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Im Büro von Ming Properties, Manhattan

Ich hab wohl eine Glückssträhne, dachte Beth Marley. Sie war diese Woche schon einem Unglück entgangen: Zwei Mitarbeiter der Firma hatten sich eine Magenvergiftung geholt, nachdem sie gestern in einer unverzeihlich langen Mittagspause ein nicht ganz astreines Curryhuhn gegessen hatten. Beth war nicht mitgegangen, weil schließlich einer die Arbeit erledigen musste.

Und jetzt das. Beth Marley tippte auf den Papierstapel auf ihrem Schreibtisch und dachte: Ich kann’s gar nicht erwarten, Sandra zu erzählen, dass ich ein ganzes Haus vermiete. Kaiserin Ming wird in Zukunft ein bisschen netter zu mir sein müssen.

Beth nahm ihren BlackBerry und sagte das Mittagessen mit ihrer besten Freundin ab, entschuldigte sich und versprach, es mit ein paar Drinks heute Abend zur Feier eines großen Geschäfts gutzumachen. Sandra Ming würde endlich erkennen, was sie hier leistete: Die Chefin schien sie manchmal für jemanden zu halten, der nicht bis drei zählen konnte, geschweige denn Immobilien managen.

Sie setzte sich an ihren Computer und googelte Sam Capra. Sie bekam ein paar Einträge über einen armen Kerl, der in Afghanistan ermordet worden war, und dessen Bruder, der als Sprecher der Familie ein paar Interviews gegeben hatte. Wahrscheinlich nicht verwandt mit diesem Klienten. Hmmm. Sie googelte die Last Minute Bar und fand die Website des Lokals. Sie hatte sich ein paarmal dort mit einer Freundin auf einen Drink getroffen. Falls er in dem Gebäude in Williamsburg einen Club einrichten wollte, würde es bestimmt ein nobler Schuppen werden. Die Last Minute Bar war fein eingerichtet und hatte wirklich Stil. Sie griff nach ihrem Handy, um Sandra anzurufen, beschloss dann aber, so lange zu warten, bis sie wirklich gute Nachrichten hatte. Wenn sie Sandra berichtete, sie habe einen Fisch an der Angel, und ihn dann nicht an Land zu ziehen vermochte, war die Chefin erst recht sauer.

Sie nahm ihre Handtasche und ihr Handy, um zu gehen, als sich die Bürotür öffnete. Was überaus merkwürdig war, weil man die Tür nur mit einer elektronischen Schlüsselkarte öffnen konnte. Zwei Frauen traten ein. Oh, dachte sie, ich hatte die Tür wohl nicht richtig geschlossen. Sie sahen beide umwerfend aus. Die eine blond, das Haar zu einem Knoten aufgesteckt, groß, mit kühlen grünen Augen und Wangenknochen, um die Beth sie sofort beneidete. Die andere war brünett und hatte reizende schokobraune Augen, trug das Haar modisch kurz geschnitten. Beth wollte instinktiv fragen: Wo lassen Sie sich Ihre Haare machen? Merkwürdig war nur, dass die Frauen identisch gekleidet waren, mit figurbetonten grauen Nadelstreifenanzügen und schwarzen Blusen.

Normalerweise kleidete sich keine Frau freiwillig genau wie eine andere. Vielleicht Missionarinnen?, dachte sie.

»Hi, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie.

Eine der Frauen schloss die Tür. Die andere trat an Beths Schreibtisch und lächelte. »Sind Sie Ms. Marley?«

»Ja.«

»Super«, sagte sie lächelnd. »Also, wir brauchen Folgendes von Ihnen: Ihr Handy, Ihren Autoschlüssel und die Schlüssel zu dem Haus in Williamsburg. Außerdem den Code für die Alarmanlage. Gibt’s hier irgendwo einen Abstellraum, wo wir Sie einsperren können?«

Beth lächelte nervös. »Soll das ein Witz sein?«

»Nein. Wir übernehmen den Termin in dem Haus für Sie. Also. Das Handy bitte. Und der Abstellraum ist wo?«

»Verschwinden Sie, aber schnell!« Beth griff nach ihrem Telefon. Der Sicherheitsdienst war nur einen Tastendruck entfernt.

Die Brünette knallte ihr die Faust ins Gesicht. Hart. Noch nie hatte jemand Beth ins Gesicht geschlagen, und der Schmerz schockte sie. Ihr Schrei blieb ihr im Hals stecken, als ein zweiter Hieb sie in die Kehle traf. Der dritte brach ihr die Nase. Die Brünette sprang über den Schreibtisch, drückte ihr mit einer Hand den Mund zu und packte sie mit der anderen am Hals, begann sie zu würgen.

»Hör zu. Ich muss dich nicht töten. Wir haben dein Telefon abgehört und wissen, dass du dich mit Sam Capra treffen willst. Es wäre doch echt sinnlos, wegen eines dummen Handys und dieses Termins zu sterben. Stimmt’s, oder hab ich recht?«

Beth nickte benommen. Ihre Nase blutete, den Mund hielt ihr die Frau immer noch zu. Der Druck an der Luftröhre ließ ein wenig nach.

»Du musst nicht sterben. Aber meine Schwester würde deine siebenjährige Tochter in Ridgewood abmurksen. Und ich deinen Vater in Queens. Schon komisch: Die Leute machen sich oft mehr Sorgen um das Leben ihrer Liebsten als um ihr eigenes.«

Panik stieg in Beth auf.

»Also, wirst du tun, was ich dir sage?«

Beth nickte eifrig.

»Pass auf, ich will keine Blutflecken auf dem Anzug. So was nehm ich übel«, sagte die Brünette, als könnte Beth die Blutung aus ihrer Nase einfach stoppen.

Sie schoben sie in die kleine Küche, die auch als Lagerraum diente, und fesselten sie mit Handschellen an das Abflussrohr der Spüle.

»Also. Den Code der Alarmanlage. Falls du lügst, geht deine Familie hops. Aber zuerst kommen wir hierher zurück und machen dich fertig.«

Beth log nicht. Sie gab ihnen den Code. Ihr ganzes Gesicht schmerzte, doch sie kämpfte gegen die Tränen an.

»Fein.« Die Brünette zog Beths Handy aus ihrer Handtasche. »Wo sind die Schlüssel für das Haus?«

»In meiner Schreibtischschublade. Auf dem Schild steht Williamsburg.« Ihre Stimme zitterte.

Die Blonde verschwand und kehrte einige Augenblicke später zurück, die Schlüssel an ihrem Finger baumelnd.

»Bitte, tun Sie meiner Familie nichts, bitte …«

»Cool bleiben, Beth, es kommt ganz auf dich an. Wenn dich jemand findet, sagst du einfach, du wurdest überfallen und ausgeraubt, von zwei bulligen Schlitzaugen. Gib der Polizei nur ein paar unwichtige Details. Sie trugen rote Hemden und stanken nach Schweiß. Nur die zwei Sachen, sonst nichts. Du wirst sehr überzeugend sein. Du hast uns nie gesehen. Falls du unsere Geschichte veränderst, sterben deine Tochter und dein Vater garantiert, egal wie lange es dauert, bis wir sie erwischen. Die Drohung hat kein Ablaufdatum, die gilt für den Rest deines Lebens. Aber wenn du redest, hat deine Familie ein Ablaufdatum. Sie werden sterben, und die weißen Lilien bei der Beerdigung kommen von mir und meiner Schwester. Wirst du artig sein?«

Beth nickte mit Tränen in den Augen. Sie stopften ihr einen Waschlappen in den Mund und verschlossen ihre Lippen mit Klebeband.

»Einen schönen Tag noch«, sagte die Brünette, dann gingen sie hinaus.

Die letzte Minute
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