68
Rotlichtviertel, Tel Aviv, Israel
Knapp vierundzwanzig Stunden sind vergangen, seit ich Bukarest verlassen habe. Meine Hand braucht dringend einen frischen Verband, und die Schmerzen von den Schnittwunden flackern wie eine brennende Fackel meinen Arm hoch. Den Taser und die Pistole musste ich zurücklassen, ich hätte sie nicht durch den rumänischen und israelischen Zoll gebracht, ohne zusätzliche Formulare auszufüllen und Aufmerksamkeit zu erregen, und ich will nicht, dass die israelischen Behörden irgendwelche Informationen über mich haben außer dem Datum von Ein-und Ausreise.
Ich sitze in der Pizzeria. Von meinem Fenster aus sehe ich die Männer an der offenen Tür des Restaurants vorbeigehen. Ich trage eine dunkle Jeans, eine schwarze Bluse, eine dunkle Brille. Ich bestelle immer wieder Fruchtsaft oder etwas zu essen, damit das Personal nicht sauer wird, dass ich den Tisch so lange besetze. Mit meinem Notizbuch halten sie mich wahrscheinlich für eine Schriftstellerin bei der Arbeit. Ich trinke keine Cola, ich kann jetzt kein Koffein gebrauchen, so angespannt wie ich bin. Obwohl ich mich gleichzeitig erschöpft und ausgelaugt fühle. Ich esse ein Stück vegetarische Pizza, ohne großen Appetit.
Das Bordell befindet sich über der Pizzeria. Auf den Bürgersteig an der Rehov Fin – oder, wie sie hier genannt wird, Rehov Pin, für »Penis« – sind rote Pfeile aufgemalt, die zu den Peepshows und den Bordellen führen. Die Fenster im ersten Stock hat man vergittert. Auf Schildern sind schattenhafte Frauen dargestellt, die sich in Ekstase winden, andere sind gefesselt oder locken mit gekrümmtem Finger Männer an. Club Joy. Sexxxy’s Studio. Club Viagra. Nein, Sam, das hab ich nicht erfunden.
Ich sehe die Männer kommen und gehen. Sie sind unterschiedlichster Herkunft: Juden, Araber und Christen. Manche sehen aus wie Geschäftsleute oder Angestellte, andere wie Arbeiter aus dem Ausland. Auch Soldaten in Uniform sind dabei. Vielleicht gibt es für sie einen Rabatt. Die orthodoxen Juden stecken ihre Kippa ein, bevor sie eintreten, und setzen sie wieder auf, wenn sie wieder ins Sonnenlicht treten. Manchmal kommen sie auch zu zweit oder zu dritt, junge Männer, wahrscheinlich Amerikaner.
Was würden ihre Eltern davon halten, denke ich mir.
Ich würde am liebsten hineinstürmen. Doch wenn mein Plan funktionieren soll, muss ich wissen, wie sich das Geschäft über den Tag verteilt, wann die wenigsten Freier da sind. Das Warten fällt mir schwer, wenn ich mir vorstelle, dass Nelly da drin ist.
Ich weiß, was mich erwartet, falls sie mich erwischen. Sie würden mich töten oder zu brechen versuchen, so wie die Mädchen in Bukarest. Wie Nelly.
Also zwinge ich mich, das Geschehen zu beobachten und eine Gesetzmäßigkeit im Kommen und Gehen der Arschlöcher festzustellen, um dann reinzugehen, wenn am wenigsten los ist. Ich sehe einen älteren Mann heraustreten und später mit einer Tüte voller Lebensmittel zurückkehren. Ein Mitarbeiter. Wahrscheinlich sind zu jeder Zeit mindestens zwei Angestellte da. Einer zum Kassieren und um die Besuche zu koordinieren. Der andere als Sicherheitsmann, um dafür zu sorgen, dass kein Mädchen abhaut und dass die Freier sich benehmen.
Und vielleicht ist Mr. Irokese, Zviman, auch hier. Ihn will ich unbedingt treffen.
Ich habe registriert, dass der Zustrom der Bordellbesucher gegen Abend vor der Essenszeit stark nachlässt. Gut. Ich suche ein Hotel auf, nicht das, in dem ich mein Zimmer habe, um mir zu holen, was ich brauche.
Jeder Hotelwächter in Israel ist bewaffnet. Das weiß ich von Iwan; er hat es in einem Artikel über einen vereitelten Anschlag eines Palästinensers gelesen, bei dem der Sicherheitsmann den Selbstmordattentäter erschossen hatte. Ich gehe auf einen Wächter in einem Marriott Hotel zu, einen russischen Reiseführer und Stadtplan in der Hand, einen verwirrten Ausdruck im Gesicht. Touristin aus Moskau, denkt der Mann wahrscheinlich.
Ich lasse den Stadtplan fallen und sprühe dem Wächter das Pfefferspray ins Gesicht, das ich mir besorgt habe. Tut mir leid, zische ich ihm zu. Als er zurücktaumelt und seine Hand zur Pistole geht, reiße ich sie ihm aus dem Holster.
Ich renne aus dem Hotel, durch ein Einkaufszentrum, springe in ein Taxi. Die Pistole fühlt sich kühl an meinem Bauch an, unter der Bluse.
Ich überlege, was ich zur Schlacht anziehen soll. Ich muss mit der Möglichkeit rechnen, nicht lebend hier wegzukommen, also leiste ich mir etwas Besonderes. Nur das Beste für die verrückte Lehrerin, Sam. Hast du nicht auch gesagt, ich hätte Stil? Am folgenden Nachmittag besuche ich eine Boutique im luxuriösen Ramat-Aviv-Einkaufszentrum und kaufe mir eine Hose aus schwarzem Leder, einen schwarzen Rollkragenpullover und eine schicke schwarze Lederjacke. Für ein Mädchen wie mich fast schon eine Rüstung. Der Winter ist vorbei, deshalb gibt es die Sachen günstiger im Schlussverkauf, doch daheim in Moldawien würden sie trotzdem ein Vermögen kosten. Ich bezahle mit Boris’ Geld. Danke, Boris. Die Pistole hat hinten in der Hose Platz.
In meinem Hotelzimmer ziehe ich mich um und treffe gewisse Vorkehrungen, für den Fall, dass ich gefasst werde. Eine letzte Rache an Zviman oder seinen Männern. Ich checke meine Waffe. Sollte ich nicht mehr rauskommen, habe ich eine Kugel für Nelly übrig und eine für mich.
Ich beruhige mich, indem ich mich noch schminke – üppiger, als ich es zu Hause tun würde. Ich sehe wie ein richtiges bad girl aus: rote Lippen, Katzenaugen mit Eyeliner betont. Ich muss über mich selbst lachen. Mädchen, jetzt trägst du deine Kriegsbemalung, denke ich. Ich fühle mich wie ein anderer Mensch. Die Lehrerin ist wirklich tot. Die Lehrerin hat drei Menschen getötet, zwei Sklavinnen befreit und ein Haus in die Luft gejagt.
Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was ich jetzt zu tun habe.
Ich fahre mit dem Taxi zur Pizzeria.
Es ist noch hell, die Sonne neigt sich dem Mittelmeer entgegen. Die Zeit vor dem Abendessen, in der kaum Kunden kommen.
Ein Mann pfeift mir nach, als ich aus dem Taxi aussteige und den Fahrer bezahle. Ich steige die Treppe hoch. Lucky Strike Parlor steht da auf Hebräisch und Englisch. Wessen Glück ist gemeint? Ich verharre kurz vor einer blutroten Tür, auf die man in schwarzen Buchstaben LUCKY STRIKE gemalt hat.
Ich verspüre den Drang, die Tür einzutreten, doch ich öffne sie wie jeder andere und trete in den Salon ein. Es riecht nach Salz, nach schwerem Parfum und Bier. »Na los, Baby«, jammert eine junge männliche Stimme, »lächle für mich.« Ein New Yorker Akzent, wie ich ihn aus Filmen kenne.
Es ist, als wäre ich in einen bizarren Traum eingetaucht. Die Lichter sind purpurrot getönt. Im Hintergrund läuft leise elektronische Trance-Musik. An einem Empfangstisch sitzt ein alter Mann. Knabbert einen Keks, den Mund offen. Hinter ihm sitzen zwei Frauen in durchsichtiger Unterwäsche auf einem niedrigen Podium in blassgelbem Scheinwerferlicht. Nelly ist nicht dabei. Die beiden reagieren nicht auf die Aufforderung des jungen Mannes. Sie sitzen kerzengerade da, ohne zu lächeln. Wie Schaufensterpuppen.
Als würden sie schon damit rechnen, dass ihnen wieder irgendetwas Schlimmes passiert.
Auf einer Couch lümmeln zwei Männer im College-Alter und trinken Goldstar-Bier. Sie tragen Jeans, einer ein American-Football-Trikot, der andere ein Sweatshirt mit dem Namen eines Kaufhauses darauf, blutrot im Licht der Scheinwerfer.
Sie erzählen dumme Witze auf Englisch, um die Mädchen zum Lächeln zu bringen, so wie Touristen es manchmal bei den Wachen am Buckingham Palace machen. Entweder ist es den Mädchen verboten zu lachen, so wie den Wachen, oder sie können es gar nicht mehr. Vielleicht ist es hier gefährlich für ein Mädchen, über einen Mann zu lachen.
Erneut steigt bitterer Hass in mir auf, und es fällt mir schwer, ruhig zu bleiben.
»Verzeihung, Fräulein?«, spricht mich der alte Mann auf Hebräisch an. Er ist unsicher, vielleicht denkt er, ich bin irrtümlich hier gelandet. Er spricht mit Kekskrümeln im Mund.
»Hallo, übernimmst du hier die Schicht, Baby?«, ruft der Junge mit dem Kaufhaus-Sweatshirt. Er hebt die Bierflasche zum Willkommensgruß.
»Ich möchte mich um einen Job bewerben«, sage ich auf Englisch zu dem alten Mann.
Der Alte ist sprachlos und runzelt die Stirn. Er steht auf, und genau das will ich von ihm, weil ich jetzt sehe, dass seine Hände leer sind bis auf diesen verdammten Keks, an dem er knabbert.
Ich ziehe die Pistole hervor, und der Schuss übertönt das leise Wummern der schlechten Discomusik. Der alte Mann sinkt wortlos zu Boden, sein kauender Kiefer ist weg. Ich finde es unerträglich, dass er dasitzt und Kekse mampft, während diese armen Mädchen hier warten, bis jemand sie haben will.
Die beiden Amerikaner sind geschockt. Die Frauen auf dem Podium starren mich an, eine der beiden steht auf, ihr Stuhl kippt um.
»Ihr zahlt dafür, Frauen zu vergewaltigen«, sage ich zu den Typen. »Meine Schwester ist da drin, und ihr zahlt dafür, sie zu vergewaltigen.«
»Moment mal, Schätzchen, Moment …«
»Wir sind Amerikaner …«
Ich schieße auf beide. Weil sie bloß dumme Jungen sind, erwischt es ihre Beine. Sie stürzen schreiend und zuckend zu Boden. Das Blut auf ihren Jeans leuchtet hell im roten Licht. Ihre Schreie erfüllen den Raum, unterbrochen nur, wenn sie nach Luft schnappen.
»Los, lauft«, sage ich zu den müden Frauen mit den stumpfen Augen. Sie laufen in ihrer durchsichtigen Unterwäsche hinaus und die Treppe hinunter. Doch die Angst in ihren Gesichtern sagt mir, dass sie noch lange nicht frei sind.
Vom Empfangssalon führt ein Gang weg, mit einer offenen Tür am Ende. Ein Mann um die vierzig stolpert heraus und zieht sich die Hose hoch, Panik in den Augen. Ich sehe einen Ehering an seiner Hand glitzern. Er stürmt auf mich zu, und ich schieße ihm in beide Knie. Hinterher kann er seiner Ehefrau erklären, wie es passiert ist. Er stürzt schwer zu Boden, wimmert und stöhnt. Hinter ihm kreischt eine Frau.
»Schnell! Lauf weg!«, rufe ich ihr auf Englisch zu. Die Frau tut es nicht. Ich wiederhole die Aufforderung zuerst auf Russisch, dann auf Rumänisch. Die junge Frau – jünger als Nelly, bleich vor Angst – drückt sich an die Wand, zu geschockt, um sich zu bewegen.
Wo ist der Sicherheitsmann?
Dann wird eine Tür aufgerissen, schräg gegenüber dem Zimmer mit dem verängstigten Mädchen. Die College-Boys schreien immer noch, einer ruft nach seiner Mama. Als würde Mama ihn hier sehen wollen.
Niemand kommt aus der aufgerissenen Tür.
Ich würde gern glauben, Nelly sei da drin oder ein anderes Mädchen, das hinter der Tür kauert und nicht weiß, was sie tun soll.
Eine Hoffnung, nicht mehr. »Nelly?«, rufe ich. »Nelly, ich bin’s …«
Schweigen. Da stürmt ein Bär von einem Mann heraus, mit gezückter Schrotflinte, doch als er mich sieht – ein zierliches Mädchen in schwarzem Leder –, tritt ein überraschter Ausdruck auf sein Gesicht. Er zögert.
Ich drücke ab, die Kugel schlägt in die Gipskartonwand hinter ihm ein, und ich feuere noch einmal. Er schießt ebenfalls und springt zurück, während der Türrahmen, in dem ich stehe, von den Schrotkugeln zerfetzt wird. Ich reiße die Hände hoch, um mein Gesicht zu schützen, doch die scharfen Splitter treffen mich überall: Ohren, Schultern, Nacken.
Ich liege halb im Zimmer, die Beine draußen am Gang. Ich rühre mich nicht und bleibe als Köder liegen, weil er nicht sehen kann, dass ich bei Bewusstsein bin. Alles in mir schreit danach, aufzuspringen und wegzulaufen, doch ich bleibe liegen.
Ich warte.
Die Pistole halte ich geradeaus in den Türeingang. Ich stelle mich tot, warte nur darauf, dass er sich zeigt. Er kann meine Pistole nicht sehen, es sei denn, er riskiert einen Blick um die Ecke.
Der Mann mit der Schrotflinte schleicht zentimeterweise über den Gang. Ich höre das Kratzen seiner Schuhsohlen. Seltsam, das Geräusch erinnert mich an Boris, als er nach Luft rang. Die Amerikaner und der verheiratete Mann haben aufgehört zu schreien. Er sieht meine Beine am Boden liegen, wie tot, stelle ich mir vor.
Er tritt in die offene Tür, und ich schieße ihm in den Bauch. Er schreit und taumelt zurück, der Schmerz blockiert seinen Willen, den Abzug zu drücken. Ich springe auf und kicke ihm die Schrotflinte aus der Hand. Es fühlt sich an, als hätte ich mir einen Zeh gebrochen. Er schreit und stürzt rücklings zu Boden, blind vor Schmerz. Ich hebe seine Schrotflinte auf.
Seltsam, wie ruhig ich plötzlich bin. Diese Ruhe wiegt schwer in mir und dämpft die Schmerzen und die Angst.
An seinem Gürtel sehe ich eine Art Schlagstock. Ich ziehe ihn heraus. Er lässt sich per Knopfdruck ausfahren. Cool. Sein Gewicht liegt gut in der Hand, und ich behalte ihn wie eine Trophäe. Was tue ich da nur? Ich nehme mir auch sein Messer und schiebe es in meinen Stiefel. Ihm die Waffen abzunehmen fühlt sich an, als würde ich kleine Schätze horten, die ich mir verdient habe, Sam, ist das nicht seltsam?
Niemand stürmt mehr heraus, um auf mich zu schießen. Ich trete die übrigen Türen ein. Die meisten Zimmer sind leer. Keine Männer mehr.
Doch Nelly finde ich nicht.
Die Frau im letzten Zimmer ruft auf Rumänisch: »Bitte, tu uns nichts!«, und ich lasse die Pistole sinken.
»Wo ist Nelly?«
»Sie arbeitet auf einer Party, für Zviman.«
Zviman. Der Irokese. Der Inhaber. Der mich auf dem Video angelächelt hat, der meine Schwester vergewaltigt und geschlagen hat. Ich muss ihn finden.
»Wo ist diese Party?«
»Ich glaube, in seinem Haus, aber ich weiß es nicht sicher, bitte tu mir nichts.«
»Kennst du die Adresse?«
»Nein, ich schwöre es.«
Ich glaube ihr. »Lauft. Das ist eure Chance, hier rauszukommen. Lauft.«
Von den sechs Frauen im Flur flüchten vier, ohne zu zögern, in ihrer Spitzenunterwäsche. Die beiden anderen bleiben. Offenbar haben sie genauso viel Angst vor der Aussicht auf Freiheit wie vor der drohenden Gefahr.
»Lauft, was ist los mit euch?« Die Polizei wird gleich hier sein, ich habe keine Zeit. Ich halte dem angeschossenen Sicherheitsmann die Pistole ins Gesicht.
»Zviman! Wo steckt er? Sag’s mir, dann ruf ich einen Krankenwagen für dich.«
Der Mann flüstert eine Adresse, und ich schlage ihn mit seinem eigenen Knüppel bewusstlos.
»Das ist dein Krankenwagen«, sage ich. Ich drücke den Schlagstock gegen die Wand – das Ende ist ein bisschen blutig –, um ihn einzufahren.
Ich treibe die beiden widerstrebenden Frauen hinaus, vorbei an dem verheirateten Freier, der von den Schmerzen seiner zertrümmerten Kniescheiben das Bewusstsein verloren hatte, vorbei an den jammernden College-Boys. Sie versuchen, hinter die Couch zu kriechen, als sie mich sehen, die kleinen Lieblinge. Ich habe ihnen eine Lektion erteilt, die sie nie vergessen werden.
Wieder draußen auf der Straße, mit einer Schar flüchtiger Frauen.
»Entführst du uns?«, fragt eine.
»Was?«
»Damit wir in einem anderen Bordell arbeiten?«
Ihre Frage tut mir weh, Sam. »Nein, Schätzchen, ihr seid frei.«
Ein paar Blocks weiter sehe ich ein Krankenhaus, ich treibe sie darauf zu. Polizeiwagen rasen mit Sirenengeheul an ihnen vorbei.
Ich ignoriere die Autos, die Bullen, die Blinklichter. Mit meiner Lederkluft halten sie mich vielleicht für eine der flüchtenden Prostituierten. Ich bringe die Mädchen noch in die Notaufnahme des Krankenhauses, dann verschwinde ich.
Ich muss einen Mann besuchen – oder jemanden, der sich als Mann bezeichnet.