Kapitel 12
Nackte Tatsachen
Liv parkte ihren Mercedes SLK auf dem Vorhof der Villa neben einem
geschmacklosen Gefährt mit lila Seitenstreifen, das sie erst einmal einige Minuten betrachten musste.
Unfassbar.
Dieser Schrotthaufen gehörte ganz bestimmt Ella, vermutlich versuchte sie, damit ihre eher blasse Erscheinung aufzubessern. Der Lebensstil ihrer Schwägerin wurde zusehends
kurioser. Begonnen hatte alles mit dieser lächerlichen Idee, herumzuknipsen. Also wirklich!
Als Werbefachfrau kannte Liv sich mit Fotografen aus. Mit echten Fotografen, Menschen, die ein entsprechendes Studium und ein eigenes Studio mit den neusten technischen
Errungenschaften aufzuweisen hatten. Und nicht eine abgewrackte Villa, in der
sich
Nagetiere herumtrieben und man sich schlimme Krankheiten durch Schimmelpilz zuziehen konnte.
Liv starrte den schwarzen Lack mit den schrillen Farbstreifen an, während sie ihr Mantra
»geschmacklos, geschmacklos, geschmacklos« wiederholte. Normalerweise half ihr diese –
nun ja – Technik, um sich zu beruhigen, indem sie ihr Gegenüber herabsetzte. Nur heute wollte ihr das einfach nicht gelingen. Dabei war sie mit dem festen Vorsatz hergekommen, ihrer Schwägerin, diesem halb garen Etwas mit seinen albernen Ideen, zu verdeutlichen, was sie von ihr hielt. Und vor allem, dass sie nicht länger gewillt war, Ellas Einfluss auf ihre Familiengeschicke hinzunehmen. Noch schlimmer: auf ihren Kontostand.
Gestern Abend waren Sören und sie zum Essen bei den Richards eingeladen gewesen, bei denen es zu jedem Gang einen anderen Wein gab. Und es hatte viele Gänge gegeben. Nach dem – beschwipsten – Dessert war die Stimmung entsprechend großartig gewesen. Die
schwüle Sommernacht war Liv verheißungsvoll erschienen, vor allem, als Sören sie hinaus auf die Terrasse des Hauses geführt und den Arm um ihre nackten Schultern gelegt hatte.
Ging es noch besser? Die Richards waren genau die Art Freunde, die man sich als
erfolgreiches Powercouple wünschte.
In diesem Moment empfand Liv sich als eine begehrenswerte Frau mit einem nicht minder begehrenswerten Mann an ihrer Seite, der sich einzig und allein für sie interessierte, obwohl die Konkurrenz bei dieser Runde entsprechend groß war. Während sie auf den erleuchteten Hafen blickte, hatte siesich trotz ihrer siebenunddreißig Jahre jung und gleichzeitig auf dem Höhepunkt ihres Lebens empfunden. Ihr Leben war perfekt – zumindest fühlte es sich nach diesem Abendessen so an. Ein Augenblick, den Liv am liebsten festgehalten hätte, denn ein solcher Zustand war ihr selten gegönnt, dafür war sie zu kritisch veranlagt.
Allein, wie Sören ihre Schulter streichelte, verriet, dass er ihre Stimmung wahrnahm. Oder vielmehr ihre aufregende Ausstrahlung, denn seine Finger begannen Kreise auf ihrer Haut zu ziehen. Ja, er wollte etwas Bestimmtes von ihr, daran herrschte kein Zweifel, wie Liv mit einem zufriedenen Lächeln erkannte. Eine Sekunde später stellte sich heraus, dass sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte. Allerdings auf eine andere Art als angenommen.
»Ich bin wirklich froh, dass wir endlich mal einen ruhigenMoment füreinander haben«, begann Sören vielversprechend. »In den letzten Tagen war so furchtbar viel los, vor allem, seit Ella da ist.«
Beim Namen ihrer Schwägerin brachte Liv lediglich ein abfälliges Schnauben hervor.
Schließlich hatte sie ihrem Mann schon ausgiebig erklärt, was sie davon hielt, dass seine Halbschwester ihre Kreise störte. Sie führten beide ein anstrengendes Leben, nicht nur wegen der Werbeagentur. Da konnten sie Ella und ihre Forderung nach Aufmerksamkeit nun wirklich nicht gebrauchen.
»Ich weiß, es gefällt dir nicht, dass ich Ella beim Aufmöbeln der alten Villa gelegentlich unter die Arme greife, weil unsere Zeit knapp bemessen ist. Ich habe darüber nachgedacht und finde, du hast recht: Es ist falsch, mich in diese Hausrenovierung reinzuhängen. Anstatt Wände zu spachteln, möchte ich lieber mit dir zusammen sein.«
Sören gebrauchte die reinsten Zauberworte.
Mit einer eleganten Bewegung drehte Liv sich in seinem Arm um, bis sie vor ihm stand und seine dunklen Augen fand. So lasziv wie möglich lächelte sie ihn an. »Du und ich – wir beide müssen in unserem Leben im Vordergrund stehen, sonst zerbrechen wir an den
Anforderungen. Ich finde es wunderbar, dass du das endlich einsiehst. Ich habe mir
tatsächlich schon Sorgen gemacht, dass du Ella zu viel Platzeinräumen könntest, obwohl sie nur deine Halbschwester ist.«
Sörens Lächeln geriet so einnehmend wie immer, wenn er sie um den Finger wickeln
wollte. Oftmals gemahnte Liv dieses Lächeln zur Vorsicht, aber in diesem Moment ließ sie sich bereitwillig darauf ein. Sie liebte Sören für seine Verführungskünste, die er in den letzten Jahren leider immer seltener einsetzte. In Gedanken ging sie schon die Verabschiedung von den Richards durch, denn sie würden eine redliche Ausflucht für ihr viel zu frühes Aufbrechen liefern müssen. Schließlich wollte Liv gern wieder eingeladen werden, Leidenschaft hin oder her.
Zärtlich hauchte Sören einen Kuss auf die empfindsame Stelle unterhalb ihres Ohres.
»Mehr Zeit füreinander als gemeinsames Ziel … dafür einen Preis zu zahlen, ist es ohne jeden Zweifel wert.«
Bei der Nennung eines Preises zuckte Liv unwillkürlich zusammen. »Wovon sprichst du?«
»Davon, dass ich mich aus meiner Verantwortung Ella gegenüber herauskaufen werde.
Anstatt bei der Renovierung zu schuften, werde ich ihr die Handwerker bezahlen. Und wir können ihr natürlich einen Auftrag über die Agentur verschaffen, damit würden wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Mein Vater würde sich freuen, obwohl er mir gegenüber nichts in dieser Richtung erwähnt hat, und für Ella würde sich eine weitere
Verdienstmöglichkeit auftun, wenn sie ihre Arbeit gut macht.«
Liv befreite sich umgehend aus der Umarmung. Die Wut stieg ihr eisig in die Glieder und verbannte die Sommerwärme. »Du hast mich reingelegt«, klagte sie Sören an.
Doch ganz gleich, wie scharf ihr Ton ausfiel, Sören ließ sich nicht abschrecken und legte sogleich wieder seine Hände auf ihre Schultern. Er wusste, dass er sie auch dieses Mal herumkriegen würde. Seine Spezialität, schon seitsechzehn Jahren. Liv wehrte sich nicht, als er sie an sich zog, ihre Lippen berührte wie ein vorsichtiges Anfragen, um sie dann mit seiner spielerisch leichten Art zu küssen. Dabei glaubte Liv ein Lachen aus dem Esszimmer zu hören.
Vermutlich
boten
sie
der
Abendgesellschaft
gerade
das
perfekte
Unterhaltungsprogramm. Sei’s drum, immer noch besser, als wenn die Gastgeber eine
Auseinandersetzung zwischen ihnen mitbekommen würden. Das war viel schädlicher für den Ruf.
»Liebling, ich will dich doch nicht reinlegen, sondern die beste Lösung finden«, sagte Sören, dessen Stimme angenehm rau klang. So etwas gelang ihm quasi auf Knopfdruck.
»Außerdem hatte ich meinem Vater ja versprochen, die Villa instand zu halten, was ich dann irgendwie aus den Augen verloren habe. Welche Rolle spielt schon Geld, wenn es um den heiligen Familienfrieden geht?«
»Kommt darauf an, von wie viel Geld wir sprechen.«
Die Antwort, die Sören ihr ins Ohr flüsterte, sorgte dafür, dass Liv ihm ein »Vergiss es«
zuzischte, sich auf dem Absatz umdrehte und die Party verließ. Ohne Sören, der sich den verwunderten Fragen der Gastgeber würde stellen müssen. Dieser Abgang hatte ihr
ausgesprochen gutgetan. Obwohl er nicht ihrer sonst so reservierten Art entsprach, stellte Liv fest, während sie nach wie vor den grässlichen Mustang vor der Villa anstarrte. Nur mit Mühe widerstand sie dem Bedürfnis, den Lack des Wagens mit ihrem Schlüssel zu zerkratzen. Sie würde sich an Ella auf eine andere Weise dafür rächen, dass sie ihr den Abend wegen dieser maroden Villa verdorben hatte.
Die Haustür war angelehnt, und als Liv die Villa betrat, schlug ihr beißender Geruch von frischem Lack entgegen.
Sie folgte den Klängen dieser elektronischen Musik
samtKreischgesang, die ihr Sohn Konstantin ununterbrochen
hörte. Der schlechte
Geschmack lag eindeutig in der Johansen-Familie. Während sie diese Art von Musik unter Körperverletzung einordnete und einen weiteren Minuspunkt auf Ellas Liste eintrug, fand sie sich in der ehemaligen Bibliothek wieder, in der zwei Personen mit Mundschutz vor einer Höllenmaschine knieten und sich mit viel Handgefuchtel berieten. Als Erstes stellte Liv die Musik ab, dann holte sie tief Luft.
»Konstantin, was zum Teufel treibst du hier?«, fragte sie zur Begrüßung.
Ihr Sohn, der trotz seiner Schlaksigkeit ein eng anliegendes T-Shirt mit rot züngelnden Flammen und jeder Menge Totenköpfe trug, schob sich den Mundschutz ins Haar und erhob sich langsam. Wahrscheinlich war er zu dieser Tageszeit bereits zugedröhnt. Es war zum Schreien mit dem Kind.
»Wonach sieht es denn aus, Liv?«, erwiderte er trotzig.
Nun hatte sich auch Ella von dem Mundschutz befreit und spielte, deutlich verlegen, damit herum. Obwohl ihre Schwägerin die zwanzig bereits überschritten hatte, sah sie immer noch wie ein unterentwickeltes Mädchen aus. Daran würde sich wohl so schnell auch nichts
ändern.
»Hallo, Liv. Kimi hilft mir, wie schon die ganzen letzten Tage. Ich wüsste gar nicht, was ich ohne ihn tun sollte. An dieser Abschleifmaschine fürs Parkett scheitern wir aber beide, so wie es aussieht.«
»Konstantin hilft dir?« Liv konnte es kaum glauben. »Na, das ist ja mal wenigstens eine gute Nachricht. Und ich dachte, er würde die Ferien mit seinen idiotischen Freunden
verbummeln und sich an allen erdenklichen Körperstellen piercen lassen.« Sie sagte es betont gleichgültig, wohl wissend, dass sie ihren Sohn damit besonders traf. Auf andere Weise rief sie schon lange keine Reaktion mehr bei ihm hervor.
Während sein Kehlkopf auf und ab sprang, als würde er nur mit Mühe unzählige
Schimpfwörter unterdrücken, hob Ella beschwichtigend die Hände.
»Nein, Kimi ist die ganze Zeit bei mir. Er ist doch sogar vor ein paar Tagen bei mir eingezogen. Vorübergehend …« Ella stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie für Liv damit eine Neuigkeit aussprach.
»Du wohnst hier?«, fragte sie ihren Sohn verblüfft.
»Das hast du wohl noch gar nicht mitbekommen.«
In der Art, wie Konstantin das sagte, schwang so viel Verachtung mit, dass sie instinktiv einen Schritt zurücktrat. Doch er packte sie weder bei den Armen, um sie aus lauter
Enttäuschung durchzuschütteln, noch setzte er zu einer seiner wüsten Beschimpfungssalven an, mit denen er sie schon einige
Male niedergemäht hatte, weil sie Kraftausdrücke
verabscheute. Stattdessen ging er schnurstracks an ihr vorbei und warf die Tür mit einer Wucht hinter sich zu, dass es nur so schepperte.
»Ist es dir wirklich nicht aufgefallen, dass Kimi seit Längerem nicht mehr zu Hause war, oder wolltest du ihn absichtlich vor den Kopf stoßen?« Ella stand die Empörung deutlich ins Gesicht geschrieben.
Obwohl Liv sich ihrer Sache durchaus sicher war, stieg Panik in ihr auf, die sie nur mühsam vor ihrer Schwägerin verbergen konnte. Das hier hatte ihr Auftritt werden sollen! Nun sah es ganz danach aus, als würde sie am Pranger enden. Sie musste sich schleunigst etwas
einfallen lassen.
Die Tür ging auf, und ein großer blonder Mann kam herein, der mit Farbe bespritzt war und Ella mit gerunzelter Stirn betrachtete. »Ich bin Kimi eben in der Vorhalle begegnet, der sah aus wie kurz vor der Explosion. Kriegt ihr die Maschine etwa immer noch nicht zum Laufen?«
Dann erst bemerkte er Liv, die ihn ungeniert anstarrte. »Oh, hallo. Ich bin Gabriel, Ellas Untermieter.«
»Da schau mal einer an«, war alles, was Liv zur Begrüßung hervorbrachte. Dann wandte sie sich ihrer Schwägerin zu. »Dieser Mensch wohnt also ebenfalls mit im Haus?«
»Ja«, sagte Ella, die sich offenbar keinen Reim auf Livs Reaktion machen konnte. »Spricht denn etwas dagegen?«
Liv atmete auf. Hier bot sich ihr endlich die Chance, das Blatt zu wenden. »Sag mal, wie verantwortungslos bist du eigentlich? Nicht nur, dass du Konstantin in diese Todesfalle von einem Haus lockst und ihn für dich schuften lässt, da lässt du meinen sexuell verwirrten Sohn mit diesem Nacktmodell auch noch unter einem Dach wohnen?«
»Nacktmodell?«, kam es ungläubig von Gabriel, doch Liv beachtete ihn nicht weiter.
»Das war nicht mehr als ein harmloses Foto«, rechtfertigte sich Ella sofort.
Genau darauf hatte Liv gebaut. »Ich weiß ja nicht, was du unter harmlos verstehst, aber mich haben heute beim Frühstück bereits zwei Freundinnen angerufen, damit ich bloß nicht –
Zitat – ›das heiße Stück Fleisch auf Seite drei‹ im hiesigen Käseblatt verpasse, das ich sonst nicht einmal mit spitzen Fingern anfasse. Wenigstens weiß ich jetzt, was sich hinter deinen großartigen Plänen als freie Fotografin verbirgt, von denen Sören unablässig schwärmt. Von unserer Werbeagentur brauchst du nach dieser Nummer jedenfalls keine Aufträge zu
erwarten. Wir haben im Gegensatz zu dir nämlich einen Ruf zu verlieren.«
Ellas Augen waren weit aufgerissen und bewiesen, wie Liv befriedigt feststellte, dass sie mit einem solchen Angriff nicht im Geringsten gerechnet hatte. Entsprechend verunsichert fiel auch ihre Entgegnung aus: »Das war mein erster Job in Sandfern. Ich bin froh, dass ich überhaupt einen bekommen habe.«
»Ja, und dein nächster Job ist dann vermutlich mein Sohn als Schmuddel-Pin-up«,
unterbrach Liv sie eiskalt. »Schämst du dich eigentlich gar nicht?«
»Wofür genau soll Ella sich denn schämen?« Gabriel trat zwischen Liv und ihr Opfer,
genau in dem Moment, in dem Ella den Kopf hängen ließ. »Dafür, dass sie sich um Kimi kümmert und ihm die Chance gibt, etwas Sinnvolles aus seinem Sommer zu machen? Dass
sie die Herausforderung, die diese heruntergekommene Villa stellt, annimmt, nachdem sich jahrelang niemand um den Bau gekümmert hat? Oder dafür, dass sie versucht, als Fotografin Fuß zu fassen? Ich weiß ja nicht, wie Sie ticken, aber der Akt von mir, den Sie als halben Porno darstellen, ist ganz bestimmt kein Schmutzfleck auf Ellas weißer Weste, sondern zeigt eher, was sie draufhat. Wenn Sie ihr unbedingt ans Bein pinkeln wollen, müssen Sie sich schon einen Deut mehr anstrengen.«
Liv zog mit einem schneidenden Ton die Luft durch die Nase ein, aber der Sauerstoff
reichte nicht aus, um den Druck
von ihrer Brust zu nehmen, der mit jedem weiteren
unverschämten Wort dieses Burschen zugenommen hatte. »Ans Bein pinkeln«, wiederholte sie weniger aus Unglauben über die harsche Formulierung als über die Tatsache, dass sie überführt worden war.
Gabriel zuckte nur mit den Achseln, während Ella ihr Gesicht hinter den Händen verbarg, sodass nicht klar war, ob sie ihr Entsetzen oder ihre Niedergeschlagenheit versteckte.
»Ach, sind Sie vielleicht aus einem anderen Grund hier hereingeschneit?«, fragte Gabriel trocken. »Also, wenn Sie eigentlich helfen wollten … Arbeit ist mehr als genug da. Falls Ihnen Schleifmaschinen nicht liegen, ist das okay. Wir haben auch noch ein paar Putzjobs zu vergeben. Solche, wo man richtig pingelig sein kann. Wie gemacht für Sauberfrauen.«
Nachdem Liv einen der giftigsten Blicke ihres Lebens auf Gabriel abgeschossen hatte, machte sie auf der Stelle kehrt und verließ die Villa. Beim Hinausgehen hörte sie noch Ellas hervorbrechendes Lachen. Das hatte sie also hinter ihren Händen verborgen, das kleine Biest. Liv biss die Zähne zusammen und akzeptierte die Tatsache, eine Niederlage
eingesteckt zu haben. Vorerst.
-
Es dauerte eine Weile, bis Ella sich von ihrem Lachanfall erholte. Immer wieder tauchte Livs empörtes Gesicht vor ihren Augen auf: die krausgezogene, schmale Nase, die verdächtig glatte Stirn, die sich trotz Zorn nicht in Falten legte, die zu Fäusten geballten Hände mit dem ganzen klimpernden Goldschmuck. Jemand wie Liv war nicht dazu gemacht, außer Kontrolle zu geraten.
Unterdessen machte Gabriel sich an der Schleifmaschine zu schaffen, bis sie einen
ohrenbetäubenden Lärm von sich gab. Er schob sie ein Stück über das zerkratzte Parkett, um die Leistung zu überprüfen, spielte an der Einstellung herum und stellte sie dann ab. »So müsste es gehen«, erklärte er.
Dass Gabriel sich so nüchtern verhielt, führte Ella ihr eigenes überdrehtes Benehmen vor Augen. Es half jedoch nichts. Die Situation mit Liv eben war zu absurd gewesen.
»Für ein Nacktmodell bist du technisch ganz schön versiert. Dabei ist das für ein Leben vor der Kamera doch gar nicht nötig«, neckte sie ihn.
Wie zur Strafe brach das Lachen abermals aus ihr hervor, bis sie einen Schluckauf bekam.
Erst als Gabriel sich mit verschränkten Armen vor ihr aufbaute, wurde ihr bewusst, dass sie das Thema mit der Aufnahme besser nicht erwähnt hätte.
»Ich will jetzt sofort diese Zeitung sehen«, erklärte er. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass die Ausgabe mit der neuen Rubrik schon draußen ist? Und behaupte ja nicht, du hättest es vor lauter Arbeit vergessen.«
»Ich dachte, es wäre dir nicht besonders wichtig. Du hast dich ja überhaupt nicht mehr nach der Sache erkundigt.«
»Das war mir auch egal, solange ich geglaubt habe, dass man auf dem Foto wegen der
schlechten Druckqualität der Zeitung kaum etwas erkennen kann. Und weil du gesagt hast, dass es ohnehin klein ausfallen würde. Ein Foto neben anderen, waren deine Worte. So hat das eben aber nicht geklungen, als diese Eisprinzessin von ihren beiden Freundinnen erzählt hat, die extra wegen des Bildes bei ihr angerufen haben. Als ›heißes Stück Fleisch‹
bezeichnet zu werden, klingt in meinen Ohren nicht gerade nach einem Kompliment.
Außerdem hat sie mich wiedererkannt – und zwar auf den ersten Blick.«
»Ach, Liv hat einfach ein gutes Auge«, versuchte Ella, die Angelegenheit zu entschärfen.
»Die Zeitung – und zwar jetzt.«
Mit pochendem Herzen ging Ella in ihr Studio, wo sie einExemplar der aktuellen Neues aus Sandfern unter einem Stapel Bücher versteckt hatte. Die anderen Belege hatte Kimi sich unter den Nagel gerissen. Wofür er sie brauchte, wollte sie lieber nicht so genau wissen. Die Pubertät war wirklich die Hölle.
Gabriel schlug das Blatt auf und wurde weiß um die Nase. » Fuck«, sagte er leise, während er das Bild von sich betrachtete, das fast die gesamte dritte Seite in Anspruch nahm.
»Toll, nicht?« Ella schlug ihren besten Plauderton an. »Harold Boysen war so begeistert von der Aufnahme, dass er sie in Farbe gedruckt hat, dabei ist das schweineteuer. Sieht richtig echt aus, super Qualität. Außerdem ist es wirklich ein dickes Kompliment, dass die Redaktion dem Bild so viel Platz einräumt. Dadurch kommt es fast wie ein Kunstwerk rüber.
Und Kunstwerk ist doch gut, oder?«
Gabriel starrte immer noch voller Unglauben auf die plakatgroße Aufnahme von seiner
Kehrseite. Als Gag hatte der Layouter eine kleine Schere in eine Ecke samt einer
gestrichelten Linie gesetzt, die den Betrachter zum Ausschneiden anregen sollte.
»Nun komm schon, ist doch alles halb so wild«, setzte Ella zu einem neuen
Beschwichtigungsversuch an. »Unten drunter steht, du heißt Finn und arbeitest in irgendeiner Autowerkstatt am Stadtrand. Die haben einfach die Geschichte von dem Kerl genommen, der ursprünglich für die Aufnahme geplant war und dann gekniffen hat. In Wirklichkeit weiß also keiner, dass du das bist.«
Endlich löste Gabriel den Blick von der Zeitung, und im nächsten Moment wünschte Ella sich, er hätte es nicht getan. Dieser Mann war sauer, richtig mächtig sauer.
»Ella«, sagte er so gefährlich leise, dass ihr Magen sich zu einem Knoten zusammenballte.
»Genug getrödelt, wir machen uns jetzt wieder an die Arbeit.« Mit einem Satz war sie an der Schleifmaschine, die problemlos ansprang, und verlor fast augenblicklich die Kontrolle über das schwere Gerät. Gabriel ließ die Zeitung fallen und eilte ihr zu Hilfe. Sogleich nutzte Ella die Chance zur Flucht.
»Ja, mach du das ruhig mit dem Abschleifen«, schrie sie gegen den Lärm der Maschine an.
»Ich kümmere mich unterdessen um Kimi, der ist ganz bestimmt fix und fertig mit den
Nerven, weil seine Mutter so gemein zu ihm war. Liv ist wirklich eine böse Person, aber wenigstens wissen sie und ihre Freundinnen, was heiß ist.«
Mit diesen Worten hastete Ella aus der Bibliothek, während ihr das Lachen in die Kehle stieg. Was trieb sie nur an, sich Gabriel gegenüber so schnippisch zu verhalten? Dass er wegen des Abdrucks nicht zu Freudentänzen aufgelegt sein würde, war schließlich klar gewesen. Mit der Art, wie er sich schützend zwischen sie und ihre Gift verspritzende Schwägerin gestellt hatte, machte er ihr schlechtes Gewissen allerdings noch schlimmer.
Denn dadurch hatte er gezeigt, dass sie ihm keineswegs gleichgültig war, was einerseits großartig, andererseits jedoch ziemlich verwirrend war. Schließlich hatte sie ihn für einen atemberaubenden und zugleich unnahbaren Mann gehalten.
Während Ella den Keller nach Kimi absuchte – ein Ort, den Liv aus Angst vor Dreck und ekligem Gewürm niemals betreten hätte –, musste sie an Gabriels Gesichtsausdruck denken.
Unwillkürlich wurden ihre Knie weich. Wie gut, dass er die Zeitung nicht vor Livs Angriff zwischen die Finger bekommen hatte, sonst hätte er es sich bestimmt anders überlegt und sie festgehalten, während ihre Schwägerin verbal auf sie eindrosch. Sicher würde sie dafür noch bezahlen müssen. Blieb nur zu hoffen, dass Gabriel sie auf angenehme Art und Weise zahlen ließ.
Als sie Kimi aufstöberte, verscheuchte sie ihre Grübeleien, denn es schien wohl alles andere als leicht zu werden, ihren Neffen aus dem Abgrund zu ziehen, in den seine Mutter ihn willentlich gestoßen hatte. Behutsam setzte sie sichneben Kimi auf die halb verrottete Holzkiste und legte einen Arm um ihn, was er zu ihrer Überraschung zuließ. Obwohl sie in dem spärlichen Licht, das durch die Kellerfenster einfiel, sein Gesicht nicht sehen konnte, erkannte sie am Beben seiner schmalen Schulter, dass er weinte.
»Ich hasse dieses Drecksstück«, sagte Kimi kaum hörbar.
»Ach, sag so etwas nicht. Damit tust du dir nur weh.«
»Und wenn schon? Kümmert doch niemanden.«
»Falsch, ganz falsch. Mich kümmert es.«
Ella wusste, dass das nur ein schwacher Trost war. Die einzige Person, die Kimi von
diesem selbstzerstörerischen Gefühl hätte befreien können, wäre Liv gewesen. Nur hatte die sich bedauerlicherweise dazu entschlossen, einen Feind in ihrem Kind zu sehen. Wie hält sie das nur durch?, fragte Ella sich, während Kimi vor Anstrengung, ein Schluchzen zu
unterdrücken, am ganzen Körper zu zittern begann.