Kapitel 9
Meine Nacht, dein Traum
Wie jedes Mal durchfährt mich ein scharfer Schnitt beim Überschreiten der
Grenze zwischen Wachen und Träumen. Als würde ich mich dabei an einem unsichtbaren Splitter schneiden, der in mir stecken bleibt, solange ich mich in dieser Zwischenwelt aufhalte. Das Verrückte daran ist, dass sich der Schmerz richtig anfühlt, weil ichmich dann vollständig fühle, ohne es recht zu begreifen. Kaum lasseich das Gängelabyrinth der Grenze hinter mir, verschwindet der Splitter, als hätte es ihn nie gegeben. Oder als müsste ich ihn zurücklassen, um den vor mir liegenden Weg in die Träume einzuschlagen. Den Weg in verborgene Reiche, die zu betreten mir eigentlich nicht zusteht. Weil sie den Menschen gehören, die sie jede Nacht aufs Neue erschaffen. Ich sollte ein schlechtes Gewissen haben, sogar ein verdammt schlechtes, aber darin bin ich nicht sonderlich gut.
Von allen Seiten locken mich die Stimmen der Träumenden. Sie ahnen nicht, dass sie damit eine Einladung aussprechen. Aber wie sollten sie auch? Kaum jemand ahnt, dass es Traumwandler wie mich gibt.
Heute fällt es mir überraschend leicht, die Stimmen an mir abprallen zu lassen, obwohl ich mich ansonsten auf alles stürze, was auch nur ansatzweise Befriedigung verspricht. Jetzt interessieren mich diese Träume nicht, ganz gleich, was sie zu bieten haben. Mein Ziel steht bereits fest.
-
Obwohl es tiefe Nacht war, hatte die Wärme nur unmerklich nachgelassen, und die Luft war durchdrungen von Feuchtigkeit und Salz. Unten in der Bucht leckten die Wellen träge über die Hafeneinlassung und den Strand. Das gewöhnliche Grollen des Wassers, das man an
vielen Tagen bis zum Hügel hörte, war jetzt nicht mehr als ein unterschwelliges, geradezu hypnotisierendes Tönen.
Auf diese Stunden hatte Gabriel gewartet.
Den Weg zu diesem Traum zu finden, war ein Kinderspiel gewesen. Kein einziges
Hindernis hatte sich ihm in den Weg gestellt. Es war fast wie in der realen Welt gewesen, in der die Eingangstür der Villa ebenfalls weit aufgestanden hatte, um ihn einzulassen.
Eben noch lief er, leise vor sich hin summend, durch einen dunklen Gang des Labyrinths, und im nächsten Moment schon verwandelte dieser sich in den Flur im Obergeschoss der alten Villa. Er ließ sich Zeit damit, die Stimmungen des
alten Gebäudes in sich
aufzunehmen, den Geschichten nachzuhängen, von denen es in dieser Zwischenwelt
erzählte. All die längst verblassten Träume, denen hier einst nachgehangen worden war.
Immer wieder blickte er auf seine nackten Füße, die den Boden berührten und doch kein Geräusch verursachten. Betrachtete seine ausgestreckte Hand, auf deren Rücken sich ein feiner Schweißfilm abzeichnete, der das einfallende Mondlicht jedoch nicht reflektierte, als wäre er nicht mehr als eine Schimäre oder ein umherhuschender Schatten.
Aber er war da.
Und er sah alles.
Fühlte es.
Da, hinter der verschlossenen Tür der frisch bezogenen Schlafkammer, pochte das Herz dieses Hauses. Eine Lichtquelle der ganz besonderen Art, die ihn anlockte. Ja, er konnte dem feinen Strahlen, das durch die Türritzen und durch das Schloss drang, nicht
widerstehen. Obwohl er vielleicht widerstehen sollte … Dieser Gedanke kratzte unentwegt an Gabriel, seit er sich zu diesem Besuch entschlossen hatte. Die Ahnung, dass es verkehrt war, in einen solchen Traum einzudringen, sondern ihn so zu belassen, wie er war, nämlich ein in sich geschlossenes Universum. Natürlich war das Unsinn. Er würde ein Fremdkörper sein, das stimmte. Aber ganz gewiss keiner, der einen ernst zu nehmenden Schaden
anrichtete. Ein Traum, der so leuchtend strahlte, dass man es sogar am helllichten Tag noch wahrnehmen konnte, war schließlich kein fragiles Gebilde. Er zerbrach nicht gleich, nur weil man sich ihn ein wenig ansah … und mehr zu tun, hatte Gabriel ja keineswegs vor.
Zumindest versprach er sich das, als er den kunstvoll verzierten Türgriff herunterdrückte und in die Kammer trat.
Ella schlief bäuchlings auf einer Picknickdecke am Boden, wie ein liebevoll angerichteter Mitternachtshappen. Das Laken, das als Decke diente, hatte sie wegen der Wärme längst beiseitegestrampelt. Sie lag in einem Trägershirt und einem Slip da, auf dessen Rückseite ein Comic-Bunny bis über beide Ohren grinste.
Ohne Zögern ging Gabriel neben der Decke auf die Knie und streichelte ihr über das Haar, das an der Schläfe leicht verschwitzt war. Dann sah er sich ihren Traum an.
Ein Dachboden, gegen dessen Luke dicke Regentropfen prallen. Es ist die Melodie eines lustigen Liedes. Ein Mädchen, dem das dunkle Haar über die Schultern fällt, dreht sich in einem viel zu großen Abendkleid um die eigene Achse. Ich muss lachen, und es klingt wie schillernde Tropfen, die emporfliegen. Hoch hinauf, immer weiter …
Wechsel.
Viele Schafe stampfen mit ohrenbetäubendem Getöse über vertrocknetes Land. Ein Ruf erschallt aus weiter Ferne. Nein, es ist ein Donner, der bloß wie eine Männerstimme klingt.
Papa sagt, ich soll zu ihm kommen. Ganz schnell. Ich laufe … tapp tapp. Der Boden bricht.
Gabriel zog die Hand wieder zurück, und augenblicklich versiegte der Ansturm von
Eindrücken, die das schlafende Ich der jungen Frau durchspielte.
»Ella, du hast lang genug von vergangenen Dingen geträumt. Jetzt komm zu mir«, forderte er mit leiser Stimme.
Tatsächlich setzte Ella sich auf. Zumindest ein Teil von ihr. Der andere blieb auf der Picknickdecke liegen. Sie ignorierte Gabriels angebotene Hand und stand allein auf. Nach ausgiebigem Recken und Strecken blinzelte sie ihn verschlafen an.
»Ich werde gar nicht richtig wach. Die Hitze macht mich fertig.«
»Lust auf einen Spaziergang?«
»Ja.«
Einen Augenblick verharrte Ella, als hätte sie bereits vergessen, was Gabriel
vorgeschlagen hatte. Dann machte sie kehrt und ging geradewegs durch die Hauswand ins Freie, um schwerelos und mit schnellen Schritten in den Garten zu sinken.
Gabriel trat ans Fenster und beobachtete, wie sich der Garten, den er sich bei seinem ersten Besuch nur flüchtig angesehen hatte, veränderte. Während Ella sich ihm näherte, begann er zu wachsen. Dabei dehnte er nicht nur seine Grenzen aus, indem er wucherte, sich verdichtete und verwandelte, sondern wurde wortwörtlich »mehr«, denn es tauchten Geschöpfe auf, die keine reale Welt beheimatete. Ihr Konzert drang bis in die Schlafkammer, und Gabriel verspürte augenblicklich den Wunsch herauszufinden, wer diese eine Melodie summte, die aus der allgemeinen Symphonie herausstach. Für einige Herzschläge stand
ihm das Bild von einem Weiher vor Augen, versteckt zwischen Bäumen, umringt von
Binsengrün und Findlingen. Jemand saß dort und sang nur für sich … Bevor er dem
Geheimnis jedoch auf die Spur kam, wurde er bereits von einer schier überwältigenden Farbenvielfalt abgelenkt. Zwischen den Blumen und Blättern entstand plötzlich ein tiefes Glühen, das alles erleuchtete. Und auf einmal sah der Garten so aus wie das Traumgebilde aus Blattwerk und Blumen, das Ella in sich trug. Es war ein eigener Kosmos, der einen Sog auf ihn auszuüben begann. Er wollte nichts lieber, als diesem Verlangen nachgeben und in Ellas Traum eintauchen. An ihrer Seite.
Während dieses Reich mit jedem weiteren Schritt von Ella gedieh, war es eigentlich
höchste Zeit für Gabriel, ihr zu folgen, wenn er in ihrem Schatten diese Welt erkunden wollte.
Stattdessen trat er nur höchst widerwillig auf den halbrunden Balkon der Kammer. Seit Ella sich ihrem Gartentraum zugewandt hatte, baute sich in seiner Brust ein Druck auf, als wäre ein Gong in ihm geschlagen worden, dessen Hallen nun gegen seine Innenwände dröhnte
und keinen Ausgang fand. Mittlerweile kannte er diesen Druck allzu gut, und nur mit großer Mühe hatte er ihn bislang besänftigen können. Wenn ihm dieses Kunststück nicht umgehend ein weiteres Mal gelänge, würde er zerbrechen wie eine hohle Figur. Dazu brauchte er Ellas Garten, um sich zu füllen mit dem, was dieser zu bieten hatte. Den Zauber nehmen, der in einem solchen Übermaß existierte, dass er es selbst bei Tage gespürt hatte.
Einen schmerzlichen Moment hielt Gabriel noch inne, dann sprang er mit einem unerwartet lauten Klirren auf die Terrasse. Als wäre ein gläserner Gegenstand auf die Sandsteinplatten gefallen.
»Herrgott, ich folge ihr ja schon!«
Ella war bereits in Richtung der Bäume verschwunden. Nur noch einen Augenblick, dann würde er sie zwischen dem Gewirr aus Dickicht und Stämmen verlieren, und ob er ihr dann noch folgen konnte, war fraglich. Doch als er einen Fuß vor den anderen setzte, erklang ein Knall, der das Klirren um ein Vielfaches übertrumpfte. Trotzdem durfte er nicht stehen bleiben, sondern musste schleunigst zu ihr aufschließen. Mit größter Anstrengung widerstand er dem Verlangen, seine Fäuste gegen seine bebenden Schläfen zu pressen, denn auf
diese Weise war ihm ohnehin nicht zu helfen. Er musste zu Ella und mit ihr in den Garten.
Nur das und nichts anderes würde Linderung bringen. Sein nächster Schritt löste jedoch beinahe ein Erdbeben aus. Panisch blickte er auf denBoden, der unter seinen Füßen von einem zerborstenenNetz durchzogen war.
Wie ein zu Boden gefallener Spiegel.
Zögernd hielt Ella inne, als der Lärm, den er verursachte, sie erreichte. Ihre Erscheinung flackerte. Sie drehte sich um … und in dem Moment, als sich ihre Blicke kreuzten, ließ der Druck in Gabriel unvermutet nach. Obwohl er den Garten nicht einmal annähernd erreicht hatte. Verblüfftblinzelte er.
Als er wieder aufsah, war Ella verschwunden, und an ihrer Stelle zeichnete sich ein
Sonnenaufgang am Himmel ab, der den Garten in ein flammendes Rot tauchte. Gabriel
versuchte noch zu begreifen, was geschehen war, aber dann leckte die Hitze des
anbrechenden Tages über seine Wangen, und er wendete sich ab.