Kapitel 2

Baustelle

Das Ergebnis des Rundgangs schlug Ella heftig aufs Gemüt. Das Haus war

übersät mit Spuren der Verwahrlosung. Nässe war durch das defekte Dach und die

gesprungenen Fenster eingedrungen, sodass sich in einigen Räumen Schimmel an den

Wänden abzeichnete und sich das Fischgrätparkett wellte. Leider war es mit diesen Schäden nicht getan. Langsam wurde Ella klar, was ihr Vater, der diesesSchmuckstück geerbt hatte, ihr die ganze Zeit durch die Blume hatte sagen wollen: An der Villa war seit Jahrzehnten nichts

mehr gemacht worden. Als Kind war ihr nie aufgefallen,

dass die altertümlich

aussehenden Lichtschalter aus Porzellan tatsächlich altertümlich waren und die Kachelöfen in den Zimmern nicht bloß urig anmuteten, sondern im Winter die Wärmeversorgung

gewährleisteten. Leitungen für Heizungen waren anno 1912 nicht vorgesehen gewesen. So schön die Villa auch war, sie war ein Fall für eine Komplettsanierung.

»Totale Katastrophe«, fasste Ella es zusammen.

Sie hatten den Rundgang in der großräumigen Küche beendet, wo sie nun mit zitternden Fingern am Messingknauf des Wasserhahns drehte. Zu ihrer Erleichterung floss nach

einigem Keuchen und Schnaufen tatsächlich Wasser, das nach und nach obendrein seine

rostige Farbe verlor. Ella ließ es über ihre Handgelenke fließen, um sich zu beruhigen, und traute sich schließlich sogar, davon zu trinken. Kimihatte sich auf die hölzerne Anrichte gesetzt und baumelte mit den Beinen. Sein Augen-Make-up war leicht zerflossen, was ihn noch merkwürdiger aussehen ließ.

»Was hast du erwartet?«, fragte er. »Wenn der Laden eine einfache Nummer wäre, dann

hätte Sören ihn sich sofort unter den Nagel gerissen. Das hat schon seinen Grund,dass wir nach Großtante Wilhelmines Tod weiterhin in diesem modernen Mistbau hausen, der nach Livs Visionen erschaffen worden ist, anstatt hier einzuziehen. Was so vielcooler wäre.«

»Versteh mich nicht falsch, Kimi. Aber irgendwie irritiert es mich, dass du deine Eltern ständig beim Vornamen nennst. Das klingt so distanziert.«

»Genau das soll es ja auch«, erklärte er frei heraus. »Also, das Wasser läuft, aber der Strom, den musst du erst einmal anmelden. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob die alten Kabel das packen, wenn da wieder einige Volt durchjagen. Die sind garantiert so morsch wie der ganze Rest von den Installationen. Das solltest du vorher checken lassen, ansonsten fackelt noch die ganze Bude ab. Shit, die Villa ist echt ein Wrack.«

»Ja, reib es mir ruhig unter die Nase.« Ella wischte sich ihre nassen Hände an der Jeans trocken und sehnte sich plötzlich nach einem extragroßen Schokoladeneis. Am besten in einer netten Eisdiele, ganz weit weg von dieser Baustelle und ihrem gnadenlos ehrlichen Neffen. »Ich habe mir zwar schon gedacht, dass an der Villa einiges gemacht werden muss.

Mir steht sogar ein gewisses Budget zur Verfügung, das für ein paar Eimer Wandfarbe und die eine oder andere Schönheitsreparatur reichen dürfte. Aber das hier sieht eher nach einem Fass ohne Boden aus. Das ist ja eine Lebensaufgabe, die Villa wieder in Schuss zu bringen. Dabei muss ich zusehen, dass ich meinen Fotojob zum Laufen kriege. Oh, Mann.«

Es kostete Ella Mühe, sich am Riemen zu reißen, anstatt sich den angestauten Frust aus dem Leib zu schluchzen. Trotzdem war ihr der Kummer wohl anzusehen, denn Kimi begann, unruhig auf dem Hintern herumzurutschen. Offenbar war er nicht ganz so abgebrüht, wie er sich gab.

»Ist doch alles halb so wild. Lass von der Kohle, die du hast, das Dach und die

Fensterscheiben ausbessern. Und was die Elektrik betrifft, vertrauen wir einfach mal auf den lieben Gott, und sobald wir gründlich klar Schiff gemacht haben, sieht die Welt ganz anders aus.«

»Moment mal. Sagtest du wir

Augenblicklich grub sich eine steile Falte zwischen Kimis schwarz nachgezogene

Augenbrauen. Diese Mischung aus Trotz und Verletzlichkeit ließ ihn wie den

Fünfzehnjährigen aussehen, der er eben war.

»Ist ja nicht so, als ob dir jede Menge Hilfe zur Verfügung steht. Du wirst wohl oder übel mit mir vorliebnehmen müssen. In ein paar Tagen beginnen die Sommerferien, undeigentlich wollte ich ein paar Städte abtrampen. Falls du mich also nicht brauchst – ich weiß schon etwas mit miranzufangen.«

»Quatsch, nein!«, beeilte Ella sich zu antworten. »Das ist ein total lieber Vorschlag von dir.

Außerdem freue ich mich sehr, wenn du Zeit mit mir verbringen willst. Ich bin doch ein kompletter Familienmensch, und mir fehlen meine Eltern bereits jetzt furchtbar.«

»Deine Eltern sind ja auch nett«, stimmte Kimi ihr zu, ein Geständnis, bei dem sich seine Wangen sofort rot färbten. Mit einem Satz sprang er von der Anrichte herunter und setzte sogleich einen betont lässigen Gesichtsausdruck auf. »Ich schlage vor, wir fahren jetzt runter in die Stadt, essen was in meiner Stammpizzeria und tüfteln einen Schlachtplan aus.«

Zuerst nickte Ella, doch dann hielt sie inne. »Moment. Wieso fahren, womit denn?«

Kimi sah sie an, als hielte er ihre Begriffsstutzigkeit für pure Denkfaulheit. »Mit meinem Fahrrad natürlich. Oder sehe ich etwa so aus, als ob ich schon einen Führerschein hätte?«

»Nein, so siehst du überhaupt nicht aus.« Die kleine Stichelei konnte Ella sich nicht verkneifen. »Was hältst du davon, das Fahrrad zu schieben, und ich spaziere neben dir her?«

»Gar nix. Ich habe mich doch nicht umsonst mit dem Bike den Hügel hochgequält, da will ich jetzt auch was davon haben. Die Allee fällt so geil ab. Du faltest einfach dein klappriges Gestell zusammen, setzt dich auf die Querstange, und dann sausen wir los.« Ella war gerade noch damit beschäftigt, seine Beschreibung ihrer Figur als »klappriges Gestell« zu verdauen, als Kimi schon zum Nachschlag ansetzte. »Nimm doch gleich ein paar Sachen mit, dann

kannst du heute Nacht bei mir pennen. Liv wird vielleicht ein Gesicht machen, wenn ich mit dir im Schlepptau auftauche. Die hat Sören nämlich die ganze Zeit damit in den Ohren gelegen, dich übergangsmäßig in einem Hotel einzuquartieren. Und zwar nicht, weil sie dich so gernhat. Verstehste?«

Ella schluckte, obwohl sie keineswegs erwartet hatte, dassihre Schwägerin sie mit offenen Armen empfing. Zwischen Liv und ihr lagen nicht bloß Welten, sondern ganze Galaxien.

»Nein danke. Darauf, Liv mit meiner Anwesenheit den Abend zu ruinieren, kann ich gut verzichten. Ich bin ohnehin davon ausgegangen, dass die Möbel noch nicht da sind, und habe mir vorsorglich einen Schlafsack mitgebracht.«

»Und morgen früh badest du in der Regentonne im Garten, oder was?« Die Enttäuschung

war Kimi anzusehen. Vermutlich hatte er sich bereits ausgemalt, wie er dank Ella zum Generalschlag gegen seine Eltern ausholte.

»Wer bei dir auf dem Fahrrad mitfährt, der kann auch in Regentonnen baden«, hielt Ella dagegen und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie ihre gute Laune

wiedergefundenhatte. Schließlich war es sinnlos, den Kopf hängen zu lassen, bevor sie das Problem überhaupt angegangen war. Letztendlich hatte Kimi sogar recht. Die Villa musste ja nicht von heute auf morgen auf Hochglanz poliert werden. Es reichte schon, wenn sie nicht über ihr zusammenbrach. Außerdem versprühte so eine marode Schönheit auch Charme …

irgendwie.

-

Kimis Stammpizzeria erwies sich als düsteres Kellerlokal, das den Eindruck erweckte, hier würden eher mit verbotenen Substanzen versetzte Drinks serviert als Pizza und Pasta. Auch die paar Gäste, die sich jetzt am frühen Abend hier schon tummelten, unterstrichen diesen Eindruck. »Nachtgewächse« nannte ihre Mutter Selma solche Gestalten mit einem

Augenzwinkern. Offenbar waren Lack- und Lederoutfits eine vom Zeitgeist vollkommen

unabhängige Angelegenheit, genau wie das allseits beliebte Schwarz. Das war doch mal etwas anderes als die immerzu praktisch gekleideten Menschen Marke Journalist oder

Weinbauer, von denen sie die letzten Jahre umgeben gewesen war. Entgegen dem ersten

Eindruck stellte Ella rasch fest, dass es sich bei dem Kellerloch ungelogen um eine Pizzeria handelte, in der überraschend gutes Essen zubereitet wurde. Aber selbst als die wunderbar duftende Pizza vor ihr auf dem Tisch stand, brauchte sie noch einen Moment, bis sie auch davon probierte, denn ihr war nach wie vor ein wenig schummrig.

Die Fahrradfahrt den Hügel hinab war nämlich besonders abenteuerlich gewesen, weil Kimi die Meinung vertrat, die vielen Kurven mit Highspeed nehmen zu müssen – ganz nach dem Motto: Verschwende dein junges Leben. Obwohl Ella mehrmals der festen Überzeugung gewesen war, gleich sterben zu müssen, war sie schließlich mit einem überdrehten Lächeln von der Querstange gestiegen.

Die dampfende Gorgonzola-Pizza zauberte nun abermals ein Lächeln auf ihr Gesicht. In der Nähe von VinesGrey gab es zwar ebenfalls eine Pizzeria, aber was dem Gast dort

vorgesetzt wurde, hatte mit der italienischen Küche wenig gemein. Vermutlich lag es daran, dass der Besitzer aus Japan eingewandert war und Käse für eine europäische Perversion hielt. Entsprechend begeistert verleibte sie sich die Stücke ein, sobald sie ihre Sinne wieder beisammenhatte, während Kimi seine Veganer-Pizza weitgehend ignorierte und stattdessen Pläne schmiedete. Dabei kam es ihr so vor, als hätte er nur darauf gewartet, dass sie endlich in Sandfern auftauchte, damit sie sich gemeinsam auf das Projekt stürzen konnten.

»Also, morgen fangen wir an, wie die Weltmeister zu putzen …«, brachte Ella zwischen zwei Bissen hervor.

»Genau, und ich sorge für Musik. Sonst geht das nicht. Schließlich müssen wir trotz der Hitze schon auf kalte Getränke verzichten. Meinst du, dieser Monsterkühlschrank von Tante Wilhelmine ist auch eingelagert worden? Den fand ich nämlich immer super abgefahren. Der hat so keuchende Geräusche von sich gegeben, richtig schaurig, als würde ein Geistden Motor ankurbeln.«

Trotz vollem Mund musste Ella lachen. Kimi hatte wirklich Fantasie. Es war so leicht, mit ihm zu plaudern, wenn er erst einmal seine Deckung aufgab. Richtig niedlich sah er mit dem Glitzerstaub aus, der von seinen Haaren auf seine Nasenspitze gewandert war. Gerade als sie ihn darauf aufmerksam machen wollte, tauchten drei Bekannte von ihm auf, die alle älter und ebenfalls im typischen Look dieser Pizzeria zurechtgemacht waren. Was sind das bloß für Leute?, fragte Ella sich. Jedenfalls wechselte Kimi fließend vom begeisterten

Pläneschmieder zur coolen Socke, die kaum die Zähne auseinanderbekam.

»Das ist Ella, sie ist gerade aus Australien angekommen. Sie ist Fotografin«, erklärte er seinen Freunden, ohne jedoch Ella deren Namen zu verraten.

»Und außerdem bin ich seine Lieblingstante. Nicht wahr, Knuddelbärchen?«, fügte Ella zuckersüß lächelnd hinzu. Bevor sie sich über Kimis entsetztes Gesicht amüsieren konnte, klingelte ihr Handy. Die Nummer verriet, dass es Sören war. Ella drückte Kimi ein paar Geldscheine für ihre und seine Pizza in die Hand und sagte: »Wir sehen uns morgen beim ersten Hahnenschrei, ja?« Sobald Kimi genickt hatte, nahm sie das Gespräch an und sah zu, dass sie den Ausgang aus dem Laden fand.

»Hallo, Ella«, schoss Sören sofort los, ehe sie sich auch nur melden konnte. »Bist du gut angekommen? Mann, das tut mir so was von leid, dass ich dich nicht vom Bahnhof abgeholt habe. Mir ist etwas Geschäftliches dazwischengekommen. Sehr wichtige Sache. Ist immer noch voll im Gange. Wir haben gerade noch ein Essen laufen, ich habe gesagt, ich gehe mal eine rauchen. Jetzt stehe ich draußen rum und schwitze mich halb tot in diesem blöden Anzug. Vorher war die ganze Zeit so viel los, dass ich wirklich nicht dazu gekommen bin, dich anzurufen. Tut mir leid. Ich weiß kaum, wo mir der Kopf steht. Es ist …«

Sören musste Luft holen, und Ella nutzte die Gelegenheit, ihm ins Wort zu fallen. »Ist schon in Ordnung. Mir geht esgut. Ich war gerade mit Kimi Pizza essen und werde noch einwenig am Pier spazieren gehen, bevor ich in die Villa zurückkehre. Hör mal, Sören, morgen ist Samstag, da stehen doch sicherlich keine irre wichtigen Jobs für dich an. Da sollten wir zwei uns einmal in Ruhe zusammensetzen und darüber sprechen, in welchem Zustand Tante

Wilhelmines Villa ist.«

Diese Forderung überging Sören glatt, stattdessen sagte er: »Du kannst unmöglich da

schlafen! In der Villa gibt es weder Strom noch Wasser.«

»Doch, Wasser gibt es.«

»Das kann nicht sein. Ich habe das Wasser schließlich …« Ein unterdrücktes Stöhnen.

»Ach, Mist. Ich habe vergessen, es abstellen zu lassen.«

Eine unangenehme Gesprächspause entstand. Ihr Bruder

mochte mit seinen

sechsunddreißig Jahren eindeutig der Ältere sein, aber was die Reife anbelangte, lagen sie allem Anschein nach nicht sonderlich weit auseinander. Oder vielleicht doch, weil Ella so eine Nachlässigkeit nicht untergekommen wäre. Obwohl sich die Wärme des Tages noch

zwischen den Häusern der Innenstadt hielt, fröstelte sie.

Mit Mühe gelang es Ella schließlich, die aufsteigendeFrustration zu überspielen. Allerdings nur mäßig. »Genau deshalb möchte ich mich morgen mit dir treffen, um herauszufinden, was du sonst noch alles so vergessen oder versäumt hast.«

»Schau mal, Ella. Ich verstehe ja, dass du wütend bist, aber

wenn du meinen

Lebenswandel besser kennen würdest, dann könntest du verstehen, wie wahnsinnig viel

Energie ich in meine Werbeagentur stecke. Da lässt es sich nun einmal nicht vermeiden, dass andere Dinge manchmal auf der Strecke bleiben.«

Wie dein Sohn zum Bespiel, dachte Ella bitter.

Sie kniff sich ins Nasenbein und gestand sich ein, dass es sinnlos war, mit Sören am Telefon zu streiten. Der Tag war lang, anstrengend und voller Überraschungen gewesen.

Außerdem mochte sie ihren Bruder, obwohl sie ihn offenbar nicht so gut kannte, wie sie gedacht hatte. Wie auch? Sören entstammte der ersten Ehe ihres Vaters und war längst ein Teenager gewesen, als sie auf die Welt gekommen war. Da erbei seiner Mutter lebte, hatte sie ihn immer nur auf Familienfesten und im Sommer in Sandfern getroffen, und seit ihre Mutter Selma das Familienweingut im Hunter Valley übernommen hatte, sogar noch seltener.

Nun konnte sie Sörenschlecht vorwerfen, dass er ihre Erwartungen an einen großenBruder nicht erfüllte. Dass er die Villa trotz seiner Versprechen hatte verkommen lassen, stand auf einem anderen Blatt,aber das wollte sie gern mit ihm klären, wenn er vor ihr stand.

»Wir können morgen zum Frühstück ein Picknick im Garten veranstalten. Den musst du dir unbedingt ansehen: Da gedeihen die schönsten Blumen, und es duftet so gut, dass man am liebsten nur dasitzen und mit geschlossenen Augen tief einatmen möchte. Das ist Balsam pur für die geschundene Werbemenschenseele.« Begeisterung war etwas, wovon Sören sich

nur allzu gern anstecken ließ. Deshalb war es keine große Überraschung, als er zustimmte.

»Dann starten wir beide also mit einem Picknick! Ich habe rostiges Leitungswasser zu bieten, und du bist fürs Essen verantwortlich. Ich erwarte dich bei Sonnenaufgang.«

»Ella, du kannst wirklich nicht in der Villa schlafen. Nun sei doch nicht so stur.«

»Ich bin es nicht, wenn du es nicht bist. Außerdem wäre es gut, wenn du Besen, Eimer und anderes Putzzeug mitbringst. Ach ja, und eine Extraportion Tatendrang wäre auch nicht verkehrt. Also, dann bis morgen früh.«

Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, blickte sie sich in der schmalen Seitenstraße um, in der Kimis Pizzeria No. Uno lag, und ließ den Tag Revue passieren. Was gar nicht so leicht war. Zu viel war passiert, vor allem Unerwartetes. Seit ihrer Ankunft in Sandfern befand sie sich in einem steten Wechselbad der Gefühle: Zum einen steckte sie voller

Unternehmenslust, zum anderen gab es zu viele Hindernisse. Wie verlockend war da der Gedanke, bei ihren Eltern anzurufen und ihnen ihr Leid zu klagen. Leider hätte sie dadurch außer kurzfristiger Erleichterung nichts gewonnen. Ihre Eltern standen ihren Plänen ohnehin kritisch gegenüber und hätten es lieber gesehen, dass sie sich für ihren Start als

selbstständige Fotografin wenn schon nicht eine nahe gelegene Stadt, dann doch wenigstens eine auf demselben Kontinent ausgesucht hätte. Wenn sie nun gleich am ersten Tag anrief und herumjammerte, würden ihre Eltern sich mehr Sorgen machen, als die Sache wert war.

Außerdem schuldete sie es sich selbst, die Situation aus eigener Kraft zu meistern. Das wäre der Beweis dafür, dass ihre Entscheidung, nach Sandfern zu gehen, richtig gewesen war.

Was Ella jetzt dringend brauchte, war eine Prise von dem alten Sandfern-Zauber, der die Sommer ihrer Kindheit zum Glänzen gebracht hatte, denn dann ginge es ihr augenblicklich besser. Sie ließ die Innenstadt mit ihren Cafés und Geschäftshäusern hinter sich und hielt auf den kilometerlangenPier zu, der in Richtung Landesinnere von lauter altehrwürdigen

Gebäuden

gesäumt

wurde,

in

denen

seit

Urzeiten

Hotels,

Jachtclubs

und

Schifffahrtsbehörden samt einem Meeresinstitut untergebracht waren. Hinter ihnen ragte der begrünte Hügel auf, den Kimi mit ihr wie ein Kamikaze auf zwei Rädern hinabgesaust war.

Am Pier konnte man sich am ehesten vorstellen, wie Sandfern zu Beginn des 20.

Jahrhunderts ausgesehen hatte – oder auch nicht, denn ein Großteil des ursprünglichen Stadtkerns mit seinen Fachwerkhäusern, in denen die Familien der einfachen Schiffsleute, Lagerarbeiter und sonstiges Volk gewohnt hatten, war dem Krieg zum Opfer gefallen. An ihrer Stelle war die heutige Innenstadt errichtet worden.

Allerdings interessierten Ella an diesem lauen Sommerabend weder die Gebäude noch die vielen

Spaziergänger,

dievon

Eis-

und

Getränkeverkäufern

umsorgt

wurden,

derenVerkaufsschlager dieses Jahres offenbar eisgekühlte Flaschen mit einer giftgrün schäumenden Flüssigkeit war. Der angeheiterten Stimmung nach, in der sich die meisten befanden, musste es sich um etwas Hochprozentiges handeln. Für Ella zählte in diesem Moment nur der Blick auf die Bucht, die nach rechts fast einen Halbkreis bildete. Sie sog den Anblick der unzähligen kleinen, vor Anker liegenden Segelschiffe und der beeindruckenden Ozeandampfer genauso auf wie den des offenen Meeres hinter der Bucht. Sandfern mochte nur eine mittelgroße Stadt und damit entsprechend langweilig sein, aber ihr Hafen machte all das wieder wett. Wie immer erinnerte die sanft geschwungene Bucht Ella an einen Rahmen, dessen Bild die Ferne zeigte. Diese Vorstellung hatte sie stets weitaus mehr begeistert als all die Großstädte, die sie mit ihren Eltern besucht hatte. Für sie gab es keinen anderen Ort, der über so viele Gesichter verfügte wie Sandfern. Lauter Gesichter, die für sie alle wunderschön waren.

Die Kamera in den Händen, wanderte Ella am Pier entlang, ganz gefangen vom Lichtspiel der untergehenden Sonne, und hätte dabei fast überhört, dass jemand nach ihr rief. Zögernd und mit einem dicken Fragezeichen am Ende. Auf der Suche nach der Frau, die sie bei ihrem Namen genannt hatte, musterte Ella mehrere Gesichter, bis ihr Blick an einem hängen blieb, das ihr vertraut und gleichzeitig fremd vorkam.

»Nora, bist du das? Trägst du die Haare jetzt blond? Und so kurz … Wow.«

Die Angesprochene löste sich aus einer Gruppe junger Frauen, die alle dieses ominöse grüne Getränk in den Händen hielten, und kam auf sie zu. Dabei setzte sie zwar ein Lächeln auf, das jedoch ein wenig schief geriet. Sie blieb gut zwei Schritte vor Ella stehen und spielte mit der halb leeren Flasche.

»Sieh an, das bist du ja wirklich. Ella Johansen. Was für eine Überraschung. Ich kann es gar nicht glauben, obwohl du dich kaum verändert hast, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Wie lange ist das her, zehn Jahre? Ich hatte schon fast deinen Namen vergessen.«

Der letzte Satz verpasste Ellas Wiedersehensfreude einen Dämpfer. Nora war ihre Kindheit lang ihre engste Freundin gewesen. Erst die Zeit und die Entfernung hatten die Freundschaft einschlafen lassen, was Ella offenbar mehr zusetzte als Nora.

»Ja, es ist wirklich schon lange her, zu lange.« Ella lächelte und wollte Nora eine Hand auf den Arm legen, als diese zurückschreckte. Es sah ganz danach aus, als würde sie heute nicht mehr zu einer freundschaftlichen Umarmung kommen. Menschen, die sie in bester

Erinnerung behalten hatte, benahmen sich ihr gegenüber seltsam distanziert. Warum nur?

»Ich habe versucht, dich zu erreichen, aber deine Telefonnummer muss sich geändert

haben, wie sicher vieles andere auch. Na ja, und im Netz habe ich dich leider nicht

aufstöbern können, obwohl man da ja mittlerweile selbst seine Freunde aus

Kindergartenzeiten findet.«

Nora fuhr mit der Zungenspitze über ihre von Lipgloss glänzende Oberlippe. »Dinge

ändern sich, zumindest wenn man nicht lediglich in seiner eigenen Welt lebt«, erklärte sie eine Spur herablassend.

Allerdings lag sie mit ihrer Aussage durchaus richtig. Denn aus der Nähe betrachtet, hatte diese junge Frau nur noch wenig mit dem Mädchen gemein, das in Ellas Vergangenheit eine so wichtige Rolle eingenommen hatte. Das lag nicht nur an den blondierten Haaren und den erwachsenen Gesichtszügen. Noras gesamtes Auftreten war das einer anderen, genau wie ihre verhaltene Reaktion. Die zwölfjährige Nora war zwar schüchtern, aber niemals

distanziert gewesen. Und sie hatte auch keine kleinen Giftpfeile abgeschossen.

Gehetzt warf Nora einen Blick über die Schulter zu ihren wartenden Freundinnen hinüber, dann sagte sie leise: »Mein Nachname hat sich geändert, aber bald werde ich meinen

Mädchennamen wiederhaben. Ich bin vor ein paar Tagen ins offizielle Trennungsjahr

gestartet, darauf stoßen wir gerade an.«

Ella konnte ein verblüfftes Blinzeln nicht unterdrücken. Hieß das etwa, dass Nora schon verheiratet war? Unmöglich, sie war nur knapp neun Monate älter. Und obwohl Ella

Gefühlsausbrüche wie das Verliebtsein nur aus Filmen kannte, bei denen sie in der Regel weiterzappte, tippte sie mal darauf, dass solche Nummern auch bei anderen Frauen ihrer Generation nicht zum Standardrepertoire gehörten. Sich den Namen des Liebsten auf

geheime Stellen tätowieren zu lassen – das war drin. Genau wie von Oslo nach Kapstadt zu ziehen, nachdem man ein einziges heißes Wochenende miteinander verbracht hatte. Aber wer heiratete denn heutzutage noch mit Anfang zwanzig?

»Okay, da habe ich ja allem Anschein nach echt was verpasst«, brachte Ella überrascht hervor.

»Nein, hast du nicht.« Nora sprach nun ganz leise und blickte erneut zu den anderen

Frauen, von denen eine auf ihre Armbanduhr deutete. »Soll ich dir meine neue

Handynummer geben? Ich bin gerade in eine Studenten-WG gezogen, da gibt es keinen

Festanschluss. Wenn du magst, kannst du dich ja mal melden. Du haust doch wohl nicht gleich wieder ab, oder?« Das klang nun wiederum sehr nach der alten Nora, die stets besorgt gewesen war.

»Überhaupt nicht«, sagte Ella und reichte Nora ihr Handy, damit sie die Nummer direkt eintippen konnte. »Ehrlich gesagt, habe ich sogar vor, in Sandfern heimisch zu werden. Ich übernehme die alte Villa von Tante Wilhelmine. Das heißt, wenn sie nicht über meinem Kopf zusammenbricht.«

»Na, wenn das mal kein Plan ist – aber du bist ja schon immer eine von der mutigen Sorte gewesen. Das Haus ist im Laufe der Jahre ganz schön heruntergekommen … Ich bin ein

paarmal dort gewesen und habe im Garten alten Erinnerungen nachgehangen.« Als habe sie zu viel verraten, schob Nora rasch nach: »Aber das ist schon lange her.« Dann rieb sie die Flasche zwischen ihren Händen, als könne sie sich nicht recht dazu durchringen, ob sie sich nun verabschieden oder sich weiterhin unterhalten sollte.

Eine ihrer Freundinnen nahm ihr die Entscheidung ab, indem sie ausgesprochen genervt rief: »Können wir jetzt weiter?«

»Ja doch!« Nora warf die Flasche kurzerhand über die Brüstung ins Meer. »Also, wenn dir danach zumute ist, meld dich einfach mal. Dann kannst du mir ja von deinem spannenden Bilderbuchleben im fernen Australien erzählen und ich dir von meiner bevorstehenden

Scheidung.«

Ella winkte Nora hinterher, obwohl diese sich bereits umgedreht hatte und zu ihrer Clique zurückkehrte.

Offensichtlich handelte es sich bei ihrer Freundschaft mit Nora ebenfalls um ein

Sanierungsprojekt, wobei ihr Instinkt ihr zuflüsterte, dass sie eher die Villa in Schuss setzte, als den Graben zwischen Nora und ihr zu überwinden. Ein undichtes Dach ließ sich als Problem recht schnell feststellen, aber der Grund, warum ihre Freundin ihr so fremd

geworden war, ließ sich nicht einfach benennen. Was habe ich nur falsch gemacht, dass sie so kühl ist?, fragte Ella sich.

Dann fiel ihr auf, dass sie auch diese Chance, einen Teil ihrer Rückkehr mit der Kamera einzufangen, verpasst hatte. Also lehnte sie sich über die Brüstung und knipste die dort dümpelnde Flasche, ehe sie im dunklen Wasser unterging.

Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
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