Kapitel 27

Willkommen im Paradies

Etwas krabbelte über ihren Rücken. Eine Berührung, so hauchzart wie

Spinnenbeine.

Ellas Muskeln zurrten zusammen, als ihr bewusst wurde, dass es tatsächlich Spinnenbeine waren. Igitt!

Schlagartig hellwach, richtete sie sich auf und stieß dabei mit dem Kopf beinahe an die Decke. Wobei die Decke das Innere des umgestürzten hohlen Baums war. Und sie fühlte

sich so weich gebettet, weil sie auf Gabriel lag, der sie verschlafen anblinzelte.

»Guten Morgen«, murmelte er mit rauer Stimme.

Ja, richtig. Es war Morgen. Einzelne Sonnenstrahlen ertasteten den dampfenden

Waldboden vor ihrem Unterschlupf, und die Vögel trällerten mit einer Inbrunst, dass es einem Rätsel gleichkam, warum Ella erst jetzt aufgewacht war.Vermutlich, weil sie so einmalig gut gebettet lag. Sie kuschelte sich wieder an Gabriels Brust, der jedoch unter ihrem Gewicht zusammenfuhr.

»Tut mir leid, aber da bohrt sich etwas in meinen Rücken. Eine Wurzel oder so«, erklärte er entschuldigend.

Ella ließ sich zur Seite gleiten und musste schmunzeln, als Gabriel einen daumendicken Ast unter sich hervorzog und ihn ungläubig anstarrte.

»Ich muss geschlafen haben wie ein Toter.«

»Na ja, nachdem du dich letzte Nacht komplett verausgabt hast, ist das doch kein

Wunder.«

»So verausgabt nun auch wieder nicht«, relativierte er umgehend und streichelte über ihr Schlüsselbein. Seit wann war ihr Schlüsselbein bloß so überaus empfänglich für

Berührungen?

Bevor Ella Gefahr lief, unter Gabriels Liebkosungen den roten Faden zu verlieren,

schnappte sie sich seine Hand und drückte ihr einen Kuss auf. »Wir sollten zusehen, dass wir zurück ins Haus kommen. Der Waldboden ist nicht gerade der richtige Untergrund für das, was dir offenbar als Gutenmorgengruß im Sinn steht. Wenn ich mich nicht täusche, habe ich ohnehin schon ein paar Schürfwunden, und in meinem Rücken steckt mindestens ein Splitter.«

Gabriel ließ seinen Daumen über ihre Lippen tanzen. »Schürfwunden habe ich auch. Ich fühle mich sogar, als hätte mir jemand die Haut mit einer feinen Scherbe abgezogen. Das kommt wohl von dem ganzen Kontakt mit dem Waldboden. Aber ich glaube, ich kann dafür sorgen, dass wir beide das ganz schnell vergessen.« Ohne große Gegenwehr zu erfahren, drehte er Ella auf den Bauch und hinterließ eine Spur von Küssen auf ihrer Wirbelsäule, bis er plötzlich mit einem verhaltenen Lachen innehielt.

»Was ist so komisch?«, fragte Ella ein wenig betreten wegen der Unterbrechung.

»Da sind tatsächlich Schrammen an deinen Schulterblättern. Aber eigentlich wundere ich mich mehr darüber, dass du dieses süße Kleid immer noch anhast. Hätte eher darauf getippt, dass ich es dir vom Leib gerissen habe und die Fetzen jetzt sämtliche Vogelnester in Sandfern schmücken. Dass ich gar nicht so weit gekommen bin, ist mir im Eifer des Gefechts irgendwie entgangen.«

Verblüfft sah Ella an sich hinab. Um ihre Mitte wand sich das Kleid tatsächlich wie eine Schärpe. Eine ordentlich zerknautschte Schärpe. »Das kommt also dabei heraus, wenn man seine Sinne nicht mehr beisammenhat. Da wird man noch nicht einmal richtig nackig

gemacht.«

Gabriel lachte. »So ein Hauch von Anstand ist doch nicht verkehrt. Du bist sozusagen immer noch halb angezogen. Und wie gesagt: Dieses Kleid steht dir wirklich gut.«

Das mochte ja sein, trotzdem! Ella kletterte über Gabriel hinweg ins Freie, damit sie genug Platz hatte, um das Kleid abzustreifen. Gabriel folgte ihr, wobei er sie von Kopf bis Fuß betrachtete. Soll mir recht sein, solange mein Anblick bei ihm solche Reaktionen hervorruft, dachte Ella und lächelte ihn an. Dabei machte sie nach einer wilden Nacht sicherlich nicht einmal halb so viel her wie Gabriel, der trotz seiner verwuschelten Haare und der vom Schlaf verquollenen Lider wie das blühende Leben aussah. Nicht einmal die vielen hauchfeinen Schnitte überall auf seinem Körper änderten etwas daran. Ella stutzte. Wie hatte er sich bloß so viele Wunden zugezogen – Äste hin, Steinspitzen her? Dagegen war ihr wunder Rücken ein Klacks. Dann schob sie diese Überlegungen beiseite. Gabriel war glücklich, er strahlte regelrecht, als habe er sämtliche Zweifel und Ängste, die ihn am Abend zuvor beinahe von ihr fortgetrieben hatten, restlos abgeworfen.

Was gestern geschehen war oder in welch erbärmlichem Zustand sie beide nach zu viel

Tuchfühlung mit dem Waldboden waren, war jetzt jedoch nebensächlich. Denn Ella fühlte sich absolut wohl in Gabriels Gegenwart, aufgehoben und geliebt. Geliebt … sie fühlte sich tatsächlich von ihm geliebt. Bei der Erkenntnis, die sich aufgetan hatte, zuckte sie zusammen.

»Ist dir kalt?«, fragte Gabriel und legte die Arme um sie.

Ella schüttelte den Kopf, nutzte allerdings die Gelegenheit, um sich an ihn zu schmiegen.

Der herbe Geruch, den seine Haut verströmte, zählte unleugbar zur Gattung körpereigene Droge. Wie konnte ein Mann nur so überwältigend gut riechen?

»Wie wir beide hier zwischen den Bäumen stehen, hat schon was von Adam und Eva. Nur

nicht ganz so unschuldig«, flüsterte Gabriel in ihr Haar.

Ella konnte nicht anders, sie musste einfach Gabriels Brust küssen, um den Beweis zu erbringen, dass er auch genauso gut schmeckte, wie er roch. Ganz haute der Vergleich jedoch nicht hin, denn er schmeckte eindeutig besser. Er schmeckte so fantastisch, dass sie gar nicht wieder damit aufhören konnte, ihn mit dem Mund zu erforschen. Liebevoll ging sie auf Kundschaft, wobei sie die feinen Schnitte mit ihrer Zungenspitze umtanzte.

»Ella, wenn du dir nicht noch ein paar zusätzliche Splitter zuziehen möchtest, dann solltest du besser damit aufhören. Ansonsten garantiere ich für nichts.«

Mit einiger Mühe murmelte Ella etwas, das nach »Ja, richtig, ich höre schon auf« klingen sollte, in Wirklichkeit jedoch nur unverständliches Gebrumme war. Mit geöffneten Lippen und einer viel beschäftigten Zunge lässt sich eben nur undeutlich sprechen. Sie nahm sich fest vor, gleich von ihm abzulassen, aber vorher musste sie auch den Geschmack seines Bauchs überprüfen. Seines vor Erregung angespannten Bauchs.

Gabriel brauchte zwei Anläufe, um einen Satz hervorzubringen. »Splitter und … oh …

verschrammte Knie und … oh, mein Gott.«

Worauf sich »oh, mein Gott« bezog, erschloss sich nicht ganz, aber darüber konnte Ella jetzt genauso wenig nachdenken wie über die spitzen Steinchen, die sie in die Knie pieksten.

Sie hatte nämlich gerade eine Stelle an Gabriel entdeckt, die ihre gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.

-

Die gläsernen Türen des Esszimmers waren aufgeschoben, und davor stand ein mächtiger Ledersessel. Dort saß Nicki, ineine Decke gehüllt, und beobachtete den Garten mit einem Opernglas, als handelte es sich um eine Theaterbühne, auf der ein spektakuläres Stück gegeben wurde. Dabei waren es nur Ella und Gabriel, die barfuß den Weg entlangkamen.

Als Gabriel Nickis breites Grinsen sah, konnte er sich einen Kommentar nicht verkneifen:

»Wir zwei müssen wirklich ein Bild für die Götter abgeben.«

Ella zuckte verlegen mit der Schulter. Sie trug das heillos zerknautschte Kleid und darüber Gabriels T-Shirt, das sie durch einen Knoten auf Höhe der Hüfte irgendwie salonfähig zu stylen versucht hatte, was ihr jedoch nur ansatzweise gelungen war. Vor allem ihr zerwühltes Haar und die immer noch geröteten Wangen machten ihr zweifelsohne einen Strich durch die Rechnung. Diese Mischung aus Verlegenheit und die unzähligen Hinweise an ihrem

Erscheinungsbild darauf, wie sie die Nacht verbracht hatten, sorgten dafür, dass Gabriel am liebsten sofort wieder mit ihr zwischen den Bäumen verschwunden wäre.

»Was denkst du, wird deine Freundin wohl zu deiner Aufmachung sagen?«

»Ach, weißt du … solange du mit nacktem Oberkörper neben mir hergehst, brauche ich mir keine Sorgen zu machen, dass ich angestarrt werde. Nicki wird nur Augen für dich haben, und das kann ich ihr nicht einmal verübeln.« Ella betrachtete aus den Augenwinkeln seine zerschundene Haut. Gabriel konnte sich beim besten Willen nicht erklären, woher die

unzähligen Schnitte stammten. Die Wunden brannten leicht, besonders da, wo sie mit Ellas Mund in Kontakt gekommen waren. »Es wird sicherlich Vermutungen hageln, warum du so

zerkratzt aussiehst. Nicki wird uns die wildesten Praktiken unterstellen. Obwohl … ich behaupte dann einfach, dass ich dich schon in diesem Zustand bekommen habe. Dann bin ich aus dem Schneider, und du kannst ihr allein Rede und Antwort stehen.«

Zuerst wollte Gabriel sie necken, indem er unter diesen Umständen sein T-Shirt

zurückforderte, aber am Ende wäre sie darauf eingegangen, und das durfte auf keinen Fall geschehen. So gern er Ella in dem Kleid sah, das sich in seinen Augen inzwischen in ein verführerisches Dessous verwandelt hatte, noch lieber sah er sie in einem seiner

Kleidungsstücke. Das war zwar eindeutig die Haltung eines Teenagers, der trotz Frost im Pulli herumlief, bloß damit seine Angebetete seine Jacke trug, aber sie erfüllte Gabriel dennoch mit Stolz. Ganz gleich, was noch kommen mochte, die Frau, die seine Hand hielt, gehörte zu ihm, wenigstens diesen einen perfekten Morgen lang.

»Na, ihr beiden Frühaufsteher! Und ich dachte schon, ich sei die Einzige, die es toll findet, die Vögel am Morgen zu beobachten«, begrüßte Nicki sie. Sie legte das Opernglas beiseite und streckte sich ausgiebig. »Dieser Sessel ist wirklich mordsgemütlich, aber zum Schlafen echt nicht dasWahre.«

»Der ist doch auch viel zu klein, du hättest das Sofa nehmen sollen.« Dankbar für die Chance,Anspielungen auf ihr morgendliches Treiben ausbremsen zu können, eilte Ella über die Terrasse, ohne jedoch Gabriels Hand loszulassen, wie dieser glücklich feststellte.

Tatsächlich stieg ihm diese harmlose Verbindung zwischen ihnen wie Brausepulver in den Kopf. »Du bist bestimmt komplett verspannt, du Arme. Kimi hätte sich besser um dich

kümmern sollen.«

Nicki winkte ab. »Der war nach dem gestrigen Regenguss dermaßen durchgefroren, dass

er erst einmal ein heißes Bad nehmen wollte. Ist ja nichts dran an dem Burschen, der fängt bei ein paar Tropfen sofort an zu schlottern. Danach wollten wir noch ’ne Runde quatschen.

Tja, aber dann bin ich wohl eingepennt, und er hat mich bestimmt nicht mehr wach

bekommen. Ich schlafe nämlich wie ein Stein. Euch war nach dem Regen aber nicht kalt, oder?«

»Nicht im Geringsten, wir hatten es richtig gemütlich unter den Bäumen«, gab Gabriel freimütig zu.

»Dass es gemütlich war, nehme ich euch nicht ab. Ihr seht zwar glücklich, aber auch ganz schön ramponiert aus. Du übrigens ganz besonders, Seite-drei-Kollege. Ist das Gehölz daran schuld, oder hat Ella dich zum Frühstück fast aufgefressen?«

»Nicht nur fast, sondern … Autsch.« Ellas Ellbogen hatte sich zwischen seine Rippen

gebohrt.

»Bei dem ganzen Gerede über Frühstück bekomme ich Hunger.« Ella klang wie die

Unschuld in Person. »Wie sieht es bei dir aus, Nicki?«

»Nee, bloß nicht. Ich bin noch von dem großen Fressen pappsatt. Die Kalorienzufuhr reicht für die nächsten Tage. Außerdem habe ich das Gefühl, dass Gabriel gern mit dir allein frühstücken würde. Oder sollte ich besser sagen: dass er dich frühstücken will?«

»Da ist was dran. Soll ich dir noch rasch helfen, deine Sachen einzusammeln? Nicht, dass du noch Hunger bekommst, wenn wir erst einmal anfangen, während du noch nach deiner

Salatschale suchst.«

Rasch brachte Gabriel sich außer Reichweite von Ellas Ellbogen, was sie mit einem

Schnaufen quittierte. Mittlerweile zeigte ihr Gesicht Ähnlichkeit mit einer überreifen Tomate, doch Gabriel fand das niedlich, besonders da Ella sich ansonsten so betont entspannt gab.

Wenn sie jetzt etwas aus dem Gleichgewicht geriet, machte sie das nur noch reizvoller.

Nicki hatte sich offenbar genug auf ihre Kosten amüsiert. »So, ich zockle dann mal ab.

Meine Salatschale nehme ich ein anderes Mal mit. Gib Kimi einen Knutscher von mir und sag ihm, dass ich ihn total anbete. Außerdem soll er gleich morgen bei mir im Nagelstudio aufschlagen, dann probieren wir das mit den Blutstropfen auf schwarzem Lack aus. Geile Idee von ihm.« Nicki gab Ella Küsse auf die Wangen und verabschiedete sich von Gabriel, indem sie über seinen Oberarm strich. »Eigentlich hasse ich dich ja dafür, dass dein Foto mehr Aufmerksamkeit als meins erregt hat, aber bei dir ist wenigstens alles echt. Viel Spaß am Kühlschrank. Probiert doch mal den Eiswürfeltrick aus, der macht wenigstens nicht dick.«

Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
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