Kapitel 20

Der Moment des Erwachens

Ich stürze durch unzählige Schichten aus Silber und Glas. Sie zerschneiden mich, immer feiner, bis ich mich auflöse und durch den Spiegel auf der anderen Seite in die Nacht hinaustrete. Vor mir liegen unzählige Wege, aber nur wenige von ihnen münden in einem Traum, den zu besuchen es sich lohnt.

Für gewöhnlich wandle ich umher, lasse mich treiben und ziehen, bis ich auf einen vielversprechenden Weg stoße. Das ist meine Art: Ich lasse die Dinge geschehen, und deshalb geschehen mir jetzt Dinge.

Ich sollte nicht hier sein.

Im doppelten Sinn: nicht hier in dieser Welt, die mich vernichten wird. Und ich sollte nicht hier sein, weil ich gerade dabei bin, etwas zu tun, was ich mir selbst strikt untersagt habe.

Nicht bloß um meiner selbst willen.

Bevor ich die Dinge für mich ordnen kann, entdecke ich den Weg zu Ellas Traum. Den Traum, den ich insgeheim schon als »meinen« bezeichne. Aber nicht, weil ich ihn rauben will, so wie es mir dringlich ans Herz gelegt worden ist. Er gehört mir, so wie ich ihm gehöre. Ich könnte diesem Garten nicht fernbleiben, selbst wenn ich dafür in tausend Scherben zerspringe. Der herbe Duft von nächtlichem Unterholz steigt mir in die Nase, durchzogen von der Süße des in der Dunkelheit blühenden Jasmins. Sein schwerer Duft ist echt, deshalb ruft er keine schlimmen Erinnerungen wach. Nicht der Garten dieser Frau. Es stellt sich jedoch die Frage, ob sie mich überhaupt noch einlässt, denn es sind ihre Wünsche und Sehnsüchte, die den Traum bestimmen werden. Sie trifft die Entscheidungen, über den Garten und über mein Schicksal.

Darin liegt meine Hoffnung, und deshalb ist meine Furcht vor dem Scheitern so groß.

-

Das Zimmer, in dem der Labyrinthgang endete, war Gabriel vollkommen unbekannt. Zuerst dachte er, einen Trödelladen zu betreten, dann erst begriff er, dass die Besitzerin offenbar einen Sammeltick hatte. Auf dem Bett, über dem ein Baldachin aus bunten Tüchern

schwebte, schlief Ella an Noras Seite. Nora zusammengekrümmt wie ein Neugeborenes,

während Ella Gefahr lief, gleich über die Bettkante zu rutschen. Ihr Schlaf war von Unruhe geprägt. Gabriel wusste sofort, dass sie einen Angsttraum hatte. Nach allem, was sie heute über Träume und wer so alles in ihnen herumwanderte, erfahren hatte, war es ein Wunder, dass sie überhaupt eingeschlafen war. Andererseits hatte ihr der Tag große Anstrengungen abverlangt, vermutlich war sie vor Erschöpfung umgefallen, bevor sie auch nur einen

Gedanken daran verschwenden konnte, ob sie nicht ein Traumwandler oder sogar dessen

dämonischer Herrscher besuchen kommen

könnte. Dass Ella so mitgenommen und

verletzlich aussah, schmerzte Gabriel. Nachdenklich betrachtete er ihre mit Pflastern übersäten Fußsohlen.

Na, wenn ihre überstürzte Flucht mal nicht ein Kompliment für meine fantastische Wirkung auf Frauen ist, dann weiß ich auch nicht. Ich brauche mich Ella nur zu nähern, und schon verlässt sie Haus und Grund, um ins Asyl zu gehen, stellte Gabriel schonungslos sich selbst gegenüber fest.

Ella war also zu ihrer Freundin geflohen. Ob das nun gut oder schlecht war, konnte er nicht einschätzen. Er hatte Nora heute Nachmittag kaum beachtet, obwohl er einige Male ihren prüfenden Blick auf sich gespürt hatte. Unter anderen Umständen hätte er darauf getippt, dass sie ihn als Küstenjungen abcheckte. So ging es ihm seit Tagen, sobald er auch nur zum Bäcker ging. Eine Hosenanzugträgerin hatte ihn sogar mit einem maliziösen Lächeln gefragt, ob er nicht Interesse hätte, ihren Mercedes mal einer privaten Inspektion zu unterziehen. Er sei doch Finn, der Automechaniker, oder etwa nicht?

Bislang hatte Gabriel solche Erlebnisse mit einem Grinsen wegstecken können, doch

spätestens nach seinem Besuch bei Bernadette sah er das anders. Die Angelegenheit war nicht mehr witzig, und vermutlich sah das auch Ellas Freundin so. Eine Frau, die in den schweigsamen und düsteren Gregor verliebt war, würde Ella bestimmt von einem Kerl von seiner Sorte abraten, der Sandfern vollkommen unbekümmert seinen nackten Hintern

präsentierte. Und dabei ist das noch eine von meinen harmloseren Schnapsideen gewesen, schob er selbstquälerisch hinterher.

Gabriel löste sich vom Anblick der schlafenden Ella und wanderte durchs Zimmer, um sich wenigstens ansatzweise auf etwas zu konzentrieren, das nicht mit ihr zusammenhing.

Schließlich musste er herausfinden, was er hier eigentlich zu suchen hatte, obwohl Ellas Traum doch eine solche Gefahr für sie beide barg. Er hatte stundenlang darauf gewartet, dass sie in die Villa zurückkehrte, damit sie sich aussprechen konnten. Nur war Ella nicht zu ihm gekommen, während er es kaum ausgehalten hatte, von ihr getrennt zu sein. Schon in dem Moment, in dem sie sich von ihm abgewandt hatte, war ihm klar gewesen, dass die

Verbindung zu ihr sich nicht mehr ohne Weiteres kappen ließ. Weder von seinen Gefühlen her noch zu ihrem Traum, der ein ganz einiges Band zwischen ihnen geknüpft hatte. Selbst wenn er Sandfern für immer den Rücken kehrte, würde die Verbindung fortbestehen, um ihn Stunde um Stunde daran zu erinnern, dass er abermals etwas Unersetzliches verloren hatte.

Also war er auf dem einzigen Erfolg versprechenden Weg zu ihr gegangen: durch den

Spiegel.

Aufs Neue wanderte sein Blick zu Ella, obwohl das Zimmer randvoll mit Augenfängern war.

Ja, das war eine vollkommen neue Erfahrung für ihn. Noch nie hatte er auch nur annähernd ein solches Interesse an einer Frau an den Tag gelegt oder so eine Sehnsucht nach der Realität verspürt. Wann hatte er jemals in dieser Zwischenwelt verweilt, wenn sich ihm ein Traum anbot? Dennoch gab es in diesem Moment nichts Anziehenderes als die sich unruhig rekelnde Ella. Genau darin lag jedoch Gabriels unlösbares Problem, denn wenn er etwas für Ella empfand, musste er sich von ihr fernhalten. Er war zu einem Gefahrenquell für sie geworden, weil er sich trotz allem davor fürchtete, dem Druck nicht länger standzuhalten und der Versuchung letzten Endes doch noch zu erliegen, ganz gleich, wie fest er sich

vorgenommen hatte, dass dies niemals geschehen würde. Vor allem nach dem, was

Bernadette ihm offenbart hatte. Er brauchte für den fordernden Inkubus einen

außergewöhnlich starken Traum, wenn er überleben wollte. Und in all den Jahren, in denen er schon die Grenze zwischen den Welten durchschritt, hatte er keinen anderen gesehen, der an Ellas Traum heranreichte.

»Du bist die Lösung für mein Problem«, flüsterte Gabriel, als er sich neben die Schlafende vor das Bett kniete. »Wenn ich dich jetzt rufen würde, könnte ich morgen als freier Mann aufwachen. Aber wäre ich das wirklich? Ein freier Mann, der das Leben der Frau zerstört hat, die er … Nein, das kann ich nicht.«

Als lösten seine Worte ein Erdbeben aus, begannen die Wände um ihn herum zu wackeln, und er konnte die Erschütterungen bis in den tiefsten Winkel seines Selbst spüren. Dicke Adern aus Quecksilber liefen über das Orange der Wände, bis sich das Studentenzimmer in ein Spiegelkabinett verwandelt hatte.

Gabriel sprang hoch und wirbelte um die eigene Achse. Überall sah er nur sein Spiegelbild, trotzdem war ihm klar, dass dort hinter der hauchdünnen Glaswand ein anderer stand und lauerte.

Gabriel starrte in sein abgehetztes Gesicht, dann blickte er direkt in seine Augen, die mehr denn je zwei glatten Kieselsteinen ähnelten. Seine Augenfarbe war das einzig Unauffällige an seinem Erscheinungsbild und zugleich das Einzige, aus dem er sich etwas machte. Das bin ich, stellte er fest. Und so sollte es auch bleiben, verdammt. Niemand anders sollte sich länger hinter seinem Bild verbergen.

»Du kannst wieder gehen, dein Besuch ist reine Zeitverschwendung«, sagte er leise, erfüllt von der Furcht, Ella gegen seinen Willen zu rufen, nachdem sie das letzte Mal so stark auf seine Stimme reagiert hatte. »Ich werde mir diesen Traum unter keinen Umständen nehmen, aber ich werde zusehen, dass ich etwas anderes für dich finde. Alles, was ich brauche, ist etwas mehr Zeit.«

Erneut fuhr ein Beben durch die gläsernen Wände und drohte, sie zum Einsturz zu bringen.

Ein deutlicheres Nein hätte der Inkubus nicht hervorbringen können.

Ella stöhnte und warf sich im Bett herum, wobei ihr Handrücken in Noras Gesicht landete, die sich murmelnd beschwerte, ohne jedoch richtig aufzuwachen.

Mit einem Satz stand Gabriel vor der Wand und berührte sein Spiegelbild. »Bitte«, flüsterte er. »Ich kann ihren Traum nicht nehmen. Das würde mich auf eine andere Art zerbrechen als auf die, die du mir androhst. Die Nacht ist voller Träume, warum muss es ausgerechnet Ellas sein?«

Sein Gegenüber starrte ihn nur abwartend an.

Im Hintergrund des Spiegelbildes sah Gabriel, wie sich fingerdicke Risse in Ellas

schlafende Gestalt gruben, das Zimmer mit allem in ihm zerbarst und zu silbrigem Staub zerfiel. Ein unsichtbarer Finger schrieb hinein:

Beeil dich. Ansonsten hole ich mir den Garten und alles, was in ihm ist, gleich dazu. Nur wird dann nicht mehr von ihm übrig bleiben als das.

Ein plötzlicher Windstoß zerstob den Silberstaub und ließ nichts als Leere zurück.

Obwohl Gabriel wusste, dass es nur eine Illusion war, die ihm der Spiegel zeigte, begriff er die Drohung allzu gut. Aber auch die Chance, die ihm geboten wurde. Entschlossen trat er in den Spiegel, auf den Schock des Schmerzes gefasst, der ihn jedes Mal überkam, wenn er die Grenze passierte und das Gefühl hatte, durch unzählige Schichten von Glas zu fallen.

Diese Nacht war für ihn verloren. Aber in einer der nächsten würde er fündig werden müssen, ansonsten würde der Hunger des Inkubus weit mehr als nur ihn verschlingen.

Als Gabriel durch den Spiegel ins Dachzimmer der alten Villa zurückkehrte, war ihm eiskalt.

Am ganzen Körper geschüttelt, beobachtete er, wie das Spiegelglas im Rahmen schmolz, als wäre es Eis in der Sonne. Dann kehrte er seiner Pforte in die Träume der Menschen den Rücken zu. Etwas, das er schon sehr viel früher hätte tun sollen. Jetzt war es zu spät.

Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
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