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Las Vegas

Die Landung war schlecht angesetzt.

Als ich mich abrollte, spürte ich einen Stich in der Schulter. Ich wartete einen Moment und schaute in den frühmorgendlichen Himmel über mir. In London hatte ich regelmäßig Parkour betrieben – eine extreme Laufsportart, bei der man über Mauern springt, Wände hochklettert und sich aus großer Höhe fallen lässt, und das möglichst ohne sich die Knochen zu brechen. Dabei konnte ich mich am besten von der Arbeit entspannen. Ich hatte verlassene Plätze erkundet, Mauern zu Straßen gemacht und stets den effizientesten Weg durch das Gelände gesucht. Doch ich war aus der Übung; wenn man sein Kind sucht, nimmt man sich nicht die Zeit für regelmäßiges Training.

Ich war nach Mitternacht in Las Vegas eingetroffen und zu angespannt gewesen, um schlafen zu können. Der heutige Tag war ein einziges Warten, ich musste die Zeit bis zum Treffen mit Anna Tremaine irgendwie hinter mich bringen. Also war ich früh aufgestanden, um wieder einmal zu versuchen, die Schwerkraft zu überlisten. Es war fünf Uhr morgens, die stillste Stunde in Vegas, weit und breit gab es niemanden, der mich laufen sah.

Als Ort für mein Training hatte ich mir ein halbfertiges Gebäude ausgesucht, nicht weit von meiner Bar entfernt.

Ich musste aufpassen. Das Verletzungsrisiko beim Parkour ist hoch, und ich musste in Topform sein, wenn ich mich mit Anna traf – denn ich hatte nicht vor, sie nach unserem Treffen einfach davonspazieren zu lassen.

Doch das Laufen half mir, den Kopf freizubekommen. Wenn ich mich ganz darauf konzentrierte, die Hindernisse zu überwinden, einen besonders schwierigen Sprung in Angriff zu nehmen, dann dachte ich nicht an Daniel oder an Lucy. Mit den Gedanken woanders zu sein, wäre der sicherste Weg, sich das Bein oder den Arm zu brechen.

Ich stand auf und wischte mir den Staub von der Hose. Vor mir stand eine Mauer, gut eineinhalb Meter hoch. Ich hatte all die Mauern um mich herum satt, auch jene, die in Form von Drohungen und Gewalt errichtet wurden. Ich wollte meinen Sohn zurück. Das war die einzige Mauer, die ich zu überwinden hatte. Ich lief auf die Betonmauer zu und setzte zu einem Saut de chat, einem Katzensprung, an. Mit dem Kopf voran flog ich auf das Hindernis zu, stützte die Hände auf die Oberkante und schwang beide Beine über die Mauer. Ich landete federnd und lief weiter.

Seit dem Bombenanschlag auf unser Londoner Büro hatte ich keinen richtigen Lauf mehr gemacht. Damals war meine Frau vor meinen Augen in einer Londoner Straße entführt worden, und ich hatte bei der Verfolgung ein Haus durchquert, das gerade saniert wurde und dessen Gerüste um mich herum einstürzten. Ich war gerannt wie nie zuvor in meinem Leben, um sie im Blick zu behalten, um sie nicht zu verlieren.

Natürlich hatte ich sie doch verloren, und das auf noch viel schlimmere Weise, als wäre sie entführt und ermordet worden.

Ich sprang ein schmales Treppenhaus in dem halb fertigen Motel hoch, stieß mich von den Wänden ab und spürte, wie mir der Schweiß aus allen Poren schoss. Ich schwitzte die Drinks der letzten Nacht heraus, die Sorge um Daniel, den Stress der Ungewissheit, ob mich Augusts Leute schnappen könnten, damit ich ihnen mehr über Mila und die Tafelrunde erzählte.

Ich erreichte das Dach des Gebäudes, und die frühmorgendliche Wüstensonne schien auf mich herab. Las Vegas ist selbst am Stadtrand nie ganz still. Leider gab es keine benachbarten Häuser, um von Dach zu Dach zu springen. In London rannte ich am liebsten durch die Viertel mit den Sozialbauten, und auf den Dächern fühlte ich mich immer, als hätte ich Flügel. Ich lief auf dem Hausdach im Kreis, hielt mich warm und blieb nur kurz stehen, um die Balkone zu studieren, die an der Seite des Gebäudes vorragten. Ich fragte mich, ob ich die sieben Stockwerke in einer Serie von kontrollierten Sprüngen von einem Balkon zum nächsten bewältigen konnte. Wer braucht schon Treppen?

Doch es würde vielleicht Aufmerksamkeit erregen, wenn da jemand von Balkon zu Balkon sprang. Polizisten sind meist keine Fans des Parkour-Sports. Ich überlegte mir eine Route, auf der ich über die Balkone nach unten gelangen konnte. Eine Stimme in mir sagte: zu riskant, doch eine andere stachelte mich an, ans Limit zu gehen, als Test vor der Konfrontation mit Anna Tremaine. Ich wollte mich vergewissern, dass ich noch den Mut und die innere Ruhe für eine solche Herausforderung besaß.

Springen, abrollen, über das Geländer, springen, abrollen … Ich spielte den Ablauf im Kopf durch.

Als ich auf den ersten Balkon hinuntersprang, sah ich aus dem Augenwinkel ein Auto unten auf der Straße anhalten.

Ich hätte mich vergewissern müssen, dass ich keine Zuschauer hatte, die vielleicht die Polizei verständigten, weil da irgendein Verrückter vom Balkon sprang. Langsam erhob ich mich.

Die Straße vor dem Motel war leer bis auf das eine Auto, das an einer verlassenen Kreuzung stand.

Okay, dachte ich, er hat wegen der Ampel angehalten. Doch die Ampel war grün.

Ich sah das doppelte Glitzern eines Fernglases hinter dem Autofenster.

Rasch duckte ich mich hinter die Brüstung.

Ich wartete. Nach wenigen Augenblicken hörte ich den Motor brummen; das Auto fuhr los. Ich spähte über den Rand und sah einen Moment lang den Fahrer: violetter Jackenärmel, Strickmütze.

Das Auto brauste davon.

Vielleicht hat er nur angehalten, weil er dich hat springen sehen. So wird’s sein.

Doch die kurze Störung hatte mir die Lust verdorben. Ich sprang die restlichen Balkone hinunter und lief zu meinem Wagen zurück.

Mila würde heute Nachmittag eintreffen, und dann ging es zu Anna Tremaine. Und heute Abend, so hoffte ich, würde ich meinen Sohn wiederhaben.

Die letzte Minute
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