Kapitel 36

Der Garten in dir

Der Garten lag in einer Finsternis, die ganz anders war als nächtliche Dunkelheit.

Sie war samtig und speiste sich aus geheimen Quellen. Ein schillerndes Mitternachtsblau, das die Blumen nicht davon abhielt, von innen heraus in tiefen Rottönen oder irisierendem Weiß zu leuchten. Silberstaub hing träge zwischen den Bäumen, die um so vieles

urwüchsiger wirkten als ihre gewöhnlichen Artgenossen. Ihre Blätter rauschten, obwohl nur eine Brise ging, und auf ihren Ästen hockten Flechten, die verdächtig nach bärtigen Wesen aussahen. Im Unterholz knackte es, und Ella wusste, wenn sie jetzt eine Weile ganz still stehen bliebe und den Atem anhielte, dann würde ein katzenartiges Wesen aus dem Dickicht hervorlinsen. Das Geschöpf wohnte dort, seit sie es als Kind in einem alten Märchenbuch in Tante Wilhelmines Bibliothek entdeckt hatte. Eine lebendig gewordene Tuschezeichnung.

Eins von den unzähligen Fantasiewesen, zu deren Heimat der Garten geworden war.

Ihr Traum. Ihr alter Traum vom Garten hinter Tante Wilhelmines Villa.

Ein magischer Ort voller Feenspaß und Wunschbeeren.

In Schnörkeln geschriebene Botschaften in Eichelkapseln und Moosgesichter auf Stein.

Wie oft war sie des Nachts wohl in diesen Garten eingekehrt und hatte beim Aufwachen nicht mehr als vage Bilder zurückbehalten? Doch stets verbunden mit dem einzigartigen Gefühl, in diesem Traumgarten eins mit sich zu sein.

Dastehen und staunen.

Umherwandeln und zulassen.

Mit offenen Augen träumen und wahrer sein als je zuvor.

In diesem Garten war es möglich, er war unberührt von irreleitenden Fragen nach Vernunft und Lüge, Idee und Wahn. Der Garten garantierte ihr eine Freiheit, die sie brauchte, um ihren Weg im Chaos der Möglichkeiten zu finden. In dem Moment, als sie ihn wiedergefunden

hatte, war alles in ihrem Leben ins rechte Lot geraten. Weder die zerfallene Villa noch die belastenden Familienverhältnisse oder gar ihre unter dem Druck der Geschehnisse viel zu schnell aufgeblühte Liebe zu Gabriel konnten diese Erkenntnis schmälern. Solange sie ihren Garten hatte, glaubte sie an sich und an ihre Entscheidungen. Er war ihr innerer Kompass.

Obwohl sie das stets geahnt hatte, begriff sie es erst jetzt, da sie inmitten seiner Pracht stand und wusste, dass sie ihn schon bald verlieren würde.

Falsch. Nicht verlieren, sondern aufgeben. Freiwillig. Das war etwas anderes.

Ella ließ sich treiben, spazierte über Pfade, die sie stetig tiefer ins Gartenreich führten, das längst die Dimensionen der Tageswelt überwunden hatte. Sie durchschritt einen sanften Regenschauer, der glitzernd auf ihren Schultern liegen blieb, lauschte dem Wispern und Pfeifen, dem wunderlichen Konzert dieser Nacht. Obwohl sie kein eigentliches Ziel

auserkoren hatte, mied sie eine Stelle ganz bewusst, die es zweifelsohne auch hier geben würde: einen hohlen Baumstamm, der für eine Nacht lang zum Asyl für ein Liebespaar

geworden war – aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Es tat auch so schon zu weh, nicht beides haben zu können: den Garten und Gabriel.

Das Verlangen nach ihm war plötzlich so überwältigend, dass Ella innehielt. Sie musste abwarten, darauf hoffen, dass es nachließ, denn sonst konnte sie keinen Schritt weitergehen.

Wie konnten ihre Gefühle nur so große Sprünge machen, dass der Rest ihres bisschen

Menschseins gar nicht mehr hinterherkam? Vor Kurzem erst hatte sie zum ersten Mal vor dem lachenden Gabriel gestanden – ein vielversprechender Sommerflirt. Und bevor sie sich’s versah, war aus dem Sommerflirt eine verwirrende Verliebtheit entstanden. Aber nicht einmal eine Schonfrist, sich in dieser ihr bislang unbekannten Situation zurechtzufinden, gestand das Schicksal ihr zu. Stattdessen musste sie sich damit abfinden, sofort die nächste Stufe zu nehmen: die Frage danach, wie viel dieser Mann ihr wirklich bedeutete, was sie für ihn zu tun bereit war. Keine Zeit, sich und ihn zu prüfen. Entweder sie setzte den eingeschlagenen Weg fort, auf Gabriel zu, oder sie würde schon bald in ihrem zerwühlten Bett aufwachen. Allein.

Aber allein war nach der Nacht in Gabriels Armen undenkbar. Selbst wenn es ihr nicht gelingen sollte, ihn beim Inkubus auszulösen, würde ein Teil von ihm bei ihr sein und sie daran erinnern, was sie aufgegeben hatte. Unmöglich, gestand sie sich ein. Ich kann nicht ohne ihn gehen, diese Entscheidung hatte sie längst getroffen.

Ella atmete tief ein, dann formte sie einen Gedanken, den sie bislang fortgeschoben hatte.

Ich möchte dich treffen, hier in meinem Traum. Komm, tritt ein.

Es ertönte keine Antwort, aber etwas verschob sich. Eine Strömung in der Luft, ein Bruch in der Nacht.

Ella blickte sich um und bemerkte erst jetzt, dass der Pfad, auf dem sie entlanglief, abrupt vor einem Waldstück endete, dessen Birken sich verjüngten. Der Boden war von Moos

überzogen, das unter ihren Füßen federte. Sie hörte einen hellen Gesang und hielt auf ihn zu. Als sie auf eine Lichtung trat, stockte ihr der Atem, so sehr bannte sie die Schönheit des Ortes. Ein mondbeschienener Weiher, umrahmt von Steinen, nicht größer als der Teich hinter Tante Wilhelmines Villa. Auf seiner Oberfläche trieben winzige Wasserlilien, lauter helle Tupfer. In seiner Mitte stand eine Nymphe, ein Naturgeist von betörender Anmut.

Der Gesang der Nymphe verklang, als sie sich aufrichtete und Ella zuwinkte. Um ihren Unterarm schlangen sich die Wasserlilien wie ein feinmaschiges Netz voller Perlen. Die Farben ihres schlanken Körpers und des langen Haars entsprachen so sehr der Umgebung, dass sie beinahe mit ihr verschmolz.

Eine andere Nymphe, die selbstvergessen auf einem der Findlinge lagerte, zuckte bei Ellas Anblick erst zusammen und stieß dann ein glockenhelles Lachen aus.

Verwunschene Wesen, von denen Ella kaum die Augen nehmen konnte. Doch ihr blieb

nichts anderes übrig, denn mit dem Rücken zu ihr, am Ufer des träge kreisenden Wassers, saß Gabriel. Oder zumindest jemand, der in seine äußere Hülle geschlüpft war. Die Haut schimmerte verräterisch weißgolden und das sonst sonnengebleichte Haar war jetzt blass wie Knochen im Mondlicht. Als er sich langsam umdrehte und ihren Blick erwiderte,

überraschte es Ella nicht im Geringsten, in die vertrauten und zugleich fremden grauen Augen zu blicken. Dass es tatsächlich nicht Gabriels waren, verriet ihr Ausdruck: Komm, biete mir etwas, unterhalte mich, ganz egal, auf welche Weise.

»Drei«, sagte der Inkubus mit seiner berückenden Stimme, die die Atmosphäre zum

Vibrieren brachte. »Es sollten immer drei Nymphen sein. Wie schön, dass du den Weg zu uns gefunden hast. Jetzt sind wir vollständig. Setz dich zu mir.«

Ella rührte sich nicht, sondern musterte ihn.

Aus seinem Haar lugten zwei Hörner hervor, nicht größer als ihr kleiner Finger und von der Farbe angelaufenen Silbers. Seine Ohren endeten in Zipfeln, und bestimmt waren die Zähne hinter dem zum Lächeln geschürzten Mund raubtierartig scharf. Ella versuchte, einen Blick auf seine Füße zu erhaschen, aber sie verschwanden im Farnkraut. Je genauer sie ihn

betrachtete, desto mehr Unterschiede erkannte sie. Etwa das Fehlen des blonden

Haarflaums auf den Unterarmen, den sie bei Gabriel immerzu berühren musste, oder die Brust, die sich zum Atmen nicht bewegte. Der Inkubus imitierte ihn zwar, aber nicht perfekt.

Jedenfalls nicht gemessen an etwas Lebendigem.

»Irre ich mich, oder hast du deine Flöte vergessen?«, fragte Ella ihn provozierend.

Das Lächeln des Inkubus wurde breiter und zeigte, wie vermutet, einen Mund voller

gefährlich spitzer Zähne. »Du bist mein Instrument, und ich werde auf dir spielen. Ich bin sehr gespannt darauf, welche Töne man dir entlocken kann.«

Ella war sich nicht sicher, ob das eine Drohung oder eine Neckerei sein sollte. So oder so, die Vorstellung, erneut von diesen fordernden Glashänden berührt zu werden, erschien ihr nicht sonderlich verlockend. »Ich befürchte, dass die einzigen Töne, die du mir entlockst, aus Fluchen und Heulen bestehen würden.«

»Ich nehme, was ich kriegen kann.«

»Dann lass mich erst einmal herausfinden, was ich dir geben kann, ohne dass du mir zu nahe kommst.«

»Plötzlich so zurückhaltend? Dabei haben wir uns bei unserem letzten Treffen doch

hervorragend verstanden.«

Ella zog die Augenbrauen hoch. »Ja, das hat wirklich Spaß gemacht. Mir hat übrigens der Teil am besten gefallen, in dem du in Scherben zersprungen bist. Wenn du dieses Mal

allerdings lieber darauf verzichten möchtest, würde ich vorschlagen, dich von mir

fernzuhalten. Das hier ist immer noch mein Traum.«

»Ja, noch ist er das«, fügte der Inkubus keineswegs beeindruckt hinzu. In seinen Augen funkelte es vielmehr belustigt.

Einen Abstand zu dem Inkubus wahrend, trat Ella an die Wassernaht. Leider wurde sie

enttäuscht: Der Weiher spiegelte nur den Nachthimmel mit seinem überreifen Mond wider.

Trotzdem ließ sie sich nieder und durchbrach mit der Hand die glatte Oberfläche. Nichts geschah. Rein gar nichts. Warum? Sie hätte alles darauf gesetzt, dass der Spiegel des Weihers die Pforte in das Reich war, durch das Gabriel irrte. Gegen ihren Willen musste sie schluchzen.

Die Nymphe, die hüfttief im Weiher stand, beugte sich Ella entgegen und berührte ihre nassen Fingerspitzen.

Mit einem Schlag veränderte sich Ellas Wahrnehmung.

Verwundert blickte sie sich um, als die Geräusche des Gartens sich plötzlich in Musik verwandelten, vielschichtig und betörend. Die Farben der im Dunkeln liegenden Blätter und Grashalme verwoben sich zu einem Gemälde, und die Gerüche von Erdreich, Flora und

Fauna waren ein Universum für sich. Details, wie die unscheinbaren Blüten des

Zyperngrases zwischen den Findlingen oder der Insektenflug über dem Weiher, wurden so komplex, dass es für ein ganzes Leben genug zu entdecken gab. Und trotzdem ertrank Ella nicht in diesem Überfluss der Eindrücke. Sie nahm alles wahr und war zugleich ein Teil davon.

Erst als die Nymphe die Berührung löste, begriff Ella, dass es ein geliehener Blick gewesen war. Für einen wundervollen Moment hatte sie die Welt aus den Augen dieses Naturgeists gesehen.

»Unwiderstehlich, nicht wahr?« Die Worte des Inkubus erklangen direkt neben ihrem Ohr.

Ella verlor vor Schrecken fast das Gleichgewicht. Sie hatte nicht mitbekommen, dass er neben sie getreten war. Im Bann der Nymphe hatte sie nicht nur das Zeitgefühl verloren, sondern sogar vergessen, wer in ihrer Nähe lauerte. Im letzten Moment fing sie sich und richtete sich umständlich auf, um den Inkubus ja nicht versehentlich zu streifen. Wenn sie nur einmal wankte, würde sie ihn zwangsläufig berühren. Andererseits wollte sie aber auch nicht zu offensichtlich zurückweichen und damit ihre Furcht eingestehen.

»Ja, das ist es. Jetzt verstehe ich noch besser, warum Gabriel so viel aufgegeben hat, um durch die Träume anderer Menschen zu wandeln. Wenn der eigene Traum schon so

faszinierend ist, wie muss es dann erst sein, auch die der anderen kennenzulernen?«

Der Inkubus musterte sie voller Interesse. Undeutbar, was ihn mehr begeisterte: ihr

Geständnis, dass die Gabe, die er ihr verleihen konnte, einen Reiz auf sie ausübte, oder dass sie schon bald den gleichen Weg wie Gabriel beschreiten würde.

Aus der Nähe fiel Ella auf, dass seine Augenpartie markant hervorstach. Es waren Gabriels Augen – aber mehr, als habe sie jemand nachgemalt. Und tatsächlich: Auf den Lidern lagen Bronze und Jade, die Wimpern waren elegant geschwungene Kohlestriche, das Weiß

bestand aus schimmerndem Perlmutt. Diese Augen waren ein wahrhaft bestechender,

kunstvoller Rahmen. Alles andere, selbst Gabriels vorwitzige Oberlippe, trat dagegen in den Hintergrund. Nur die graue Farbe der Iris war die gleiche wie immer, als könne der Inkubus ihr nichts zufügen. Aber etwas lag hinter diesem Grau, zog abwartend seine Runden, hungrig auf Beute hoffend. Diese Augen, begriff Ella, sind auch zwei Seen. Was hinter ihrer

Oberfläche auf der Lauer lag, wollte sie lieber nicht herausfinden. Mit letzter Kraft wendete sie den Blick ab.

»Du bist hartnäckig«, verkündete der Inkubus, weniger tadelnd als amüsiert. »Dabei hast du mich doch eingeladen, jetzt musst du dich mir nur noch hingeben. Es würde dir gefallen, ganz bestimmt.«

Allein bei der Vorstellung durchlief Ella ein Schauder. Eiskalt und brennend heiß zugleich.

»Ich will mich eben nicht zu schnell von dir einfangen lassen. Wenn du meinen Traum erst einmal an dich gerissen hast, dann ist es nicht mehr der meine. Wenn ich dich diesen Garten übernehmen lasse, dann wirst du ihn verändern. Du wirst anfangen, mit mir zu spielen, so wie du es mit Kimi getan hast. Ich weiß zwar nicht, was genau du mit ihm angestellt hast, aber ich habe die Spuren an seinem Körper gesehen. Du hast Zeichen auf ihm hinterlassen.«

»Kimi«, wiederholte der Inkubus nachdenklich. »Der Knabe mit den Ranken … Ja, ich

erinnere mich, vor allem an seinen Wunsch, verführt zu werden, sogar gegen seinen Willen.

Und wenn ich dir sage, dass er es sich genau so in seinem Traum ausgemalt hat?«

»Ich würde dir nicht glauben.«

»Dann muss ich dir leider sagen, dass ich mit meinen Spielgefährten – und damit auch dem Rankenknaben – nur treiben kann, was bereits in ihnen steckt. Vielleicht hat er sich nicht gewünscht, was er erlebt hat, aber er hat zumindest geglaubt, dass er es verdient. Nicht jeder Traum ist ein Garten, und selbst in einem Garten wachsen Dornen und Giftefeu. Unter der schönen Oberfläche lauertVerfall. Das sind nicht meine Gesetze, ich wende sienur an.«

Kaum hatte der Inkubus diesen Satz ausgesprochen, glitt die Nymphe, die bislang dem

Kreisen der Wasserlilien zugesehen hatte, in den Weiher, als sei ihr der Lebensatem von den Lippen geraubt worden. Für einen Moment trieb sie noch wie ein gefallenes Blatt, nicht mehr als eine bleiche Erinnerung, eine Handbreit unter der Wasseroberfläche, dann versank ihr Leib.

»Die Tiefe der Träume ist unauslotbar«, erklärte der Inkubus, während die Nymphe auf dem Findling die Füße aus dem Weiher zog. Dann stimmte sie ein Klagelied an, kaum

hörbar, als wolle sie es geheim halten.

»Die Nymphe, sie ist fort … War das dein Werk?« Ella konnte sich kaum wieder beruhigen.

Gerade noch hatte dieses bezaubernde Wesen den Eindrücken seiner ganz eigenen Welt

nachgehangen, und jetzt war es verschwunden. Im dunklen Wasser.

Der Inkubus schien sich nicht an ihrem scharfen Ton zu stören. »Ich sagte doch: Ich kann nichts selbst erschaffen, sondern nur innerhalb deines Traums mein Spiel treiben. Du bist diejenige, in deren dunklen Tiefen etwas lauert. Beschwer dich also nicht bei mir. Ich nehme nur, was man mir bietet. In der Regel überaus freiwillig.«

»Was hat denn Gabriel angeboten, dass es dir einen Handel wert war?«

»Das ist eine interessante Frage. Denn sein Traum hat mich lange Zeit gefesselt. Du

solltest versuchen dahinterzukommen, was ihm verloren gegangen ist. Was fehlt deinem Gabriel? Weder Mut noch Liebesfähigkeit, möchte man meinen. Und trotzdem ist er nicht mehr vollständig. Kannst du es erraten?«

»Nein«, sagte Ella. »Wozu auch? An Gabriel ist alles vollkommen, unabhängig davon, dass ihm mit seinem Traum ein Bestandteil seiner Persönlichkeit abhandengekommen ist. Er

braucht nicht perfekt zu sein, um als vollständiger Mensch dazustehen. Wir sind nicht wie du.«

»Dann bleibt ja nur die Frage, warum er auseinanderfällt, wenn er doch vollständig ist.« In die Stimme des Inkubus hatte sich etwas Gehässiges geschlichen. Offenbar fand er

zunehmend weniger Gefallen an ihrem Schlagabtausch.

Dem konnte Ella nur zustimmen.

Gabriel zerfiel, während sie sich mit diesem redseligen Dämon herumschlagen musste.

Außerdem wurde das Klagelied der zweiten Nymphe immer schwermütiger, und sie

verwelkte wie eine Pflanze. Das ebenholzschwarze Haarwurde farblos, als läge ein

Frosthauch darauf, und die Haut war nicht mehr als ausgelaugte Rinde.

»Wir sollten langsam über unseren Handel sprechen«, schlug Ella vor. »Die Nacht neigt sich dem Ende zu …«

»Nicht dort, wo du hingehen willst. Das Grenzgebiet zwischen Träumen und Erwachen, in dem dein Liebster verloren ist, existiert außerhalb der Zeit. Vielleicht beruhigt dich das ja für den Fall, dass es dir nicht gelingen sollte, ihn zu befreien. Du hast bereits einen Blick in das Labyrinth hineingeworfen, durch das ihr Menschen spielend leicht euren Weg findet und das für mich eine Grenze darstellt. Genau wie für deinen Gabriel, nachdem er sein Menschsein zurückgelassen hat.«

»Aber wie ist Gabriel dorthin geraten? Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hatte er gar nicht vor, die Traumwelt zu verlassen. Stattdessen wollte er mich in meinem Garten treffen.«

Warum auch immer, Ellas Worte gefielen dem Dämon ausgesprochen gut. Er leckte sich

über die Lippen mit einer langen, spitz zulaufenden Zunge. Nun setzte Ella doch einen Schritt zurück. Wer konnte schon sagen, wie lang diese blutrote Zunge wirklich war?

»Es gibt eine Regel: Man kann nicht Traum sein und zugleich träumen«, erklärte der

Inkubus. »Gabriel hat sich dazu entschieden, mir meinen Lohn vorzuenthalten. Stattdessen hat er sich in einem Traum versteckt, und dort hätte er eigentlich bleiben müssen. Denn er ist kein Mensch mehr, aber er ist auch nicht wie ich. Bei dem Versuch, den Traum zu verlassen, ist er zwangsläufig in der Grenze stecken geblieben. Nun kann er weder vor noch zurück.«

Ja, das hatte Ella gesehen. »Ich muss ihn also finden und ihm den Weg in meinen Traum zeigen.«

Der Blick des Inkubus war prüfend, und einen Moment lang glimmte eine Spur von Achtung auf. »Genau so ist es.«

Plötzlich erstarb das Lied der Nymphe, und als Ella in ihre Richtung blickte, lag auf dem Findling nicht mehr als vertrocknetes Laub. Der Inkubus hielt seine Hand vor den Mund und blies, sodass es aufwirbelte. Einige der durchscheinenden Blätter verschwanden im

Farndickicht, andere taumelten durch die Luft und landeten auf dem Weiher. Eine

unsichtbare Hand griff nach ihnen und zog sie ins Dunkle.

Die beiden Nymphen sind vergangen, nun bin nur noch ich da, schoss es Ella durch den Kopf. Aber auch ich muss gehen. »Es ist an der Zeit für mich«, sagte sie laut, um ihre Angst zu überspielen. »Du hast gesagt, du wärst zu einem Tauschhandel bereit. Was willst du dafür, dass du mir den Weg in das Grenzgebiet weist?«

»Einen Traum natürlich.«

»Du willst meinen Garten«, versuchte Ella, den Inkubus festzulegen. Sie war nicht ganz bei der Sache, denn eine Beobachtung lenkte sie ab: Die obersten Blätter der Bäume verfärbten sich rotgolden. Der Morgen kündigte sich an.

»Ich bin mir nicht sicher, was ich wirklich will.« Als ahnte er nichts von ihrer Ungeduld, streichelte der Inkubus über Ellas Seitenlinie. Unter der Kälte seiner Berührung erstarrten die Blüten auf ihrem Gewand und verwandelten sich in Eisblumen. »Eigentlich gefällt mir dein Garten sehr gut, wie er ist. Wie wäre es, wenn wir uns in deinem nächsten Traum erneut treffen und weiterverhandeln? Das würde mir gefallen. Dieses Reich birgt noch so viele Plätze, die ich gern an deiner Seite betreten würde. Für Gabriel macht es in seinem Zustand keinen großen Unterschied, wenn er noch auf seine Rettung warten muss.«

Mittlerweile hatte die aufgehende Sonne die Baumwipfel in Brand gesteckt. Zuerst dachte Ella, es wäre lediglich die intensive Farbe der Blätter, die unter den Strahlen erleuchteten.

Doch es war ein echtes Feuer, das diesen Ort zu vernichten drohte.

»Schon verrückt«, bestätigte der Inkubus, der nun auch auf die Zerstörung aufmerksam geworden war. »Das Erwachen von euch Menschen geht immer auf diese Weise vonstatten.

Dabei wird es mitten in der Nacht sein, wenn du wieder zu dir kommst.«

In ihrer Hilflosigkeit ballte Ella die Hände zu Fäusten. »Wir brauchen einen Handel, jetzt.«

Der Inkubus strich langsam über ihre Schulter, als hätte er den brennenden Wald und ihren Handel ganz vergessen. Obwohl seine Berührung Ella einen Schauer aus Kälte und Glut

über die Rücken jagte, langte sie nach seiner Hand und drückte sie weg. Widerwillig gestand sie sich ein, dass kein Mann je eine solche Reaktion in ihr hervorrufen würde, auch wenn sie noch so sehr in ihn verliebt war. Die Macht des Inkubus war nicht zu unterschätzen. »Bitte nicht«, brachte sie mühsam hervor, die Sehnsucht ignorierend, die seine Hände hervorriefen.

»Gut«, lenkte der Dämon ein. Er senkte seine Hände, auf denen ein Hauch golden

schimmernder Blütenstaub haftete. »Ich verschaffe dir den Eintritt in das Grenzgebiet, das den Traum vom Erwachen trennt. Außerdem werde ich dir ein Geschenk mit auf den Weg

geben, das dir helfen wird, die Grenze nicht nur im wachen Zustand zu überschreiten, sondern auch wieder zurückzukehren: ein Stück meiner Dunkelheit, die mich vor dem

Erwachen bewahrt. Deinen Gabriel zu finden und ihn dazu zu bringen, dass er auch mit dir gehen will, wird sowieso die größte Herausforderung darstellen. Der musst du jedoch allein entgegentreten. Erst wenn du wieder hier im Garten bist, werde ich dir den Preis für meine Hilfe benennen.«

»Das ist nicht fair!«, schrie Ella.

Das Sonnenfeuer hatte die Grenze des Waldes erreicht und versengte bereits die Farne.

Rasch leckte es das Grün zwischen sich und dem Weiher auf, in dem die Lichtreflexe so aufgebracht tanzten, dass Ella schützend die Hand vor die geblendeten Augen legte. Gleich würde es das Ufer erreicht haben. Mit ihm breitete sich der Geruch von verbrannter Myrte aus.

Der Inkubus zuckte mit den Schultern. »Fair oder nicht, es ist ein Angebot. Es ist deine Entscheidung, ob du es annimmst.«

Obwohl Ella innerlich fluchte, sagte sie: »Ich nehme es an.«

Mit einem erschreckend unmenschlichen Lächeln auf dem Gesicht riss der Inkubus Ella an sich, presste seine eisigen Lippen auf ihre und drängte in ihren Mund. Sie spürte jedoch nicht seine Zunge, sondern einen Schwall Dunkelheit, der sich in sie ergoss. Die Welt um sie herum mochte brennen, aber sie war erfüllt von Schwärze. Als läge sie auf dem dunklen, kalten Grund des Weihers.

-

Ich bin ich.

Ich bin jemand. Das steht fest.

Ich bin jemand, der den Weg nicht findet. Auch das steht fest.

Aber wo kein Weg ist, ist eben kein Weg.

Und offenbar auch keine verrinnende Zeit. Ob ich nun gerade erst in diesem gleißenden Licht angekommen bin oder schon vor einer Ewigkeit – es spielt keine Rolle.

Ich bin …

Ich …

Da ist ein Geräusch. Ein Knacksen. Ein Zerbersten. Ganz bestimmt.

Und dann begreife ich es: Die unerträgliche Helligkeit, in der ich gefangen bin, beginnt zu zersplittern. Sie bricht auseinander wie eine Eierschale.

Wie ein Neugeborenes werde ich brutal hinausgedrängt, in eine Welt aus sich scharf abzeichnenden Formen und geraden Linien.

Meine Umgebung ist mir vollkommen unbekannt.

Ist das der Weg, nach dem ich gesucht habe?

In der festen Überzeugung, dass es so sein muss, sehe ich mich um. Grau in grau und dazu diese Linien. Dann bleibt mein Blick unvermittelt an einer Gestalt hängen. Ein Fremder mit grauen Augen. Die gleiche Farbe wie alles um mich herum. Er sieht mich verwirrt an.

»Wo geht es lang?«, frage ich leise.

Seine Lippen bewegen sich stumm. Ich kann ihn nicht verstehen. Also mache ich einen Schritt auf ihn zu und er auf mich. Wir strecken einander die Hände entgegen und berühren uns.

Berühren uns nicht.

Da ist etwas zwischen uns, das ich nicht mag und er noch weniger. Eine kalte Grenze.

Wir können einander nicht helfen, wir sind beide gefangen.

Ich schreie vor Verzweiflung, obwohl es mir nicht helfen wird.

Meine Lage ist hoffnungslos.

Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
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