Kapitel 30
Eine Einladung zum Träumen
Wie versprochen, wartete Gabriel im Spiegelzimmer auf Ella.
Obwohl der Raum dank Gregors fachmännischer Hilfe wiederhergestellt war, befand sich außer dem Rahmen nichts darin. Als Ella eintrat, erkannte sie auch, warum: Neben ihm blieb für nichts anderes Platz. Vielleicht lag es an ihrer eigenen Erfahrung, dass er keineswegs ein Holzgebilde war, das schon seit Langem kein Spiegelglas mehr gehalten hatte. Es war
Gabriels Pforte in eine andere Welt, so viel hatte sie sich bereits selbst zusammengereimt.
So oder so, als sie das Zimmer betrat, breitete sich eine Kühle über ihr aus, die einerseits angenehm, andererseits schneidend und fremdartig war.
Gabriel stand mit dem Rücken zum Fenster. Das einfallende Licht umspielte seine
Silhouette und verwandelte sein Haar in einen Strahlenkranz, während sein Gesicht im Schatten lag. Trotzdem konnte Ella das sich inzwischen dunkelrot verfärbende Mal an
seinem Kinn erkennen. Auf seinem Wangenknochen zeichnete sich ebenfalls ein Bluterguss ab. Kimi hatte in seiner Rage mehr als einen Treffer gelandet. Umso erleichterter war sie, dass Gabriel sich nicht zur Wehr gesetzt hatte.
»Hat Kimi sich gegen das Einschlafen gewehrt?«, fragte Gabriel.
»Nein, dazu war er viel zu erschöpft. Was auch immer ihm in der letzten Nacht zugestoßen ist, es darf nicht noch einmal geschehen. Wir müssen zu dieser Bernadette, sie muss uns helfen, dem Inkubus den Weg zu Kimi zu versperren.«
Gabriel schüttelte den Kopf, bedächtig, beinahe als wäre er zu schwer für diese Bewegung.
Die Leichtigkeit des Morgens gehörte einem anderen Paar, von dem sie nun durch Kimis Erlebnis getrennt waren. »In dieser Angelegenheit gibt es kein Wir, das muss ich allein ausbaden. Und was Bernadette betrifft … nach meinem letzten Treffen mit ihr dürfte sie noch viel heftiger als Kimi auf meine Anwesenheit reagieren. Aus dieser Richtung ist keine Unterstützung zu erwarten. Sobald der Junge sich einigermaßen erholt hat, werde ich dem Ganzen ein Ende bereiten. Wenn alles gut geht, sehen wir uns heute Nacht in deinem Garten wieder.«
»In meinem Garten? Wovon redest du? Hier geht es doch nicht um unser nächstes
Rendezvous! Dieser Dämon erwartet eine Bezahlung, und die soll er haben. Hauptsache, er lässt uns anschließend alle in Ruhe.«
»Du hast mich falsch verstanden, Ella. Ich rede von dem Garten in deinen Träumen. Ich habe vor, hinter dem Spiegel zu bleiben, indem ich selbst zum Traum werde. Es ist das Menschliche in mir, das mich für den Inkubus zu einem interessanten Handelspartner macht.
Im Gegensatz zu ihm kann ich mir einen Traum nehmen, während er ihn sich nur von außen ansehen kann. Es hat lange gedauert, aber zumindest das habe ich begriffen. Wenn ich die menschliche Seite aufgebe, ist es sehr wahrscheinlich, dass er von mir ablassen wird. Und damit auch von Kimi und dir.«
»Das wirst du auf keinen Fall tun, das ist doch Unsinn. Außerdem …« Ella fühlte, wie ihr die Situation entglitt, weil sie eine solche Angst verspürte: Angst vor dem, was Kimi geschehen war. Angst vor dem, was Gabriel bevorstand. »Ich will dich nicht verlieren«, gestand sie wispernd.
Auf Gabriels Gesichtzügen kehrte Ernsthaftigkeit ein, während seine Augen sie liebevoll maßen. »Ich bin sehr froh darüber, mehr, als du glaubst. Genau aus diesem Grund werde ich es tun, verstehst du?«
»Es muss einen anderen Weg geben«, beharrte Ella.
Gabriel stieß ein bitteres Lachen aus. »Nur her mit einem besseren Vorschlag, wenn du denn einen auf Lager hast … Nein? Dachte ich mir. Also bleibt es dabei. Ich werde in den Träumen verharren.«
»Nicht so schnell. Schließlich weißt du nicht einmal, ob alles so ablaufen wird, wie du dir das vorstellst. Was ist, wenn du gar nicht von einem Traum in den anderen wandeln kannst?
Dann würdest du meinen Garten niemals erreichen, und wir würden einander nie
wiedersehen. Du wärst einGefangener in einer Welt, deren Regeln du nicht kennst. Lassuns doch wenigstens über eine andere Lösung nachdenken.«
»Falls du es nicht bemerkt haben solltest: Uns läuft die Zeit davon.«
»Erzähl mir, wie es zu dem Handel mit dem Inkubus gekommen ist«, hielt Ella an ihrem Kurs fest. Sie war nicht bereit, sich so schnell geschlagen zu geben. »Was spricht denn schon dagegen, es mir zu verraten? Solange Kimi schläft und du dich weigerst, die Hilfe dieser Bernadette einzufordern, bleibt uns ohnehin nichts anderes zu tun. Wenn ich dir schon nicht helfen kann, dann lass es mich doch wenigstens verstehen.«
Mit einem Stöhnen sackte Gabriel in sich zusammen und zog die Knie vor die Brust. Ella setzte sich neben ihn, rutschte so dicht an seine Seite, wie er es zuließ. Dort, wo ihre Oberarme sich berührten, stellten sich die Härchen auf. Es war immer noch ein Hauch von der Magie der letzten Nacht vorhanden. Wenn sie die Augen schloss und sich vollkommen auf diese Berührung einließ, könnte es ihr gelingen, den bedrohlichen Spiegelrahmen in ihrer Nähe zu vergessen. Vielleicht könnte sie sich sogar davon überzeugen, dass die Gänsehaut auf Gabriels Arm ihrer Nähe und nicht seiner Anspannung geschuldet war. Sie würde sich glücklich fühlen … bis zu dem Moment, in dem Kimis rankenübersäter Körper vor ihrem
geistigen Auge wie ein Warnsignal aufleuchtete. Gleichgültig, ob Gabriel behauptete, dass es in dieser Angelegenheit kein Wir gab – sie trug die Verantwortung für Kimi, und allein deshalb musste sie einen Weg finden, dem Inkubus Schranken aufzuerlegen.
Vorsichtig gab sie Gabriel einen Kuss auf die Schulter, doch er zuckte nur zusammen. Er starrte ins Leere, entschlossen, nichts mehr an sich heranzulassen, das ihn von seiner Entscheidung abbringen konnte. Aber Ella wollte das nicht zulassen, allein die Vorstellung, ihn zu verlieren, trieb sie schier in den Wahnsinn. Es musste eine andere Lösung geben, bei der Gabriel dieser Weg erspart blieb. Die Welt konnte einfach nicht so unfair sein.
Ein Blick auf Gabriels versteinertes Gesicht brachte Ella auf eine Idee. »Es ist spät am Abend«, begann sie zu erzählen. »Beinahe schon zu spät, denn meine Augen brennen, und meine Glieder sind schwer. Ich sollte längst schlafen, aber ich kann nicht. Ich will diesen Tag noch nicht verloren geben, denn er ist langweilig und bedeutungslos gewesen. Genau wie die anderen Tage zuvor. Dabei sehne ich mich nach etwas Besonderem, etwas, das mich spüren lässt, dass ich am Leben bin. Ich wandere umher, zerbreche mir den Kopf, wie ich das Blatt wenden kann. Ich sehne mich nach einem Kick, selbst wenn er sich wie ein Stromschlag anfühlt. Immer noch besser als dieses unendliche Einerlei, von dem ich umgeben bin. Doch es ändert sich nichts, mein Wollen allein reicht für die ersehnte Veränderung nicht aus.
Geschlagen lasse ich mich auf mein Bett fallen und packe den verschwendeten Tag zu den anderen, von denen ich schon einen ganzen Sack voll habe. Ich schlafe ein, ein süßes Ziehen in die Tiefe. Dann beginne ich zu träumen …«
Gabriel stieß ein Geräusch aus, das unter anderen Umständen vermutlich als Lachen
durchgegangen wäre. Ohne Ella auch nur einen Blick aus den Augenwinkeln zuzuwerfen,
übernahm er die Erzählung.
»Zuerst sind meine Träume nicht mehr als ein hektisches Flackern, lauter Splitter, die kein Bild ergeben. Kaum greifbare Empfindungen, Erinnerungsfetzen, durchmischt mit Abstrusem.
Ich bin alt, ich bin jung. Ich bin gar nicht ich – und dann sehe ich plötzlich alles glasklar. Im Erwachen starre ich an die Decke mit dem hässlichen Feuchtigkeitsfleck. Irgendwann wird das Aquarium aus der
WG
über mir durch die Decke brechen. Diese elende
Studentenbude, in der ich seit Monaten mein Dasein friste … ich bin es dermaßen leid. Die Umrisse des Flecks bewegen sich, dann zurrt er zusammen und ist plötzlich verschwunden.
Jetzt erst begreife ich, dass ich nicht wahrhaftig aufgewacht bin. Jemand hat mich geweckt, zumindest einen Teil von mir. Mein schlafender Körper liegt neben mir.
›Du wolltest doch nicht wiederkehren‹, sage ich zu dem Schemen, der neben mir sitzt.
Einige Herzschläge später nimmt der Schemen die Gestalt des braunhaarigen Mädchens
hinter der Theke im Café an, in dem ich heute einige Stunden totgeschlagen habe, anstatt mich auf die anstehende Prüfung vorzubereiten. Gute Wahl, denke ich und grinse die heute Nacht braunhaarige Bernadette an. Vom Aussehen her war das Café-Mädchen absolut mein Typ gewesen.
›Das hatte ich mir auch fest vorgenommen. Ich sollte mich wirklich von dir und deinem Traum fernhalten‹, sagt Bernadette mit ihrer tiefen Stimme, die in allen Nächten dieselbe ist, während sich ihr Äußeres stets wandelt. ›Wir beide haben uns schon viel zu lange
miteinander vergnügt, sodass es allmählich gefährlich wird. Du bist zu verführerisch, mein Schöner. Wenn ich mich nicht langsam von dir abwende, werde ich die Kontrolle verlieren.
Und das wollen wir doch beide nicht.‹
›Ich verstehe das nicht: Die Kontrolle zu verlieren, ist doch genau das, was wir beide jede Nacht gemeinsam tun.‹
Die geliehene Miene des Mädchens aus dem Café wird schlagartig ernst, ihr hübscher
Mund ist nicht mehr als ein Strich. ›Es ist dein Traum, du tust in ihm, was du willst. Begreifst du den Unterschied nicht, du dummer Junge?‹ Dann ziehen sich die Mundwinkel nach oben, aber es wird kein echtes Lächeln, und ich fühle mich zusehends unwohl in meiner Haut.
Wenn die Realität nichts weiter als zähe Langeweile ist, sollten zumindest die Träume einen Ausgleich schaffen. Allerdings verspricht dieser Traum keineswegs die erhoffte Befreiung. Nur mit Mühe und Not widerstehe ich der Versuchung, ihn in ein Abenteuer zu verwandeln, denn als ich mich schlafen legte, hatte ich nicht damit rechnen können, dass Bernadette erscheinen und mich wecken würde. Sie hatte gesagt, sie würde sich von mir fernhalten müssen. Also sollte ich besser jede Sekunde mit ihr ausnutzen, anstatt sie zu verärgern.
›Gut, wenn das hier mein Traum ist, der allein von meinen Wünschen gesteuert wird, dann könnte ich mir doch eigentlich wünschen, dass er niemals aufhört‹, taste ich mich voran.
›Dann könnten wir zwei in alle Ewigkeit tun, wonach uns der Sinn steht.‹
Bernadettes Lächeln wird zunehmend voller. ›Das könntest du. Aber ich habe noch einen besseren Vorschlag: Wenn dir dieser Zustand so ausnehmend gut gefällt, warum fängst du nicht an, selbst durch Träume zu wandeln und dir anzuschauen, was andere zu bieten
haben? Du könntest dich an Dingen berauschen, auf die du selbst niemals gekommen wärst.
Warum sich mit dem eigenen begrenzten Universum begnügen, wenn dir ein Weltall
unzähliger Universen zur Verfügung stehen kann? Alles, was du dafür tun musst,ist, einen Preis zu zahlen: deinen Traum, den du gemeinsam mit mir doch schon längst bis zur Neige ausgekostet hast.‹
Ich wäge ab: Meinen Traum, der mich bislang nicht einmal ansatzweise befriedigt, sondern nur mehr Hunger schürt, gegen ein ganzes Füllhorn an Träumen eintauschen. Die
Entscheidung fällt mir nicht schwer. Ich stelle Bernadette nur eine einzige Frage: ›Wie stelle ich das an?‹
O ja, ihr Lächeln ist voll und breit, eine einzige Bestätigung.
›Nichts leichter als das. Lass dich vollkommen auf deinen Traum ein. Stör dich nicht daran, dass ich mich zurückziehe. Ich kann nicht hier sein, wenn er kommt.‹
›Wer ist er?‹
Bernadette streichelt mir den Hals entlang, dass ich eine Gänsehaut bekomme. Fast
vergesse ich meine Frage. ›Der Herr der Träume‹, wispert sie dennoch.
›Das ist nicht dein Ernst. Sie gehören ihm?‹
Die Art, wie sie zusammenzuckt, beunruhigt mich, obwohl ich nicht sagen kann, warum.
›So kann man das nicht sagen, denn dein Traum gehört ja dir. Es sei denn, du verschenkst ihn. Aber er kann durch die Träume wandeln. Und viel besser noch: Er hat die Gabe, auch dir den Weg zu zeigen. So wie er es für mich getan hat.‹
Das Kribbeln auf meiner Haut breitet sich immer weiter aus, und ich beginne mich zu
winden. ›Du hast mir immer noch nicht gesagt, wer er ist‹, beharre ich. In diesem Moment ist es mir egal, ob ich Bernadette damit vor den Kopf stoße.
›Der Inkubus‹, erwidert sie und sieht mich prüfend an. Ich habe jedoch nicht die leiseste Ahnung, wovon sie spricht. Bernadette lehnt sich zurück und schüttelt den Kopf. ›So jung und so ahnungslos. Das finde ich ausgesprochen charmant an dir.‹ Das Kompliment klingt wie eine Beleidigung, vermutlich ist es auch genau so gemeint. Ein vollkommen neuer Zug an Bernadette, aber ich komme nicht dazu, darüber nachzudenken, weil sie den Faden bereits wieder aufnimmt. ›Der Inkubus wird zu dir kommen. Du brauchst ihn nur in Gedanken
einzuladen, damit er deinen Traum betreten kann. Scheu nicht zurück, wenn er vor dir steht, sondern streck die Hand nach ihm aus. Berühr ihn, lass dich auf ihn ein, damit er sich deinen Traum nehmen kann. Und wenn er ihn in den Händen hält, geborgen wie einen glitzernden Edelsteinen, und ganz in ihn versunken ist, dann schau dich nach der Pforte um, die dich fortan in die Träume führen wird.‹
›Aber was passiert dann mit meinem Traum?‹
Bernadette war mittlerweile nur noch ein Schemen. ›Mach dir doch keine Gedanken
darum, schließlich tauschst du nur einen Traum gegen unzählige andere. Außerdem hast du dich doch vor ihm gefürchtet, bis ich dir die Möglichkeit gegeben habe, ihn in etwas anderes zu verwandeln. Den wirst du also wohl kaum vermissen. Du kannst es natürlich auch lassen, dann ist das jetzt unser letztes Treffen und auch das letzte Mal, dass du die Welt der Träume in einem bewussten Zustand erlebst.‹
So gesehen, gibt es wirklich nicht viel nachzudenken. Denn was die Welt des Tages zu bieten hat, würde niemals aufwiegen, was ich dank Bernadette erlebte. Während Bernadettes Schemen sich verflüchtigt, sehe ich mich neugierig um und erschrecke halb zu Tode, als ich plötzlich mein Spiegelbild in der Wand vor mir entdecke. Nur ist dieWand gar keine Wand mehr, und die grauen, vor Schreckenweit aufgerissenen Augen gehören zwar meinem
Spiegelbild, allerdings zu dem Gabriel, der ich mit zwölf Jahren gewesen bin. Ich gehe auf mein verängstigtes Spiegelbild zu, strecke die Hand nach ihm aus, doch ich berühre ihn nicht. Stattdessen sinke ich durch die reflektierende Oberfläche, ohne Widerstand zu erfahren. Auf der anderen Seite spüre ich einen kalten Atem in meinem Nacken. Jemand steht hinter mir, aber ich wage es nicht, mich umzudrehen.
›Bist du bereit, deinen Traum gegen die Unendlichkeit der Träume einzutauschen?‹, fragt mich eine Stimme, die nichts Menschliches an sich hat und mich durchdringt.
›Ja‹, bringe ich mühsam hervor.
Ein Lachen erklingt, zumindest glaube ich, dass es ein Lachen ist.
Ich stehe wie gebannt da, selbst als der kalte Atem in meinem Nacken längst gewichen ist.
Schließlich wage ich es doch, mich umzusehen. Aber ich sehe weder den jüngeren Gabriel, der solche Furcht verspürt, noch den Inkubus. Ich sehe lediglich ein Quadrat aus glatten Holzlatten. Noch während ich mich frage, womit ich es zu tun habe, füllt sich das Quadrat mit Quecksilber: meine Pforte.
Jetzt lache auch ich. Es war alles so einfach, und nun liegt eine vollkommen neue Welt vor mir. Der Handel mit dem Inkubus ist kein Handel. In Wirklichkeit ist er ein großartiges Geschenk!«
-
Gabriel verstummte, und Ella schnappte vor Schreck nach Luft, so sehr war sie von seiner Erzählung gefesselt. Noch immer sah sie ihn vor sich: eine jüngere, unbeschwertere
Ausgabe von Gabriel, genau in dem Alter, in dem man jede Chance auf Abwechslung und
mitreißende Gefühle ohne Bedenken ergriff. Welche Macht von der Vorstellung ausging, seine eigene Welt erschaffen zu können, sich auszuleben und alle Grenzen niederzureißen.
Es wurde immer offensichtlicher, warum Gabriel so viel Verständnis für Kimis getriebene Art aufbrachte: So war er auch einmal gewesen, vermutlich nur ohne den ganzen Glitter.
Während Ella noch nachsann, presste Gabriel die Handballen mit solcher Kraft gegen
seine Augenlider, dass die Gelenke weiß hervorstachen. »Es war natürlich kein Geschenk, das Bernadette mir unterbreitet hat, sondern eine riesige Lüge. Aber ich habe kein Recht, mich zu beschweren, weil ich ihr so überaus begierig aufgesessen bin. Ich habe keinen Gedanken an die Folgen verschwendet, sondern geradewegs getan, was Bernadette mir
gesagt hat. Der Inkubus musste sich nicht im Geringsten anstrengen, ich war leichte Beute, gelangweilt bis aufs Blut, lechzend nach einem Leben, das Abenteuer pur versprach.«
»Du warst eine leichte Beute … für Bernadette. Wobei ich nicht verstehe, welcher Vorteil ihr daraus erwachsen ist. Warum hat sie einen anderen Menschen dem Hunger dieses
Dämons ausgeliefert? Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie nichts davon wusste, schließlich hat sie dich ja regelrecht angeleitet.« Bei dieser Überlegung ertönte ein Klicken in Ellas Innerem, als die verschiedenen Mosaiksteine endlich ihre richtige Position einnahmen.
»Kann es sein, dass Bernadette den Inkubus mit deinem Traum bezahlt hat?«, sprach sie laut aus, was ihr gerade durch den Kopf ging. Augenblicklich nahm Gabriel die Hände runter und sah sie fragend an. Ihr Herz begann schneller zu klopfen, als wäre sie ein Jagdhund, der eine Fährte aufgenommen hatte. »Nehmen wir mal an, Bernadette war damals in der
gleichen Situation wie du jetzt. Sie war dem Inkubus einen Traum schuldig, und war auf ihrer Suche nach Ersatz auf einen jungen Mann gestoßen, der genau das mitbrachte, was sie
bitternötig brauchte.«
»Und der sich selbst einen feuchten Dreck dafür interessierte«, fuhr Gabriel die Überlegung fort. »Außerdem war der Kerl die Sorte Idiot, die nicht davon ausgeht, dass irgendetwas in seinem Leben schieflaufen könnte. Jemand, der es ihr so leicht macht, dass sie ihm den Traum nicht einmal rauben muss, weil er ihn freiwillig rausrückt.«
»Oder es hatte einen anderen Grund, dass sie dich an den Inkubus ausgeliefert hat.« Je länger Ella laut darüber nachdachte, desto klarer wurde ihr alles. Ein elektrisierendes Kribbeln breitete sich über ihren Rücken aus und kroch den Nacken hoch, als ihr eine Erkenntnis kam. »Du willst es dir vielleicht nicht eingestehen, aber Bernadette hat dichin eine Falle tappen lassen. Zuerst hat sie dich auf denGeschmack gebracht, wie es ist, mit offenen Augen undwillentlich zu träumen. Dann hat sie dich deinen Traum opfern lassen, damit der Inkubus sie in Ruhe lässt. Selbst jetzt profitiert sie noch von dir: Der Inkubus jagt dich, du bist ihr Schutzwall …«
»Du meinst, Bernadette hat meinen Traum dem Inkubus zum Fraß vorgeworfen, um von
sich abzulenken, weil ihre Zeit damals am Ablaufen war? So wie jetzt meine?« Ein kaltes Funkeln zog in Gabriels graue Augen ein. »Zum Henker, das klingt absolut nach diesem Miststück. Darum ist sie so unbekümmert, schließlich bekomme ich die Folgen zu spüren, wenn der Inkubus umherzustreifen beginnt. Ich bin das Bollwerk, das sie vor dem Dämon schützt. Alles andere ist ihr egal.«
»Und wer weiß, wessen Bollwerk sie wiederum ist«, spann Ella den Gedanken weiter. Eine wilde Theorie, aber sie fühlte sich richtig an. Alles passte zusammen.
Gabriel stieß die Luft durch seine fest aufeinandergebissenen Zähne. »Mir kommt gerade ein ganz übler Gedanke. In den letzten Nächten bin ich unentwegt durch das Grenzgebiet gewandert, auf der Suche nach einem Traum, der stark genug ist, um meine Rechnung beim Inkubus zu begleichen. Aber es hat mich immer wieder zu dir zurückgezogen, dein Traum wirkte auf mich wie ein Magnet. Als ich Bernadette gestern Abend getroffen habe, wollte sie mich regelrecht zwingen, dir deinen Traum zu rauben. Wenn es nach ihr ginge, wärst du das nächste Bollwerk.«
Ella riss Gabriel an der Schulter herum. Sie konnte kaum glauben, was sie da hörte. »Mein Traum wäre stark genug, um den Inkubus zu bezahlen? Und das sagst du so ganz
nebenbei? Wenn das alles ist, was es braucht! Du kannst ihn nehmen. Ich begreife nicht, warum du es noch nicht getan hast.«
»Das kannst du mich doch wohl kaum ernsthaft fragen. Nicht nach der letzten Nacht.«
»Gerade nach der letzten Nacht«, hielt Ella beharrlich dagegen. Sie versuchte, Gabriel zu fassen zu bekommen, ihn zu halten und sich zugleich an ihm festzuhalten, doch er zog sich zurück.
»Wenn du auch nur glaubst, ich wäre dazu imstande, dann brauchen wir kein weiteres
Wort mehr miteinander zu wechseln«, flüsterte er. »Es gibt niemanden auf der Welt, von dessen Traum ich mich ferner halten werde als von deinem. Verstehst du?«
Gabriels Worte trafen Ella wie ein Schlag. Irgendwo in ihrem Hinterkopf begriff sie den versteckten Liebesbeweis, aber zuvorderst war da nur die Tatsache, dass er ihre Hilfe vehement ablehnte.
»Bitte, lass uns wenigstens darüber nachdenken, den Inkubus mit meinem Traum
hinzuhalten, bis wir eine andere Lösung finden. Damit hätten wir nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, dann wären du und Kimi nicht länger gefährdet. Das ist eine viel bessere Idee als dein waghalsiger Plan, einfach auf der anderen Seite zu bleiben und deine Menschlichkeit aufzugeben. Ich schnappe mir ein paar von deinen Schlaftabletten, und sobald ich zu träumen anfange, holst du dir von mir, was es braucht, um den Inkubus zu besänftigen.«
Immer noch war da ein Nachhall dieses harten, abweisenden Ausdrucks auf Gabriels
Gesicht. Doch die Härte richtete sich nicht gegen sie, sie war gegen ihn selbst gerichtet.
Dieses Mal kam er ihr entgegen und legte seine Stirn gegen die ihre. Für einen Moment gehörten sie wieder zusammen.
»Ich bin dir sehr dankbar für dein Angebot, aber ich werde es nicht annehmen«, erklärte er mit einer Stimme, die jeden Zweifel an seiner Entscheidung von vornherein abwies. »Dein Traum gehört dir, er ist ein wichtiger Teil deines Wesens. Daran werde ich mich auf keinen Fall vergreifen. Vielmehr noch: Ich könnte es nicht ertragen, wenn du ihn verlierst.«
Gegen ihren Willen entzog Ella sich der Berührung, ansonsten wäre sie außerstande
gewesen, zu widersprechen. Sie wollte ihn spüren, die Harmonie zwischen ihnen
wiederherstellen, doch das war im Augenblick unmöglich. Er war bereit, sich selbst zu opfern.
Für sie hingegen gab es gerade nichts Wichtigeres, als ihn zu retten. Also versuchte sie es auf die harte Tour: »Wenn es nur um uns beide gehen würde, könnte ich deine Entscheidung vielleicht akzeptieren. Aber es geht auch um Kimi. Dieser Inkubus ist dicht dran gewesen, ihn zu zerbrechen, und ich bin mir nicht sicher, ob er das Erlebte überhaupt überwinden wird.
Hoffen wir, dass die Traumbilder schon bald verblassen und mit ihnen die Ranken auf
seinem Körper. Sollte dein Plan nicht aufgehen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass der Inkubus bei der nächsten Gelegenheit zu ihm zurückkehrt. Das kann ich nicht zulassen.
Und jetzt sag mir: Was ist gegen eine solche Qual schon der läppische Verlust eines
Traums?«
»Wenn du eine Ahnung hättest, welche Ausmaße der Verlust eines Traums hat, müsstest
du mich nicht fragen. Schau mich an: Außer dem einen habe ich nichts weiter Wertvolles hervorgebracht. Bevor ich dich kennengelernt habe, wusste ich nicht einmal, dass mir etwas fehlt. Weil alles, das ich wahrgenommen habe, reine Oberfläche war. Man wird innerlich hohl, wenn man seine Träume verkauft.«
»Du bist weder oberflächlich noch gefühllos, Gabriel.« Ella konnte kaum glauben, was sie da hörte. »Außerdem kannich sehr gut abschätzen, wie es ohne den Garten für mich sein wird. Schließlich habe ich jahrelang auf meinen Traum verzichten müssen, als ich in
Australien gelebt habe. Jetzthabe ich meinen Garten, ich kann jeden Tag in ihm
spazierengehen, da muss ich ihn nachts nicht besuchen.«
»Du weißt genau, dass die beiden Gärten zwei verschiedene Reiche sind.«
»Das ist mir egal. Kimi und du, ihr beide seid mir wichtiger.«
»Aus meiner Sicht sieht es ganz ähnlich aus: Ich werde dem Spuk jetzt ein Ende bereiten, den ich in dieses Haus gebracht habe. Und ich werde es weder auf deine noch auf Kimis Kosten tun. Aber eins kann ich dir versprechen: Bernadette wird mir helfen und zugleich ihre Schulden bei mir begleichen.«
»Es ist doch absoluter Unsinn, ein solches Risiko einzugehen, du Sturkopf. Du wirst nichts tun, was dich gefährdet, das versprichst du mir jetzt auf der Stelle. Und zwar hoch und heilig.
Ich will dich nicht verlieren. Ich … das darfst du nicht, begreifst du das denn nicht?«
Gabriel sah sie an, dann legte er seine Hände um ihr Gesicht. Eine schützende und
zugleich tröstende Berührung. Als er sie wieder zurückzog, konnte Ella nur schwer einen Schluchzer unterdrücken. »Kimi ist aufgewacht«, sagte er leise. »Du solltest jetzt nach ihm schauen, alles andere wird sich finden.«
Obwohl es ihr widerstrebte, nickte Ella. Als sie sich nach oben stemmte, schmerzten ihre Glieder. »Kommst du mit zu ihm?«
»Ich glaube kaum, dass Kimi mich jetzt sehen will. Ich bleibe am besten, wo ich bin.«
»Einverstanden, aber versprich mir, dass du nichts Dummes tust.«
»Das verspreche ich dir. Keine Dummheiten mehr.«
Ella musterte ihn eindringlich, konnte aber nichts als die Wahrheit in seinen Augen
erkennen. Also drehte sie sich um und ließ das Spiegelzimmer hinter sich, mit den Gedanken sogleich bei dem Jungen, für den der Schlaf zu einer Falle geworden war. Erst als sie die Vorhalle schon fast durchquert hatte, hielt sie jäh an. Nichts Dummes… Gabriel hatte ihr bereitwillig versprochen, nichts Dummes zu tun. Aber er würde etwas tun, das Einzige, was in dieser Situation für ihn sinnvoll war. Er würde durch den Spiegel auf die andere Seite gehen, ohne zu wissen, ob er von dort zurückkehren konnte.
Wie von Sinnen machte Ella kehrt und rannte die Treppe hoch, stieß die Tür auf und fand den Raum leer vor bis auf zwei grün-braun gesprenkelte Augen, die sie entsetzt anstarrten.
Ihre Augen … in einem Spiegel. Denn der Rahmen war nicht länger leer. Was auch immer ihn füllte, es war so glatt wie Glas, und als sie es berührte, auch genauso kalt. Von Gabriel war keine Spur zu entdecken.