Kapitel 18

Was vom Tage übrig blieb

Ella irrlichterte auf der Suche nach einer Abdeckplane durchs Haus. Dann fiel ihr

ein, dass Kimi die zusammengerollte Folie neben der Eingangstreppe geparkt hatte,

nachdem ihm eine Flasche Terpentin darauf ausgelaufen war und der Gestank sie beinahe alle umgebracht hatte. Eigentlich nichts, was man so schnell vergisst, aber Ella war mit den Gedanken ganz woanders: Sie kreisten ständig um Gregor. Vor allem seine Reaktionen auf Nora, die in seiner Gegenwart überglücklich war, beschäftigten sie. Überglücklich, denn es hatte ganz den Anschein, als würden Noras Gefühle durchaus erwidert, wenn auch auf eine zurückhaltende Weise, die leicht zu übersehen war. Gregor war zwar genauso schweigsam, wie Nora ihn beschrieben hatte, aber er ignorierte seine künftige Exfrau keineswegs. Die Blicke, diesie in den letzten Stunden miteinander ausgetauscht hatten, ließen keinen Platz für Spekulationen, wie Ella befand: Gregor hatte einen Teil von ihrer Unterhaltung

mitbekommen, und was er gehört hatte, gefiel ihm – seinem verschmitzten Lächeln nach zu urteilen. Wenn da nicht der entscheidende Stein ins Rollen gekommen war, dann wusste es Ella auch nicht.

Was für ein großartiger, großartiger Tag!

Zumindest dachte sie das, bis sie den Motor des Mustangs hörte. Sie blieb mitten auf der Treppe stehen, und ihre Gedanken überschlugen sich, während Gabriel den Wagen auf dem Vorhof abstellte.

Und jetzt?, fragte Ella sich. Wie gehe ich jetzt mit ihm um, nachdem er mir von seinem Handel mit einem Inkubus erzählt hat?

Eine Frage, die sie sich definitiv schon früher hätte stellen müssen. Nur war es einfach nicht möglich gewesen, sich in dem Trubel einen ruhigen Augenblick abzuknapsen. Und

Hand aufs Herz: Besonders motiviert, über einen Inkubus nachzudenken, war sie ohnehin nicht. Allein der Name verursachte eine innere Unruhe, auf die sie gern verzichtete. Dass Gabriel in ihren Träumen wandelte, war eine Sache. Da gehörte er auch irgendwie hin. Aber ein Dämon, der im Schlaf über einen kam … Die bloße Vorstellung war verstörend, so wie es die Anziehungskraft des Spiegelrahmens gewesen war, der Ella die Wahrheit über Gabriel gezeigt hatte. Leider konnte sie sich nicht in den Gedanken flüchten, dass alles nur die Ausgeburt ihres von der Sommerhitze in Mitleidenschaft gezogenen Gehirns war. Dabei wäre es so leicht gewesen, denn die brütende Hitze und das flirrende Licht sorgten dafür, dass alles etwas irreal wirkte. Als wäre die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit in Auflösung begriffen. Ella wusste jedoch, dass es die Wahrheit war – dafür waren nicht einmal der Spiegel oder die Zauberblume notwendig gewesen. Die Wahrheit, dass die Traumwelt ein Reich war, das man betreten konnte, war nämlich schon seit ihrer Kindheit ein Teil von ihr. Es ängstigte sie jedoch, dass es von Dämonen beherrscht werden konnte.

Deshalb war ihr auch jede Ablenkung herzlich willkommen, und davon hatte es an diesem Tag reichlich gegeben: In aller Herrgottsfrühe eine Riesenauseinandersetzung mit Kimi, der ihre Ansage, dass es ab jetzt nichts Alkoholisches weder zum Frühstück noch zum

Mittagessen und in der Regel auch nicht zum Abendbrot geben würde, persönlich nahm.

Sein Diskussionsstil hätte jedem 68er-Stammtisch, der sich übers Spießertum ereiferte, zur Ehre gereicht. Ella jedoch behauptete sich, selbst als Kimi die richtig schweren Geschütze, wie das Recht auf Selbstbestimmung, anführte und ihr eine Zuchtmeisterin-Attitüde

unterstellte. Dann tauchte Nicki auf, und Ella schwitzte Blut und Wasser, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie dieses Mädel ablichten sollte, ohne dass sie wie ein waschechtes Playmate aussah. Das wäre einfach zu platt gewesen. Glücklicherweise kam Nicki die

rettende Idee, während ihre eigene Kreativität vollkommen blockiert war. Und zu guter Letzt platzte Nora auch noch mit ihrem Liebesgeständnis heraus.

Gabriel dagegen machte den Eindruck, als habe er sich durchaus den Kopf zerbrochen.

Die verhaltene Art, mit der er aus dem Wagen stieg und dann erst einmal unschlüssig gegen dessen Tür lehnte, sprach Bände. Er sah mitgenommen aus, und von seiner sprühenden

Ausstrahlung war nicht einmal ein Funke zu entdecken. Vielleicht hielt er es nach seinem Geständnis nicht mehr für nötig, den unbeschwerten Hans Guck-in-die-Luft zu geben.

Ehrlich gesagt, hatte Ella nichts gegen diesen Wandel. Denn Gabriels dunkle Seite, die sie erst an diesem Morgen kennengelernt hatte, übte eine unleugbare Anziehungskraft auf sie aus. Es lag nicht nur an dem Geheimnis, das er ihr offenbart hatte, sondern auch an der Art, wie er es getan hatte. Gabriel mochte vielen Dingen gegenüber eine entspannte, geradezu unbekümmerte Einstellung haben, aber wenn ihm etwas am Herzen lag, war er unbeirrbar.

Es war genau diese Zielgerichtetheit, die eine Tiefe seiner Persönlichkeit verriet, die Ella neugierig machte. Das – aber auch die Spur von Unberechenbarkeit. Solange sie nämlich nicht wusste, was ihm wichtig war, würde sie seine Reaktionen nie vorhersehen können.

Es gab ihr zu denken, als Gabriel ihr zur Begrüßung lediglich zunickte und sie dabei nicht einmal richtig ansah. Irgendwie ähnelte er dabei verblüffend einem geprügelten

Hund.

Automatisch kam Ella sich schuldig vor. Schließlich konnte er nicht ahnen, dass sie ihn jetzt keineswegs ablehnte und darüber hinaus verhältnismäßig gut mit der Traumwandler-Geschichte umgehen konnte, selbst wenn er ihr noch einige Erklärungen schuldete.

Unwillkürlich verspürte Ella den Wunsch, ihm die Last abzunehmen. Offen seine Gefühle zu zeigen, war wichtig. Wer zu lange stillhielt, verlor eher, als dass er gewann. Um das zu begreifen, musste man sich nicht erst Nora und Gregor anschauen.

»Gabriel, du kommst genau richtig!«

Ella lief auf ihn zu, doch als sie den panischen Ausdruck auf seinem Gesicht bemerkte, sah sie spontan von einer Umarmung ab. Gut, sagte sie sich, wir wollen es nicht gleich

übertreiben mit der Offenbarung unserer Gefühlswelt. Kann ja auch überfordern.

»Ob du es glaubst oder nicht, Noras zukünftiger Exmann ist ein gelernter Dachdecker. Er hat sich die Katastrophe angesehen und meint, es wäre alles nur halb so wild. Er würde es sogar umsonst reparieren, aber das will ich natürlich nicht. So ein Freundschaftspreis ist doch auch eine feine Sache. Jedenfalls ist er gerade im Spiegelzimmer zugange und könnte eine helfende Hand gebrauchen. Sprich: deine.«

»Im Spiegelzimmer?«, hakte Gabriel nach.

»Keine Sorge, den Rahmen haben wir vorher natürlich umgestellt. Dabei kam es zu keinen außergewöhnlichen Umständen, falls du verstehst, worauf ich hinauswill.«

»Nichts Ungewöhnliches also. Ist wirklich alles in Ordnung, Ella? Du wirkst ein wenig durch den Wind. Falls es wegen unseres Gesprächs heute Morgen ist …«

Ella winkte ab. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, damit komme ich schon zurecht.

Glaube ich jedenfalls … Ich bin schlicht überdreht, weil so wahnsinnig viel los gewesen ist, seit du weggefahren bist. Aber wie sieht es bei dir aus? Du machst einen ziemlich

mitgenommenen Eindruck. Außerdem hast du so eine komische rote Stelle am Hals, sieht aus wie ein Knutschfleck. Ist die Dame bei der Arbeitsvermittlung dir etwa zu nahe getreten, als du als Job ›Traummann‹ angegeben hast?«

Offenbar sagte ihm die Anspielung wenig zu, denn Gabriel schnaubte durch die Nase und wich ihrem Blick aus.

»Ich werde mal reingehen und sehen, wie ich diesem Dachdeckergott helfen kann.«

»Gabriel, warte. Das war doch bloß ein dummer Spruch.«

Ella griff nach seinem T-Shirt, um ihn festzuhalten, aber er reagierte nicht. Verdutzt blieb sie neben seinem Wagen stehen, dann hob sie die Hand und schnupperte an ihr. Bildete sie sich das ein, oder nahm sie den schwachen Duft eines fremden Damenparfüms wahr? Ja, da war was. Es duftete nach Opium und Moschus, wobei letztere Essenz wohl kaum aus dem Labor stammte. Gabriel roch nach einer Frau, die seine Nähe allem Anschein nach überaus genossen hatte.

Willkommen in der Realität, sagte sich Ella.

-

Endlich brach die Abenddämmerung an und brachte zumindest einen Hauch von Abkühlung.

Ella atmete durch.

Da wartete man monatelang auf die schönste Spanne des Jahres, und wenn es dann

endlich so weit war, war man plötzlich froh, wenn die Schatten am Abend länger wurden. Die Sehnsucht nach luftiger Kleidung und dem Duft von Sonnencreme auf der warmen Haut wich dem Wunsch, einige Meter gehen zu können, ohne gleich ins Schwitzen zu geraten. Zwar träumte Ella noch nicht von Spaziergängen im Schnee, aber sie stand kurz davor. Die Fülle des

Tages hatte sie erschöpft, und Gregor mit seinen ruhig ausgesprochenen, aber

nichtsdestotrotz beharrlichen Arbeitsanweisungen hatte das Letzte aus ihnen allen

herausgeholt. Als er sich an der Seite von Nora verabschiedet hatte, war Ella doppelt froh gewesen: Ihre Freundin strahlte, obwohl sie mit Gregor nichts anderes als ein paar

vorsichtige Lächeln ausgetauscht hatte. Außerdem bestand nun endlich die Chance, die Beine hochzulegen und zur Ruhe zu kommen.

Ruhe konnte Ella gut gebrauchen, denn da war einiges, über das sie dringend nachdenken musste: über die Macht von Träumen und noch mehr über Küsse, die man in ihnen tauschte

… über den fremden Geruch, den Gabriel an seinem Körper getragen hatte, und warum ihr das nicht gleichgültig war … aber auch darüber, warum er sich zurückzog. Daran, dass sie hinter sein Geheimnis gekommen war, konnte es doch allein nicht liegen? Im Garten hatte er seine Worte stark abgewägt und nicht mehr verraten, als sie ihm abverlangt hatte, aber jetzt mied er sie regelrecht. Als hätte es die vielen Neckereien und die Leichtigkeit, aber auch den Kuss im Traum nie gegeben. Erneut fragte sie sich, wie viel er überhaupt von ihren

Zärtlichkeiten mitbekommen hatte. Vielleicht war es für ihn nur ein Intermezzo auf dem Weg zu seinem eigentlichen Anliegen gewesen … Aber dafür war seine Erwiderung des Kusses zu leidenschaftlich gewesen, das konnte sie sich unmöglich eingebildet haben. Die

Anziehungskraft zwischen ihnen, die Art, wie Gabriel sich über sie gebeugt hatte, um noch etwas ganz anderes zu tun, als sie bloß zu küssen … das war echt gewesen, Traum hin oder her. Obwohl es nicht die beste Idee war, sah Ella zu ihm hinüber und musste feststellen, dass allein sein Anblick ausreichte, um ihr einen Stich zu versetzen.

Gabriel saß auf einem Klappstuhl neben ihr am Teich, die langen Beine ausgestreckt, die Hände hinterm Nacken verschränkt, und starrte ins Leere. Sie traute sich nicht, ihn zu fragen, welche Wolke sich vor sein Strahlen geschoben hatte. Sie fürchtete sich vor der Antwort und hatte außerdem keine Ahnung, wie sie ihn danach fragen sollte, ohne dass sich der Riss vertiefte. Das Spielerische zwischen ihnen gehörte der Vergangenheit an, und sie wusste nicht, auf welchem Parkett sie sich jetzt miteinander bewegten.

Nachdenklich ließ Ella einige Johannisbeeren, die Kimi in einem der Beete entdeckt hatte, zwischen ihren Zähnen zerplatzen. Ihre Geschmacksnerven konnten sich nicht entscheiden, ob der Saft süß oder mehr säuerlich war. Jetzt gegenEnde Juli waren die Früchte jedenfalls reif, der Geschmack des Sommers. Als Ella sich mit dem Zeigefinger über die Lippen fuhr, um nach Spuren des roten Saftes zu tasten, ertappte sie sich dabei, wie ihre Gedanken bei dieser Berührung erneut in Richtung Gabriel abdrifteten. Diese Lippen hatten seine berührt

… Voller Beunruhigung verdrängte sie das Bild. Das grenzte ja langsam an Besessenheit!

Begann sie sich etwa ernsthaft für einen Mann zu interessieren, der nicht bloß die Fähigkeit besaß, in Träume einzudringen, sondern darüber hinaus auch noch eine zweifelsohne heiße und aufreibende Zeit mit einer anderen Frau verbrachte?

Du hast Gabriel nicht gefragt, ob er in einer Beziehung ist, und jetzt ist es wohl zu spät dafür, gestand sie sich ein.

Eigentlich hatte sie ihn so gut wie gar nichts gefragt, einfach aus dem Grund, weil ihr diese Art von Neugierde fehlte. Bei ihrem ersten Treffen hatte Gabriel gesagt, er sei eben erst in Sandfern angekommen, und hatte nur vage darüber gesprochen, wie seine Pläne in dieser Stadt aussahen. Den Sommer vertrödeln, hatte er gesagt. Nicht mehr. Wahrscheinlich hätte sie nachfragen sollen, aber es hatte sich alles passend angefühlt, sodass sie die Leichtigkeit niemals mit Fragen wie »Kennst du schon jemanden in Sandfern?« und »Wie sah dein Leben denn bislang aus, besonders die private Ebene?« gefährden wollte. Sie hatte sich

eingebildet, ihn als Typ einschätzen zu können. Da hatte sie sich jedoch getäuscht, nicht nur was seinen Charakter anging, sondern auch was seine Lebensumstände betraf. Und da

schockierte es sie zu ihrer eigenen Verblüffung deutlich mehr, dass Gabriel eine andere Frau traf, als dass er sie in ihren Träumen besuchte. Auch wenn sie ihr ganzes Leben lang fest daran geglaubt hatte, dass der Garten hinter Tante Wilhelmines Villa ein verwunschener Ort war, war das keine Entschuldigung für ein solches Übermaß an bereitwilligem Akzeptieren von etwas Unmöglichem.

Unwillkürlich schluckte Ella.

Ja, sie war wirklich gut darin, das Unmögliche anzunehmen, und noch besser darin, es zu verdrängen. Während sich ein Prickeln auf ihrer Haut ausbreitete, blickte sie auf den Teich, dessen Oberfläche so glatt war, als wäre sie erstarrt. Wenn ich mich über sie beugen würde, was würde ich dann sehen?, fragte Ella sich. Vielleicht das Gleiche wie an dem Tag, als Gabriel einzog und mir sein Spiegelbild zublinzelte? Sein Spiegelbild oder doch ein anderer

… derjenige, mit dem Gabriel einen Pakt einging und den ich am liebsten vergessen möchte.

Das Prickeln auf Ellas Unterarmen verdichtete sich, bis es sich wie ein Film aus Eis anfühlte.

Hastig sprang sie auf und drehte ihren Stuhl so, dass sie mit dem Rücken zum Teich saß.

Sicher war sicher.

Unterdessen spielte Kimi, den die körperliche Arbeit nach seinem morgendlichen Ausbruch friedlich gestimmt hatte, an ihrer Esoline herum. Seine offenen Stiefel stemmte er gegen den Bottich, den Ella zuvor benutzt hatte, um ihre geschwollenen Füße im Wasser zu kühlen.

Nachdem sie ihm erlaubt hatte, ihre Kamera zu begutachten, war das Eis wegen des

Alkoholverbots endgültig gebrochen. Ein geringer Preis für einen Waffenstillstand, befand Ella, obwohl sich ihre Brust beim Anblick von Kimi mit ihrem heiß geliebten Baby

zusammenzog.

Er schien sich gerade die Aufnahmen von Nicki in Latzhosen anzusehen, denn er pfiff

begeistert. »Fantastische Titten«, brachte er es auf den Punkt. »Wie zwei überdimensionale Birnen.«

Verwundert legte Ella den Kopf schief. »Seit wann stehst du auf große Brüste?«

»Du etwa nicht?«

»Ich hätte gern welche, aber das ist was anderes.«

Kimi fing an zu kichern. »Siehst du, ich hätte auch gern welche.«

»Argh, Kimi, da kann einem ja ganz schwindlig werden.«

»Genau so fühle ich mich die ganze Zeit: vollkommen schwindlig, komplett durcheinander.

Wie bei einer Dauerachterbahnfahrt. Es ist so krank.«

Wenn das mal nicht das Ehrlichste war, das Kimi je von sich gegeben hatte. Und dabei sah er nicht einmal bekümmert aus, sondern eher, als genieße er den ganzen Wahnsinn, den die Pubertät mit ihm anstellte. Beneidenswerter Kimi, dachte Ella.

Gabriel lachte, während sein Blick in den Himmel gerichtet war, in dem die Schwalben ihre Loopings drehten. »Ihr beide seid wirklich nicht zu toppen«, erklärte er, das Lachen noch in der Stimme.

Vor Anspannung rutschte Ella bis auf die Kante ihres Stuhls, obwohl die sich unangenehm in ihre Schenkelunterseiten grub. Das war ihre Chance!

Nur leider kam Kimi ihr zuvor. »Oh, ist da jemand aufgewacht, nachdem er den halben Tag wie ein Zombie durch die Gegend gelaufen ist? Wie schön. Was hat dich denn

wiedererweckt, mein Freund? Lass mich raten: das Signalwort Titten, bei dem jeder

anständige Hetero hellhörig wird.«

Betont langsam löste Gabriel die Hände hinter dem Nacken, schrubbelte sich durchs Haar, ehe er Kimis herausfordernden Blick erwiderte. »Eigentlich war es mehr so der Gedanke an die Brüste deiner Tante und was von denen zu halten ist, der mir wieder Leben in meine müden Knochen eingehaucht hat.«

»Du denkst an Tante Ellas Brüste?« Kimi machte einen ernsthaft schockierten Eindruck.

Beinahe hätte Ella aufgelacht, weil er dem elf Jahre alten Konstantin in diesem Moment trotz des Glitzer-Make-ups verblüffend ähnlich sah. Dann sickerte auch zu ihr durch, was Gabriel gerade gesagt hatte, und sie stieß ein lautloses »Himmel noch eins!« aus.

»Tante Ellas Oberweite ist kein Thema. Das ist … unanständig.« Kimi schüttelte sich.

Ein breites Grinsen trat auf Gabriels Gesicht. »Tut mir echt leid, wenn ich dich mit diesem Geständnis vor den Kopf gestoßen habe. Ich habe ganz vergessen, wie prüde und

zurückhaltend du bist. Nimm es einfach als Anregung dafür, dass überdimensional«, dabei bildete er die Form zweier Medizinbälle mit den Händen nach, »bei der weiblichen Anatomie nicht zwingend umwerfend bedeuten muss. Manchmal ist weniger mehr.«

Nun rutschte Ella beinahe vom Stuhl. »Apropos weniger: Woher weißt du, wie meine

Brüste aussehen?«

»Bei den tief ausgeschnittenen Schlafshirts, in denen du herumläufst, brauche ich nicht großartig meine Fantasie zu bemühen.«

»Weil da nicht viel ist, willst du damit sagen.«

»Unsinn. Ich will damit sagen, dass das, was da ist, mir ausgesprochen gut gefällt.«

Kimi gab ein würgendes Geräusch von sich. »Das reicht! Kein Wort mehr, oder unsere

nette Runde hier wird durch den gegrillten Tofu vom Abendessen bereichert. Mein Magen ist im Moment echt empfindlich, also reißt euch bitte mit eurem Balzgehabe zusammen.«

»Du wärst also damit überfordert, wenn ich mich mal kurz mit einem Blick in den Ausschnitt deiner Tante überzeugen würde, ob mein Eindruck auch wirklich den Tatsachen entspricht?

Mensch, Kimi, nun tu mal nicht so zimperlich, du bist doch sonst so ein überzeugter

Grenzgänger.«

Kimis Blick wechselte wild zwischen Gabriel und Ella, während er abwog, ob er tatsächlich gleich Zeuge des angedrohten Schauspiels werden könnte. Als Gabriel Ella mit dem

Zeigefinger bedeutete, zu ihm zu kommen, und sie verlegen kicherte, entschied Kimi, es lieber nicht darauf ankommen zu lassen. Hastig sprang er auf und tapste dabei in den Wasserbottich. Mit einer Zornesfalte auf der Stirn hob er den tropfnassen Stiefel an.

»Ich gehe jetzt pennen. Und nur für den Fall der Fälle: Wenn tatsächlich etwas aus dem Schwachsinn werden sollte, den ihr beide hier abzieht, wagt es ja nicht, Tante Ellas Bett dafür zu benutzen. Das Gequietsche von dem antiken Stück würde man bestimmt durchs

ganze Haus hören, und darauf kann ich absolut verzichten.«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, brauste Kimi samt Esoline davon. Vermutlich würde Nicki in Latzhosen ihm das Einschlafen versüßen.

»Gut«, sagte Gabriel und lehnte sich, sichtlich zufrieden, zurück. »Ich dachte schon, den werden wir nie mehr los. Nach dem Alkohohlverbot solltest du dringend eine verbindliche Schlafenszeit für unser Sorgenkind festsetzen.«

»Ach, darum ging es dir bei dem ganzen Gerede also. Habe ich doch gewusst, dass du

kein wahres Interesse daran hegst, mir in den Ausschnitt zu schauen.« Ella musste lachen.

Die ganzen Dinge, über die sie sich eben noch den Kopf zerbrochen hatte, waren wie

weggezaubert durch Gabriels unverfrorene Taktik, Kimi ins Bett zu schicken. Dann wurde ihr bewusst, dass Gabriel sie schon einmal mit seinem Trick der Unbeschwertheit dazu gebracht hatte, keine Fragen zu stellen, sondern sich einfach nur mit ihm zu amüsieren. Auch so eine Taktik von ihm. Mit einem Schlag fühlte Ella sich ernüchtert, und an seinem Blick erkannte sie, dass ihm ihr Stimmungswechsel nicht entging. Warum sonst würde er sie wohl so

abwägend ansehen? »Gabriel …«, setzte sie an.

»Du irrst dich«, unterbrach er sie sofort.

»Du weißt doch gar nicht, was ich überhaupt sagen will.«

»Ich habe deinen Gesichtsausdruck gesehen: gerade noch belustigt und im nächsten

Augenblick brüskiert. Ich hätte sofort klarstellen müssen, dass ich mit meinem Gerede nicht nur Kimi vertreiben wollte, sondern dass es außerdem ernst gemeint war. Mir gefällt alles an dir, Ella. Ausnahmslos. Du kannst mir glauben, dass ich jederzeit daran interessiert bin, mich näher mit dem Inhalt deines Shirts zu beschäftigen – nur ausgerechnet heute nicht.«

»Weil du dich heute schon ausgiebig mit dem beschäftigt hast, was eine Frau zu bieten hat, richtig?«

Ella wünschte sich inständig, er würde ihr die Eifersucht nicht anhören. Es war lächerlich, die Frage nach seiner Gespielin auf eine solch schnippische Weise zu stellen, doch die Erinnerung an das Liebesmal an seinem Hals und den sinnlichen Duft, den er nach seiner Rückkehr an sich getragen hatte, raubte ihr jegliche Gelassenheit.

Zu ihrem Unglück entglitten Gabriel die Gesichtszüge, womit bewiesen war, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. »Es ist nicht so, wie du denkst«, brachte er mit rauer Stimme hervor.

»Wow, das ist doch die hochoffizielle Standardaussage von Kerlen, die gerade überführt worden sind, wenn mich nicht alles täuscht.«

Gabriel spannte den Kiefer an, bis sich Schatten unter seinen Wangenknochen

abzeichneten. »Du denkst, ich habe in der Stadt eine andere Frau, während wir uns

gleichzeitig näherkommen?«

Ohne nachzudenken, fiel Ella ihm ins Wort. » Näherkommen – das klingt so pathetisch. Wir flirten ja nicht einmal

ernst zu nehmend miteinander. Das, was wir machen, ist rein

unverbindliches Rumgeflachse, das in nichts münden wird. Wie in diesem Traum. Folgenlos, total unverbindlich.« Das war natürlich dummes Zeug, was sie von sich gab, aber sie fühlte sich plötzlich unerträglich ausgeliefert. Denn unabhängig davon, was für eine Erklärung Gabriel vorbrachte, ihre Reaktion hatte bereits offenbart, dass er ihr alles andere als gleichgültig war … während er sich mit anderen Frauen vergnügte, ohne einen Gedanken an sie zu verschwenden.

Ein Schatten schob sich vor Gabriels ohnehin graue Augen und verdunkelte sie. »Das war also alles rein unverbindlich zwischen uns. Tut mir leid, aber dann habe ich da etwas falsch eingeschätzt. Jedenfalls gibt es keine persönliche Beziehung zwischen mir und der Frau, die ich heute gevögelt habe. Aber das interessiert dich ja nicht.«

O doch. Es interessierte Ella so sehr, dass sich Gabriels ungewöhnlich derb formulierte Erklärung gleich einem Schlag in die Magengegend anfühlte. Sie bekam kaum Luft, während ihre Gedanken wie ein aufgeschreckter Vogelschwarm umherschwirrten und alles nur noch schlimmer machten. Gabriel dagegen war vollkommen kühl. Wenn da eben noch eine

Verbindung gewesen war, dann hatte sie sie mit ihrer Eifersuchtsattacke zerstört.

Verliebtsein hatte bislang auf ihrer persönlichen Empfindungsskala zwischen brennend heiß und eiskalt im unteren Mittelbereich rangiert. Verliebtsein war ihrer Erfahrung nach Schwärmerei, die sich genauso schnell zerschlug, wie sie entstand. Eher mit Neugierde und Lust, denn mit Hingabe verbunden. Mit solchen überwältigenden Gefühlen, die ihren Geist und Körper jetzt heimsuchten, bis sie kaum noch klar bei Verstand war, hätte Ella nie im Leben gerechnet. Vor allem, weil es ihr nicht bewusst gewesen war, dass sie dabei war, sich in Gabriel zu verlieben. Warum jetzt? Warum nicht, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte oder besser noch: während er etwas so Hinreißendes tat, dass sie gar nicht anders konnte, als sich in ihn zu verlieben. Stattdessen begriff sie ihre Gefühle für ihn in dem Moment, in dem er ihr gestand, mit einer anderen Frau zu schlafen. Ohne Liebe.

Gabriels Blick zielte knapp an ihr vorbei, auf den Teich in ihrem Rücken. Trotzdem glaubte sie Verletztheit hinter seiner distanzierten Maske zu erkennen. Konnte das sein? Ella setzte alles auf eine Karte, obwohl sie immer noch von ihren starken Gefühlen geschüttelt wurde.

»Es ist also keine Liebesbeziehung und auch keine stürmische Affäre? Nichts, wo Gefühle mit im Spiel sind?«

Gabriel zögerte, dann erwiderte er endlich ihren Blick. »Keine Gefühle, ganz bestimmt nicht.«

»Und warum schläfst du dann mit ihr, bis du anschließendvor Erschöpfung wie durchs

Wasser gezogen aussiehst?« Wenner jetzt sagt: »So bin ich eben. Ein verantwortungsloser Streuner, der sich von einem warmen Bett ins nächste treiben lässt. Was denkst du denn, warum ich mit dir flirte?«, dann fange ich an zu schreien, beschloss Ella.

Stattdessen gab Gabriel ihr eine Antwort, die ihr die Kraft für einen Schrei raubte. »Es hängt mit dem Inkubus zusammen.«

»Der Inkubus.«

Mehr brachte Ella nicht hervor. Die Furcht und das seltsame Kribbeln, das sie schon den ganzen Tag verspürte – bei jedem ihrer Versuche, den Gedanken an den Traumdämon zu

bannen –, sprengte sich einen Weg ins Freie. Es war zu viel. Die ganzen Geschehnisse, seit sie von dem Geräusch nackter Fußsohlen im Flur geweckt worden war, prasselten auf sie ein, und obenauf thronte der Inkubus, dieses fremde und so machtvolle Wesen, das sie nicht begriff.

Ella sackte vornüber und presste die Hände gegen die pochenden Schläfen.

Wäre Kimi doch nur nicht zu Bett gegangen!

Hätte sie bloß nicht so viel Unsinn von sich gegeben!

Würde Gabriel endlich etwas gegen den Druck unternehmen, der mit jeder Sekunde hinter ihrer Stirn zunahm? Schließlich war all das seine Schuld. Er hatte sie in dieses verfluchte Chaos gestürzt, bis nichts in ihrem Inneren mehr richtig funktionierte.

Obwohl Ella kaum den Boden unter den Füßen spürte, wollte sie nichts dringender, als weglaufen. Sie brauchte einen Platz, an dem sie sich verstecken konnte, bis der Irrsinn, von dem sie befallen war, abklang. Unsicher stand sie auf und stieß dabei mit Gabriel zusammen, der sich in diesem Moment zu ihr herunterbeugte. Mit einem leisen Schrei ließ sie sich auf den Stuhl zurückfallen, während Gabriel beschwichtigend die Hände hob.

»Keine Sorge, ich wollte nur … du sahst aus, als würdest du gleich zusammensacken. Du bist aschfahl im Gesicht. Ich habe dir eindeutig zu viel zugemutet, und jetzt komme ich noch mit so was an. Wie kann man nur so ein Idiot sein?«

Ella sah nur kurz zu ihm hoch, doch dieser eine Blick war schon zu viel. Sie konnte es kaum ertragen, wie atemberaubend schön er mit diesem besorgten Ausdruck auf seinen

Zügen war – trotz der Spuren von Erschöpfung und der Bartstoppeln. Dabei hatte sie

gedacht, dass es Gabriels sonniges Gemüt sei, das ihn so umwerfend aussehen ließ. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass dieser betretene und ungewohnt verletzliche Ausdruck ihn noch unwiderstehlicher machte.

Ich werde ihn nie wieder ansehen dürfen, sonst verliere ich vollkommen den Verstand. Was macht er bloß mit mir?

»Es tut mir leid, ich hätte den verfluchten Inkubus nicht erwähnen dürfen. Kein Wunder, dass du überfordert bist. Ich baue einen Mist nach dem anderen.« Gabriel ging in die Hocke und legte beide Arme auf die Stuhllehnen, sodass Ella wie von ihm umfangen war.

»Wenn es nur der Inkubus wäre, obwohl der allein ausreicht.«

Ellas Stimme machte Sprünge, als habe sie sich soeben die Seele aus dem Leib geweint.

»Ich wünsche mir mittlerweile inständig, es läge an dem Wissen, dass es ihn gibt, und ich mir deshalb selbst entgleite. Er sollte es sein, der mich in den Wahnsinn treibt, mich jede Sekunde beschäftigt, stattdessen zerbreche ich mir den Kopf, warum es so wehtut, dass du

…« Sie brach ab. Sie durfte kein Wort mehr sagen und vor allem nicht länger bleiben. Sie nahm alles, was sie an Selbstbeherrschung aufbringen konnte, zusammen und schob

Gabriel von sich weg.

Er wich zwar zurück, aber es war ihm anzumerken, dass er seine Arme lieber wie einen sicheren Schutzwall um sie liegen gelassen hätte. »Wenn es nicht allein am Inkubus liegt, dass du durcheinander bist, dann …«

»Ich kann jetzt nicht darüber reden. Bitte.«

Blindlings stürzte Ella davon.

Sie war nach Sandfern zurückgekehrt, damit der Zauber wieder in ihr Leben einzog, ohne den sie sich unvollständig fühlte. Doch anstelle eines verwunschenen Gartens hatte sie einen verwunschenen Prinzen gefunden. Und leider nahm er einfach keine Ähnlichkeit mit einem Frosch an, obwohl sie ihn bereits geküsst hatte. Märchen ließen sich eben nicht auf den Kopf stellen. Ihr Prinz war verwunschen, das musste sie akzeptieren.

Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
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