hatten Quellen, die ich nicht hatte. Ich kann Ihnen aber auch etwas über Jack Ming erzählen, das Sie noch nicht wissen. Zum Beispiel glaube ich nicht, dass er seine Mutter besuchen wird.«
»Warum nicht?«
»Sie gibt ihm die Schuld am Tod seines Vaters.«
Ich sah sie an. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe ein Netzwerk von Namen rund um Jack Ming aufgebaut«, erläuterte sie. »Er besuchte tatsächlich die New York University, also hab ich mich um die Leute gekümmert, mit denen er damals auf Facebook Kontakt hatte. Ich hab nach Leuten gesucht, bei denen er sich eventuell verstecken könnte.«
Ich fragte nicht, wie sie zu ihren Informationen gekommen war. Sie hatte entweder ihre geschickten, vom Rauchen gelb verfärbten Finger in die richtigen Datenbanken gesteckt oder ein paar Leute bezahlt, die es für sie taten. »Und?«
»Ein Freund von ihm hatte etwas über Jacks Situation gepostet. Sein Vater starb offenbar an einem Herzinfarkt, als er erfuhr, dass Jack vom FBI gesucht wurde, weil er Kopierer gehackt und Informationen von Anwaltskanzleien und Softwarefirmen gestohlen hatte. Er ist hier in dem Haus gestorben. Direkt vor Jacks Augen.«
»Sein Freund hat darüber geschrieben?« Also wirklich. Die Leute setzen heute Dinge ins Internet, die sie früher nicht mal ihren Eltern verraten hätten. Ein paar Geheimnisse darf man ruhig haben, finde ich. Ich gebe gern zu, ich verstehe nicht recht, was Twitter und Facebook so unverzichtbar macht, warum man jede Kleinigkeit in einer Talkshow ausbreiten muss oder jeden Zeitungsartikel postet, der einem nur irgendwie interessant vorkommt. Ich habe mich einmal fünf Minuten in Twitter umgesehen und fühlte mich wie in einem Pokerspiel, in dem jeder sofort seine Karten auf den Tisch legt. Wahrscheinlich kann man als ehemaliger Spion nicht aus seiner Haut und hält es für notwendig, gewisse Gedanken und Geheimnisse zu bewahren. Doch Jack Ming war ein Kind unserer Zeit und hatte seine elektronischen Brotkrumen für seine Freunde verstreut.
Es gibt immer eine Spur, hatte Leonie gesagt, und jetzt hatte sie sie entdeckt.
»Sein Freund hat auch etwas über Jacks Mutter geschrieben.« Sie klappte den Laptop auf und drehte ihn zu mir, damit ich es lesen konnte:
Ich weiß, was Trauer ist: Ich habe meine Großeltern verloren, als ich noch klein war, und letztes Jahr ist mein Hund gestorben. Der Tod gehört zum Leben. Doch was ich nicht verstehe, ist Schuld. Der Vater meines Freundes Jack starb an dem Schock über etwas, das Jack getan haben soll, obwohl es gar nicht bewiesen ist. Und selbst wenn Jack es getan hätte – kann man ihm dann die Schuld am Tod seines Vaters geben? Welche Mutter sagt so etwas zu ihrem Sohn?
Ich bin jedenfalls dankbar für meine Mutter.
Oh Gott, dachte ich. Wie haben wir eigentlich gelebt, bevor es Blogs gab? Hätte irgendjemand so etwas als Leserbrief an eine Zeitung geschickt oder sich auf eine Soapbox im Park gestellt und eine Rede über die Privatangelegenheiten einer anderen Familie gehalten? Jack musste sich nach dem Tod seines Vaters diesem Freund anvertraut haben.
Ich wandte meinen Blick wieder dem Haus zu, in dem Mrs. Ming wohnte. Der Portier blickte in den Regen hinaus. »Dann stehen sich Jack und Mama Ming also nicht mehr nahe.«
»Nein, aber er ist verzweifelt. Richtig verzweifelt. Und …«
»Was und?«
»Wenn er sich an die CIA wendet, dann hat er vor zu verschwinden. Vielleicht will er seine Mutter überreden, mitzukommen. Oder er besucht sie noch einmal, um sich zu verabschieden, um Lebewohl zu sagen.«
»Keine Ahnung.« Ich wollte das alles gar nicht über Jack Ming wissen. Ich wollte ihn nicht als Person kennenlernen. Ich wollte nur wissen, wo er sich in einem bestimmten Moment befand und wo ich ihn töten konnte, ohne gefasst zu werden. Ich schloss die Augen. Novem Soles machte mich zu einem Monster, wie Dr. Frankenstein es aus Leichenteilen erschaffen und mit Elektrizität zum Leben erweckt hatte. Ich wusste nicht, was ich sein würde, wenn ich vom Labortisch aufstand: hoffentlich ein Vater, der sein Kind wiederhatte.
Doch von Jack Mings Problemen wollte ich nichts wissen. Seine Probleme würden sich sehr bald auflösen.
Jack Mings Dad war also vor seinen Augen gestorben. Ich musste an Danny denken. Meinen Bruder, nicht meinen Sohn. Er war auf schrecklich erniedrigende Weise gestorben, nachdem er als Teil eines Hilfsteams Afghanistan erreicht hatte. In seinem Wunsch, Menschen zu helfen, war er zusammen mit einem Collegefreund in die Berge jenseits von Kandahar vorgedrungen und wurde gefasst. Drei Wochen lang hörte man nichts mehr von ihm, dann erschien ein Video auf YouTube: Mein Bruder Danny auf einem Lehmboden kniend, umgeben von vermummten Killern, die ihn zwangen, mit zitternder Stimme irgendwelchen Unsinn von sich zu geben, bevor sie ihm vor laufender Kamera den Kopf abschnitten. Danach schnitten sie auch seinem Freund die Kehle durch.
Schweißt ein Mord eine Familie zusammen, oder zerbricht sie daran? Ich glaube, das kann man nicht so allgemein beantworten. Es kommt darauf an, wie eng die Beziehungen vorher waren. Doch eine solche Exekution ist noch einmal etwas anderes als ein »normaler« Mord. Wenn der eigene Bruder mit einem langen Messer enthauptet wird, nur weil er Menschen helfen wollte, und jeder hier in der freien Welt kann seine letzten Augenblicke mitverfolgen dank des allgegenwärtigen Internets, dann wird der schlimmste Albtraum einer Familie öffentlich ausgebreitet und zur Unterhaltung für die Massen herabgewürdigt. Man hat kaum eine Chance, es irgendwie zu verarbeiten: Der Horror ist nur ein paar Mausklicks entfernt.
Soll man es für möglich halten, dass es Leute gab, die mir den Link zu dem Video mailten? Genau das ist passiert. Ich weiß nicht, warum sie’s getan haben, welche Grausamkeit sie dazu getrieben hat, aber sie haben es getan.
»Glauben Sie, er könnte sich an einen dieser alten Freunde wenden?«, fragte ich.
»Er wird immer noch vom FBI gesucht. Ich weiß nicht, ob ihn jemand mit offenen Armen aufnimmt, das wäre schließlich Beihilfe zu einem Verbrechen.«
»Diese Anklagen wären nichtig, wenn er wirklich mit der CIA spricht«, erwiderte ich. »Das werden sie ihm garantieren.«
»Aber seine Mutter würde ihn doch wohl nicht verpfeifen.«
»Stimmt. Sie ist eine Karrierediplomatin. Sie hätte eine Menge zu verlieren, falls er wieder auftaucht. Das könnte ziemlich peinlich für sie werden.«
»Na schön. Und was machen wir jetzt? Sollen wir den ganzen Tag warten und uns Sushi reinziehen wie Privatdetektive im Observationseinsatz? Womöglich war er schon hier und ist längst über alle Berge.« Ich hörte eine gewisse Verzweiflung in ihrer Stimme.
»Nein«, antwortete ich. »Wir gehen rein. Wenn er da ist, dann war’s das, und wenn nicht, dann finden wir raus, wo er steckt.«
Eine Limousine hielt am Straßenrand. Ein uniformierter Mann von kräftiger Statur stieg aus und sprach mit dem Portier.
Wenige Augenblicke später kam Sandra Ming heraus.
»Wo steht unser Mietwagen?«, fragte ich.
»Gleich um die Ecke, in einer Parkgarage.«
»Sie müssen dem Wagen folgen, ich will wissen, wo sie hinfährt.«
Leonie knallte ihren Laptop zu. Mrs. Ming sprach mit dem Fahrer, er schien ihr einen Ausweis zu zeigen. Der Portier hatte sich auf seinen Posten zurückgezogen. »Die sind weg, bevor ich beim Wagen bin«, meinte Leonie.
»Gehen Sie nur, sie wird noch da sein, dafür sorge ich schon.«
»Ich weiß nicht, wie man ein Auto verfolgt.«
»Folgen Sie ihnen überallhin, und lassen Sie sich nicht erwischen. Wir tun’s für die Kinder.«
»Danke.« Leonie sprintete aus der Sushi-Bar, und der zornige Koch sah ihr nach, als würde sie die Zeche prellen. Ich warf ein paar Scheine auf den Tisch und stand auf.
Als ich hinaus in die feuchte Luft trat, schloss der Fahrer der Limousine gerade die Autotür hinter Mrs. Ming und setzte sich ans Lenkrad. Das Ganze musste so sorgfältig getimt sein wie ein Schuss. Ich musste über die Straße rennen, ohne von einem anderen Auto oder einem Fahrrad angefahren zu werden.
Ich zog mein Handy heraus und studierte das Display: die elektronischen Scheuklappen unserer Zeit. Meine Daumen drückten auf dem Touchscreen herum, als würde ich die dringendste Nachricht aller Zeiten verfassen. Während ich darauf achtete, im toten Winkel des Fahrers zu bleiben, schaute ich scheinbar nach unten. Dann riskierte ich einen kurzen Blick. Ein Taxi brauste auf mich zu, doch ich hatte noch genug Platz. Der Fahrer dachte offenbar, ich würde meine Schritte beschleunigen. Die New Yorker Taxifahrer sind wiedergeborene Kamikazepiloten und erwarten, dass man ihnen selbstverständlich ausweicht.
Die Limousine setzte sich in Bewegung, und ich trat ihr in den Weg. Der rechte Kotflügel stieß durchaus schmerzhaft gegen mein Bein, und ich schrie und ließ mich auf die Straße fallen, so theatralisch wie ein Fußballer, der eine rote Karte für den Gegner herausschinden will. Das Taxi kam etwa einen halben Meter vor meinem Kopf zum Stehen; ich sah mein verzerrtes Spiegelbild in seinem frisch gewaschenen Kotflügel.
Beide Fahrer sprangen aus ihren Autos, doch der Chauffeur der Limousine sagte kein Wort, was ziemlich ungewöhnlich war. Man würde erwarten, dass er seine Unschuld beteuerte oder seine Anteilnahme, aber er betrachtete mich nur mit einer unerschütterlichen Gleichgültigkeit. Der Taxifahrer hingegen brüllte mich in einem stark hebräisch gefärbten Englisch an.
Ganz anders der Portier. Er sprang besorgt herbei und kniete sich zu mir. »Sir? Sind Sie okay?«
»Ohhh«, stöhnte ich. »Mein Bein.«
»Sie sind mir direkt vor den Wagen gelaufen«, rechtfertigte sich der Chauffeur. »Es ist Ihre Schuld. Sie können nicht über die Straße rennen, ohne zu schauen.« Er sprach mit einem leichten osteuropäischen Akzent.
Sandra Ming blieb in der Limousine sitzen.
»Sie haben ja recht«, sagte ich. Der Portier half mir auf die Beine. »Ich … ich glaube, es ist nichts passiert.«
Der Chauffeur und der Portier wechselten einen kurzen Blick. Der Portier schien auszudrücken: Ich glaub nicht, dass der Typ klagen wird, wenn wir ihm helfen. Der Blick des Fahrers schien zu sagen: Ist mir egal. Er sah aus, als hätte es ihm nichts ausgemacht, mich zu überfahren wie eine Bodenschwelle.
Der Taxifahrer stand unsicher da. »Gut, dass Sie wenigstens aufgepasst haben«, sagte ich zu ihm. »Im Gegensatz zu anderen.«
Das war das Signal: Ich warf dem Chauffeur der Limousine den Fehdehandschuh hin. Er richtete seinen stahlharten Blick auf mich, während mich der Portier zum Bürgersteig führte. Hinter dem Taxi staute sich bereits der Verkehr, die unendliche Geduld der New Yorker machte sich in vielstimmigem Hupen bemerkbar. Als der Taxifahrer sah, dass sich der Portier um mich kümmerte, stieg er wieder ein.
Vier Autos hinter ihm sah ich Leonie in einem silbernen Prius. Ihr Blick drückte Nervosität gepaart mit einer Entschlossenheit aus, wie sie nur besorgte Eltern haben.
Auf zittrigen Beinen trat ich auf den Bürgersteig. »Mir fehlt nichts«, versicherte ich. Normalerweise würde man den Fahrer nach seinem Führerschein oder seiner Telefonnummer fragen, für den Fall, dass man doch verletzt war. Ich überlegte auch, ob ich es tun sollte, verzichtete aber darauf, weil ich den Kerl damit wahrscheinlich misstrauisch gemacht hätte. Er beäugte mich wie die Typen von der CIA, die mich interviewt hatten, als ich mich vor Jahren für Special Projects bewarb. Er starrte mich an wie einen Feind. Ich kannte ihn nicht und beschloss, mich friedlich zu geben, zumal Leonie ohnehin in Position war. Ich hob eine Hand. »Sie haben recht, ich hab nicht aufgepasst. Meine Schuld. Tut mir leid.«
Der Chauffeur musterte mich eindringlich.
»Ist irgendwas? Was wollen Sie denn noch?«, schleuderte ich ihm entgegen, in einer oscarreifen Verkörperung des gereizten New Yorkers.
Der Chauffeur setzte sich wortlos ans Lenkrad und fuhr los. Als er sich in den Stop-and-go-Verkehr einreihte, war Leonie in ihrem Mietwagen nur zwei Autos hinter ihm. Sie wirkte fest entschlossen, sich an seine Stoßstange zu heften. Sie hatte eine große dunkle Sonnenbrille aufgesetzt und ihr üppiges rotbraunes Haar unter einer Mets-Baseballkappe verborgen. Irgendetwas an ihr kam mir seltsam vertraut vor.
Ich fragte mich, ob sie der Situation gewachsen war. Sie hatte nicht gelernt, Leute zu beschatten, außerdem hatte sie letzte Nacht kaum geschlafen. Was sie wachhielt, war vor allem Aufregung und Angst. Der Chauffeur schien ein harter Bursche zu sein. Sie war sicher schlau, und wenn sie regelmäßig mit Verbrechern zu tun hatte, würde sie inzwischen auch abgehärtet sein. Sie musste einfach dranbleiben.
»Sind Sie sicher, dass Ihnen nichts fehlt?«, fragte der Portier.
»Mein Bein tut weh, und ich glaube, das Handy ist kaputt. Ich muss mich nur kurz hinsetzen.« Ich fragte bewusst nicht, ob ich mich im Haus ausruhen dürfte. Auf die Idee sollte er selbst kommen.
»Sir, setzen Sie sich doch drinnen ein Weilchen hin. Sie können sich auch die Hände waschen. Soll ich jemanden für Sie anrufen?«
Die Luft im Haus fühlte sich angenehm an; draußen war es drückend schwül. Der Portier zeigte auf die Toiletten, wo ich meine blutigen Hände waschen konnte, und ich bedankte mich bei ihm.
»Mir fehlt bestimmt nichts, ich will Ihnen keine Umstände machen. Ich wasche mich nur ein bisschen und geh dann wieder.« Ich hinkte zur Herrentoilette hinüber. Ein Bewohner des Hauses, ein schwergewichtiger Mann, schob eine ältere Frau im Rollstuhl aus dem Aufzug, und der Portier öffnete ihnen die Tür. Der Dicke versuchte die Dame im Rollstuhl davon zu überzeugen, dass ihr ein wenig frische Luft guttun würde, auch wenn es vielleicht zu regnen beginnen sollte. Die Frau wollte davon jedoch nichts wissen und jammerte.
Ich wusch mir rasch die Hände und warf einen kurzen Blick in den Flur. Der Portier winkte für die beiden Leute ein Taxi herbei. Ich hatte das Glück nicht so oft auf meiner Seite gehabt, seit meine schwangere Frau verschwunden war, doch in diesem Moment lief alles für mich. Ich eilte in den Fahrstuhl.
Sandra Ming wohnte im vierten Stock.
Der Portier würde wahrscheinlich nach mir sehen, vielleicht nahm er aber auch an, dass ich das Haus verlassen hatte, während er für jemanden ein Taxi gerufen oder verirrten Touristen weitergeholfen hatte. Mir blieb jedenfalls nicht viel Zeit.
Keine Reaktion, als ich an die Wohnungstür klopfte. Ich kniete mich hin und zog meine Lockpicks hervor. Eine halbe Minute später war die Tür offen.
Ich schloss sie hinter mir und lauschte in die Stille hinein. Es war niemand da. Ich nahm mir ein Zimmer nach dem anderen vor. Das Wohnzimmer, mit Kunstgegenständen aus China, Afrika und Südamerika dekoriert. Eine Maya-Maske starrte von der Wand auf mich herab. In der Küche war die Kaffeemaschine eingeschaltet, der würzige Duft des Kaffees erfüllte die Luft. Ein langgezogener Flur, ein großes Schlafzimmer. Alles makellos. Das Zimmer einer Frau mit einem zarten Duft nach Schwertlilien und Dior-Parfum. Meine Frau hatte die gleiche Duftnote bevorzugt, und für einen Moment übertönte der Schmerz um das Verlorene meine Vorsicht. Sich an die Haut seiner Frau zu erinnern war der sicherste Weg, im Kummer zu versinken. Ich schob die Gefühle beiseite.
Über den Flur zurück. Vorbei an einem Arbeitszimmer, in das ich einen kurzen Blick warf. Ein großer Schreibtisch, der etwas männlich Massives ausstrahlte, das nicht ganz zum Rest der Wohnung passte.
Ich betrat ein Zimmer mit einem gerahmten Diplom der New York University an der Wand. Jack Mings Zimmer. Eine Sammlung von Büchern, aber keine Lehrbücher, sondern solche, die er privat gelesen hatte. Eine abgegriffene Geschichte Hongkongs: War er dort glücklich gewesen? Biografien von Computerpionieren wie Charles Babbage, Ada Lovelace und Steve Jobs. George R. R. Martins epische Fantasien. Gebundene Sammelbände verschiedener Comicreihen: Iron Man, Spider-Man, The Avengers.
Jack Ming auf Fotos von Collegefesten. Sein Lächeln wirkte schüchtern, aber ehrlich. Auch ein wenig gezwungen, so als wäre das Fest nicht unbedingt seine Sache. Sein Haar war damals länger, sein Gesicht voller. Seine Freunde grinsten angeheitert und hatten ihre schützenden Arme um Jacks schmale Schultern gelegt.
Er war einfach nur ein Junge, zum Teufel noch mal, ein Junge, den ich umbringen musste.
Es war kühl in der Wohnung, doch mir lief der Schweiß über den Rücken, als ich ins Badezimmer ging. In der Duschkabine sah ich ein paar Wassertropfen. Das Bad war mit seinem Zimmer verbunden. Es gab keinen Grund, warum jemand anderes hier geduscht haben sollte.
Jack Ming war hier gewesen. Wahrscheinlich noch vor einer Stunde. Womöglich hatte ich ihn nur um wenige Minuten verpasst, als ich in der Sushi-Bar meinen Beobachtungsposten bezog.
Daniel musste vielleicht sterben, weil ich ihn verpasst hatte.
Eine dünne Staubschicht bedeckte seinen Schreibtisch. Es sah nicht so aus, als hätte er hier irgendetwas abgestellt. Eine leichte Vertiefung im Bett, wo er gesessen hatte.
Er war hierhergekommen und wieder gegangen. Ohne seine Mutter. Hatte er sich von ihr verabschiedet? Half sie ihm nicht? Der verlorene Sohn kehrte zurück, als Flüchtling, doch bereits nach einer Stunde verschwindet er, und seine Mom fährt in einer Limousine weg, mit einem Fahrer, der aussieht wie ein Boxtrainer für das russische Olympiateam.
Was hatte Jack Ming hier gewollt? Mehr, als seiner Mutter Lebewohl zu sagen?
Ich kehrte in ihr Zimmer zurück und durchsuchte es rasch, aber gründlich. Ich fand nichts Interessantes. Sandra Ming schien sich in ihrem Alltagsleben auf die notwendigen Dinge zu beschränken: Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Ich hob es auf und wählte die Nummer des letzten Anrufers.
Nach dem vierten Klingeln hob jemand ab. Doch es folgte Schweigen.
Ich wartete. Die andere Seite wartete. Ich hörte ganz leises Atmen.
Ich versuchte es. »Hallo, ich rufe im Namen von Mrs. Ming an.«
Die andere Seite legte auf.
Wen würde sie anrufen, wenn ihr Sohn ganz unerwartet nach Hause kommt? Denjenigen, der den Mann mit der Limousine zu ihr geschickt hatte?
Ich ging ins Arbeitszimmer. Jack Mings Vater Russell hatte im Tollhaus des Hongkonger Immobiliengeschäfts begonnen und schließlich hier seine eigene Immobiliengesellschaft gegründet. Gerahmte Fotos an den Wänden zeigten ihn zusammen mit Jack, den Arm um seinen Sohn gelegt. Jack war offenbar jemand, dem die Leute gern den Arm um die Schultern legten. Vielleicht weckte er bei anderen einen gewissen Beschützerinstinkt. Ich wollte diese Fotos nicht sehen, wollte ihn mir nicht als jemandes Sohn vorstellen, so wie Daniel es war. Er musste für mich eine Zielperson bleiben, ohne Gesicht, ohne menschliche Züge. Am liebsten hätte ich gar nichts über sein Leben gewusst, sondern nur wie ich es am schnellsten beenden konnte.
Es gab keine gemeinsamen Fotos von Mr. und Mrs. Ming. Auch das Fehlen eines Bildes kann viel aussagen. Die dünne Staubschicht auf dem Schreibtisch war an einigen Stellen unterbrochen. Mrs. Ming schien nicht hier zu arbeiten, ich sah keine Unterlagen oder Akten. Ein Bildschirmschoner tanzte über den Monitor. Ich inspizierte die Tastatur. Staub auf einigen Tasten, auf anderen nicht. Irgendjemand hatte zum ersten Mal nach langer Zeit hier geschrieben. Jack.
Ich bewegte die Maus, und der Computer erwachte zum Leben. Er war nicht durch ein Passwort geschützt. Der Bildschirmhintergrund zeigte ein Bild von Jack und seinem Vater. Wenige Mausklicks lieferten mir die heute benutzten Anwendungen: Word, Excel, Firefox. Ich startete sie nacheinander, checkte die letzten Aktivitäten und öffnete die entsprechenden Dateien. Die Excel-Tabellen waren über ein Jahr alt und von Russell Ming angelegt worden. Die Word-Dateien stammten ebenfalls von ihm, und auch sie betrafen sein Geschäft mit Ausnahme eines Briefes an seinen Sohn Jack.
Während ich las, hatte ich das Gefühl, in ein Grab zu blicken. Ich wollte das nicht lesen, doch ich konnte nicht anders, es war wie ein zufällig gefundenes Tagebuch, auf einer ganz bestimmten Seite aufgeschlagen.
Lieber Jack, zuerst etwas, das du ohnehin weißt, aber ich will es trotzdem sagen: Ich hab dich lieb. Meine Liebe kann durch nichts, was du getan hast oder noch tun wirst, geschmälert werden. Bitte sage mir, was dich so bedrückt. Und ich will die Wahrheit hören, auch wenn sie wehtut. Bitte erzähle es mir. Nicht deiner Mutter. Es soll unter uns bleiben, weil ich nicht glaube, dass sie
Hier endete der Brief, so als hätte er plötzlich beschlossen, seinen Gedanken doch für sich zu behalten. Was hatte er nicht sagen wollen über seine Frau, die reizende Diplomatin? Oder hatte er in diesem Moment den Herzinfarkt erlitten? Ich schaute auf das Datum: sein Todestag. Ich las hier womöglich Russell Mings letzte Worte. Oder vielleicht war Jack hereingekommen, während er schrieb, und er beschloss, mit ihm zu sprechen. Daniel, wenn ich dich finde, verspreche ich dir, mein letztes Wort an dich wird kein unvollendeter Satz sein.
Ich wandte mich dem Browser zu. Die letzte besuchte Website betraf eine Immobilie in Williamsburg, Brooklyn. Eine von insgesamt sieben auf der Website der Firma, und diese eine stand leer. Zuvor waren die sechs anderen Häuser angeklickt worden. Jack hatte offenbar die Immobilien seines Vaters gecheckt und herausgefunden, dass diese eine ungenutzt war.
Ein guter Platz, um sich zu verstecken? Ich prägte mir die Adresse ein.
Ich durchsuchte den Schreibtisch und fand nicht viel: Russell Mings abgelaufener Reisepass, Kugelschreiber, Bleistifte, ein Notizblock mit alten Bleistiftnotizen: Jacks Optionen, las ich. 1. sich der Polizei stellen. 2. Jack soll … und dann nichts mehr, so als wäre der Gedanke ebenso unterbrochen worden wie der Brief an seinen Sohn. In einer Schublade lagen mehrere Schlüssel mit Schildanhängern, sorgfältig beschriftet. Ich sah sie durch: Die Schlüssel für das Haus in Brooklyn fehlten.
Ein leeres Gebäude, zu dem er Zugang hatte. Der ideale Ort, um sich mit der CIA zu treffen und seinen Deal mit August zu schließen. Er war nach Hause gekommen, um sich den Schlüssel zu holen.
Rasch prüfte ich den Rest von Russell Mings Computer. Jack Ming war ein Hacker, ein Junge, dessen Fingerspitzen juckten, wenn sie keine Tastatur unter sich spürten. Er besaß Beweise gegen Novem Soles, die er vielleicht hier ergänzt hatte. Doch es gab keine neuen Dateien, es war nichts heruntergeladen und auch keine E-Mails verschickt worden. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Browserverlauf zu löschen. Möglicherweise konnte Leonie etwas damit anfangen. Ich trennte den Laptop von der externen Tastatur, der Maus und dem Monitor.
Ein Gedanke ging mir durch den Kopf: Vielleicht befindet sich das, was er über Novem Soles in der Hand hat, gar nicht auf einem Computer. Womöglich ist es etwas Handfesteres, etwas, das er bei sich trägt. Vielleicht wird gerade ein Hacker, der weiß, wie verwundbar die meisten Computer sind, eine solche Information keiner Maschine anvertrauen.
Ich musste ihn finden, und zwar schnell.
Er hatte die Schlüssel für das Haus in Brooklyn mitgenommen. Vielleicht war er gerade auf dem Weg dorthin.