Kapitel 33
Das fehlende Puzzlestück
Liv lag ausgestreckt auf dem weißen Ledersofa im Wohnzimmer. Draußen
wurden die Schatten langsam länger, und mit der abnehmenden Hitze kehrte das Leben
zurück, doch das interessierte sie nicht. Die Rollläden blieben unten, sie wollte nichts sehen und hören. Ihr Kopf dröhnte schon den ganzen Tag, und die Unruhe, die Sören nach dem gestrigen Abend befallen hatte, tat ihr Übriges. Sein Herumgelaufe trieb sie allmählich in den Wahnsinn.
»Es war falsch, direkt auf Angriff zu gehen«, erklärte Sören ihr wohl zum hundertsten Mal an diesem Tag. Er hatte die Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und die oberen Knöpfe geöffnet. Eigentlich gefiel er Liv, wenn er leger gekleidet war, aber heute konnten sie beide wenig mit solchen Empfindungen anfangen. Dafür war die Stimmung zu angespannt. Da hat man schon einmal einen freien Tag, und dann so was, dachte sie erschöpft.
»Was heißt hier Angriff? Es ist die reine Wahrheit, dass deine Schwester sich einen Gigolo angelacht hat. Nur weil ihr das nicht schmeckt, ist das doch nicht unser Problem.«
»Was ist denn überhaupt unser Problem? Wir interessieren uns nur für Ellas Belange,
wenn es etwas anzukreiden gibt. Wollen aber ansonsten mit ihrem Leben möglichst wenig zu schaffen haben. Und um Kimi kümmern wir uns auch nicht. Der hat uns regelrecht des
Hauses verwiesen, wenn man mal genau darüber nachdenkt. Der ist offenbar froh, uns los zu sein.«
Sören schlug einen erstaunlich nachdenklichen Ton an. Warum er ausgerechnet jetzt damit anfangen musste, sich über ihre Verantwortung als Eltern den Kopf zu zerbrechen, war ihr ein Rätsel. Schließlich hatte Kimi sich schon deutlich abweisender aufgeführt, ohne dass es seinem
Vater zugesetzt hätte. Entsprechend wenig Verlangen verspürte Liv, auf die
Angelegenheit einzugehen. »Ich kann nicht behaupten, dass ich ihm hinterhertrauere. Der Junge steht vollkommen neben sich«, wischte sie das Thema vom Tisch. Erst als Sören
daraufhin nichts erwiderte, raffte sie sich dazu auf, ihn eines Blickes zu würdigen, der über sein geöffnetes Hemd hinausging. Leider gefiel ihr der Ausdruck, mit dem er sie bedachte, überhaupt nicht. Das ist ja Verachtung, stellte sie fest. Was bildet der Kerl sich eigentlich ein?
»Weißt du, Liv, ich habe mich immer an den Kurs gehalten, den du vorgegeben hast, und bin damit stets gut gefahren. Du hast einen Traum gehabt, und ich wollte daran teilhaben.
Wir wollten uns etwas aufbauen, etwas Großes, etwas,das für uns steht. Mit der
Werbeagentur haben wir das ja auch durchaus geschafft, aber im Grunde ging es uns doch um mehr. In der letzten Zeit habe ich allerdings das Gefühl,als ob das alles ist, was zählt, und der Rest von unseremLeben nur lästiger Ballast ist … Wann hat das eigentlich angefangen, dass dich dein ursprüngliches Ziel nicht mehr interessiert?«
Nun wurde Liv langsam wütend. »Was für ein Ziel? Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst. Mein Leben ist ein Traum, zumindest wenn mir die Männer meiner
Familie nicht gerade den letzten Nerv rauben.«
»Nun ja, einen von uns hast du schon erfolgreich vergrault. Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung, wie wir den Graben zwischen Kimi und uns überbrücken sollen.«
»Der Junge heißt Konstantin«, wies Liv ihren Mann ungehalten zurecht. »Das ist ja nicht auszuhalten.«
Kopfschmerzen hin oder her, sie sprang vom Sofa auf und schritt an Sören vorbei ins
Schlafzimmer, wo es ohnehin viel kühler war. Als Sören jedoch nach einer halben Stunde noch nicht aufgetaucht war, um sich wieder mit ihr zu versöhnen, wie es ansonsten seine Art war, fühlte sie eine leichte Beunruhigung. Wann hast du eigentlich dein Ziel aus den Augen verloren?, hatte er sie gefragt. Was konnte er damit gemeint haben? Obwohl ihr nicht danach zumute war, begann sie in ihrer Erinnerung zu forschen und fand … nichts. Nicht diese Art von Nichts, die bewiesen hätte, dass Sören dummes Zeug redete, sondern eine Leerstelle, die sie wortwörtlich ertasten konnte. Bei der Berührung tat sich ein Phantomschmerz auf, obwohl sie nicht wusste, was sie verloren hatte. Wenn sie Sören Glauben schenkte, dann war ihr ein Traum abhandengekommen, eine Vision, dass ihre Familie ihrem Ehrgeiz zum Trotz zusammengehalten hatte. Warum war ihr das nie zuvor aufgefallen?
Hastig ging Liv die letzten Jahre durch, verglich sie miteinander. Sie war nie eine Mutter aus Leidenschaft gewesen, aber sie hatte ihren Sohn trotzdem geliebt und versucht, ihr Bestes zu geben. Dann irgendwann hatte das nachgelassen,
es war, als könnte sie
Konstantin gar nicht wirklich mehr sehen … aber nicht nur ihn. Auch die Gefühle, die sie früher für Sören gehegt hatte, waren vielschichtiger gewesen, zumindest glaubte sie das. Je länger sie darüber nachsann, desto deutlicher wurde ihr, dass sie – gemessen an ihrer Erinnerung – unvollständig war. Etwas war ihr verloren gegangen, eine Idee oder eine Seite ihrer Persönlichkeit. Aber sie wusste weder, um was es sich dabei handelte, noch, was geschehen war.
Während sie ihre Vergangenheit durchforstete, hörte sie das Telefon klingeln und Sören ein Gespräch führen. Obwohl sie in ihre eigene Welt versunken war, drang zu ihr durch, dass Konstantins schrecklicher Spitzname fiel, und sie krümmte sich innerlich. Es war leichter, sich darüber aufzuregen, als diesem Mysterium auf die Schliche zu kommen. Also ging sie in die Diele, wo Sören gerade das Telefonat beendete.
»Wer war das?«, fragte sie so kühl wie möglich. Sören brauchte ihr ja nicht unbedingt anzumerken, in welches Durcheinander er sie mit seiner Behauptung gestürzt hatte.
»Das war Ella«, erklärte Sören, ohne sich umzudrehen. »Sie sagt, sie wird versuchen, Kimi zu einem gemeinsamen Gespräch mit mir zu überreden. In ein paar Tagen, im Augenblick sei er zu aufgewühlt und darüber hinaus gerade bei einer Freundin.«
Liv hatte so eine Vermutung, um welche Freundin es sich dabei handelte. Eine gewisse junge Dame, der ganz Sandfern in die Latzhose gelinst hatte. Ella hatte ihren Sohn wirklich in eine großartige Gesellschaft eingeführt, ganz wunderbar. Allerdings hielt sie diesen Kommentar besser zurück, denn Sören strafte sie weiterhin mit Missachtung, was wirklich untypisch für ihn war. Normalerweise ertrug er Spannungen zwischen ihnen nicht und war stets darauf bedacht, sie zu überspielen, wenn er sie schon nicht aus der Welt schaffen konnte.
»Das war alles falsch, unser gesamtes Verhalten gegenüber Kimi«, erzählte er dem
Telefon, das er in der Hand wog. »Dabei habe ich wirklich geglaubt, dass es besser ist, ihm aus dem Weg zu gehen, solange er in dieser schrecklichen Phase ist. Nein, eigentlich wollte ich mich nicht mit seinen Spinnereien auseinandersetzen. War mir zu anstrengend. So haben wir das ja beide gesehen. Andere Dinge in unserem Leben waren wichtiger. Komisch, dass ich den Fehler erst jetzt erkenne.«
»Lass mich raten: Ella hat angerufen und dich aufgeklärt. Mensch, Sören, das ist so
armselig, du bist wirklich zu keinem eigenständigen Gedanken fähig.« Liv wusste, dass es ein Fehler war, zu beißen, anstatt auf ihn einzugehen. Aber sie konnte nicht anders. Es war, als fehle ihr das entsprechende Instrument für einen Kurswechsel. Hart, aber im
entscheidenden Moment herzlich – so war sie früher gewesen. Nun nicht mehr.
Endlich drehte Sören sich um. Er strich sich durchs Haar und brachte es dadurch heillos durcheinander. »Kann durchaus sein, dass du recht hast. Mit dem eigenständigen Denken in Familienbelangen ist es bei mir in der Tat nicht allzu weit her. Wie dem auch sei, ich habe Ella auf Kimi angesprochen. Sie hat eigentlich wegen etwas ganzanderem angerufen. Ich weiß nicht, warum, aber meinen Ausfall gestern Abend hat sie mit keinem Wort erwähnt.«
Das erstaunte selbst Liv. »Was hat sie denn dann gewollt?«
»Sie wollte die Privatadresse von Bernadette haben. Vermutlich ist ihr bezaubernder
Gabriel nach seiner Bloßstellung verschwunden, und sie will bei Bernadette nachfragen, ob sie weiß, wo er steckt. Schließlich verbindet die beiden doch eine Art geschäftliche Beziehung miteinander, um es mal diplomatisch auszudrücken. Warum bloß haben wir nicht unseren Mund gehalten?«
Liv brummte nur ausweichend. Die Erwähnung von Bernadettes Namen hatte ein
Steinchen ins Rollen gebracht, und während es die Stationen ihrer jüngeren Vergangenheit entlangrollte, begriff sie langsam, wo es liegen bleiben würde: bei dem Moment, in dem Liv einen Teil ihres Selbst verloren hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es war zur gleichen Zeit passiert, als sie Bernadette kennengelernt hatte. Konnte das ein Zufall sein?