Kapitel 28

Zerplatzende Seifenblasen

In der Küche standen die Fenster weit offen und ließen den würzigen Duft von

regennasser Erde hinein. Das asthmatische Schnauben des Kühlschranks und das

Vogelgezwitscher bildeten eine Geräuschkulisse, die nicht besser hätte sein können. Alles deutete darauf hin, dass der wunderbare Sommermorgen noch lange nicht zu Ende war.

Während Ella sich an der Spüle ein Glas Wasser einschenkte und in langen Zügen trank, überließ Gabriel sich der Atmosphäre. Die Worte lazy days umschwirrten ihn und riefen Bilder hervor, in denen er mit Ella auf einer Decke im Garten lag, die Zeit vergaß und mit offenen Augen in die Sonne blickte, bis er ganz geblendet war. Für einige Herzschläge lang sah er nur das weiß-gelbe Flirren, die Strahlenpunkte auf der Netzhaut, dann blinzelte er sie weg.

Ella lächelte ihn an, die Oberlippe feucht vom Trinken.

»Du hast da wirklich eine ganz besondere Tour drauf, wenn du andere Menschen

loswerden möchtest. Nicki fand das eben auch noch charmant, wie du sie nach Hause

geschickt hast. Du brauchst nur zu lächeln, und schon flutscht es. Einfach unglaublich.«

»Ich und Nicki nach Hause geschickt? Meinst du nicht eher, dass ich ihr bei ihrer

Entscheidung einfach nur auf die Sprünge geholfen habe?« Gabriel versuchte sich an einem Lächeln. Nur sah Ella nicht so aus, als würde sie ihm dadurch augenblicklich zu Füßen liegen. Stattdessen erwiderte sie es vielmehr ein wenig abschätzig.

»Du hast natürlich recht. Nicki hat das so gewollt, klar. Mein lieber Gabriel, du solltest dein Jurastudium vergessen und Vertreter werden. Mit dieser Überzeugungstechnik verkaufst du garantiert Unmengen von Staubsaugern an gutgläubige Menschen.« Ella schlug sich gegen die Stirn. »Na, so was! Ich habe soeben das Problem deiner beruflichen Zukunft gelöst. Du wirst Vertreter. Damit wäre das schon einmal erledigt, und du kannst den Rest des Sommers mit mir vertrödeln.«

Ella wartete auf sein Lachen oder zumindest auf eine scharfzüngige Erwiderung. Aber

Gabriel war wieder in den Bann des flirrenden Sommerlichts geraten, das genauso funkelte wie der Schlagabtausch zwischen ihnen. Mit einer Handgeste bat er um Auszeit und

durchsuchte die Playlist der Anlage nach einem alten Album von k. d. lang. Dabei konnte er sich kaum noch an die Musik erinnern, nur an das Cover mit dem sonnendurchfluteten Bild.

Ella lehnte sich gegen ihn, als wären sie zwei Hälften eines Ganzen. Wortlos tippte sie ein Stück aus dem Album an –

The consequences of falling. Als k. d. lang mit ihrer

eindrucksvollen Stimme zu singen begann, wünschte Gabriel sich sehnlicher als je zuvor, die Zeit anhalten zu können. Der Moment war so absurd schön, dass es wehtat.

Are you dreaming what I’m dreaming?

Are your wishes the same as mine?

Ellas Finger suchten seine Hand, doch er zog sie fort. Es war einfach zu viel. Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet die Realität ihm ein derartig intensives Gefühl bereiten würde?

Eine solche Empfindung hatte ihm kein einziger Traum je geschenkt.

»Ich … Warum ziehst du dich vor mir zurück?«, fragte Ella verunsichert.

Gabriel hätte in diesem Augenblick alles dafür gegeben, sich ihr zu erklären oder sie zumindest mit ein paar Worten zu beruhigen. Aber es war unmöglich, seine Kehle war wie zugeschnürt. Wenn er einen Wunsch frei hätte, dann sollte dieser Sommermorgen niemals enden. Dann würde er für immer den Geschmack auf Ellas nass schimmernder Lippe

erkunden, beobachten, wie die Sonnenstrahlen auf dem Steinboden der Küche tanzten, und die sich langsam ausbreitende Wärme auf seiner Haut spüren. Nun schlich sich eine

Veränderung ein und verfälschte den Moment. Es lag an ihm, wie er bedrückt feststellte. Das, was es brauchte, um diesen Moment zu erhalten, entzog sich ihm. Da war eine Leerstelle, die er nicht benennen konnte, aber er wusste, es hing mit seinem Traum zusammen, den er gegen die Eintrittskarte ins Reich des Inkubus vergeben hatte. Ein Reich,das ihm in diesem Moment mit einem Schlag schal und unbedeutsam erschien. Aber solange er nicht wusste, was ihm fehlte, durfte er seinen Gefühlen für Ella nicht über den Weg trauen.

Diese Erkenntnis veränderte etwas in Gabriel. Es kam ihm vor, als wäre er nicht mehr als eine Hülle aus Glas, die jeden Augenblick zerspringen konnte. Er war gläsern, unecht und selbst die Empfindungen, die Ella in ihm wachrief, änderten nichts daran. Das, was es brauchte, um ihn vor dem Zerfallen zu schützen, war verkauft und damit für ihn außer Reichweite. Seine Liebe zu Ella geriet außer Reichweite.

Es dauerte mehrere schmerzhafte Atemzüge, bis Gabriel den Druck auf seiner Kehle so

weit gelockert hatte, dass ersprechen konnte. »Wir beide sollten über die Zukunft reden.«

Ella biss sich auf die Unterlippe, fast als wisse sie nicht recht, ob er sie vielleicht bloß aufziehen wollte. »Meinst du das jetzt ernst, oder treibst du unsere Kabbelei bloß auf die Spitze, indem du sagst: Nach der letzten Nacht könnten wir jetzt eigentlich auch heiraten?«

Nichts wünschte Gabriel sich mehr, als den Schlagabtausch fortzuführen und einander zum Lachen und zum Erröten zu bringen, nur unterbrochen von jenen Momenten, wenn sie auf diese ganz besondere Art schwiegen. So sollte es eigentlich sein mit Ella: leicht und verspielt, liebevoll und stürmisch zugleich. Aber dabei konnte er es nicht belassen, gleichgültig, wie sehr er sich danach sehnte.

»Es ist mir ernst. Ich habe es gestern Abend schon angedeutet: Ich habe ein Problem, für das ich möglichst bald eine Lösung finden muss«, fing Gabriel zögernd an. »Das heißt, vielleicht habe ich sie sogar schon gefunden, aber sie würde ein hohes Risiko bedeuten. Und selbst wenn es klappt, wäre anschließend alles anders. Tut mir leid, dass ich gerade jetzt damit herausrücke. Andererseits ist es vielleicht auch genau der richtige Zeitpunkt, denn so hatten wir wenigstens die letzte Nacht.«

»Du klingst, als wolltest du dich verabschieden. Gabriel, sag mir jetzt sofort, dass du nicht vorhast, vor mir davonzulaufen.«

»Ich will nicht vor dir davonlaufen, sondern diese eine Sache in Ordnung bringen.«

»Erzähl mir von dieser Sache. Und da wir schon einmal dabei sind, auch gleich von dieser Frau, bei der Liv dich gesehen hat. Welche Macht hat die über dich?«

Gabriel schlug die Hände vors Gesicht. Eine unbewusste Schutzreaktion. Um Ella nicht länger ansehen zu müssen … damit Ella ihn nicht länger ansehen konnte.

Dabei hatte er gedacht, nach seinem gestrigen Eingeständnis, Bernadettes Hilfe zu

benötigen, würde es leichter werden. Aber so war es nicht, wie er feststellte. Im Gegenteil: Es fühlte sich jetzt, nachdem er mit Ella geschlafen hatte, noch viel schlimmer an. Das kam also dabei heraus, wenn man die Gegenwart verließ, um sich mit der Vergangenheit oder der Zukunft auseinanderzusetzen: nichts als Kummer und Schande. Von dem verliebten,

unbeschwerten Mann, der er vor ein paar Minuten noch gewesen war, war nichts übrig

geblieben.

Ella griff vorsichtig nach seinen Händen und zog sie von seinem Gesicht. Sie sagte nichts, sondern stand regungslos vor ihm. Nein, nicht regungslos. In ihren Augen konnte er eine Flut an Gefühlen erkennen, allen voranSorge und die schwer zu bezähmende Ungeduld, weil er sich ihr nicht öffnete. Typisch Ella, vermutlich würde sie voller Eifer sein Problem für ihn lösen, wenn er sie nur ließe. Da kannte er diese Frau erst seit einigen Wochen und konnte trotzdem bereits in ihr lesen, als hätten sie ihr halbes Leben miteinander verbracht. Ein Leben im hellen Tageslicht, aber genau das würde er nun voraussichtlich für immer verlassen müssen. Für sich selbst empfand er kein Mitleid, aber er befürchtete, dadurch auch Ellas Welt in eine nasskalte zu verwandeln. Genau das durfte nicht geschehen. Nur wie er das anstellen sollte, war ihm ein Rätsel. Wohin erauch blickte, er verletzte sie: Wenn er länger zögerte, würde er sterben. Wenn er ihren Traum als Lohn für den Inkubus nahm, würde

etwas in ihr sterben. Und wenn es ihm gelänge, in den Träumen weiterzuleben, würde es Begegnungen wie diese nicht mehr geben. Es war zum Verzweifeln.

Immer noch gab Ella ihm die Chance, seine Entscheidung, ob er ihr seine Geschichte

erzählen wollte oder nicht, allein zu treffen. Das leichte Beben ihrer Hände, die auf seinen lagen, verriet allerdings, wie viel Kraft sie ihre Zurückhaltung kostete.

Dann traf er seine Entscheidung: Sie vertraute ihm, und deshalb vertraute er sich ebenfalls.

»Der Inkubus fordert einen weiteren Traum von mir für seine Dienste, andernfalls wird er mich früher oder später stellen und vernichten. Leider kann ich nicht aufhören, seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Darum muss ich auf die andere Seite der Nacht wechseln, sie ist zu einem Teil von mir geworden. Ich wandle durch fremde Träume und berausche mich an

ihnen, befriedige meine Orientierungslosigkeit, bilde mir ein, lebendig und ruhiggestellt zu sein. Nur gerade jetzt, da die Forderung des Inkubus mich das eine oder andere Mal fast das Leben gekostet hätte, stelle ich fest, dass mich die Träume überhaupt nicht mehr

interessieren. Ich will hier sein, in der Realität, bei dir.«

»Kannst du dich aus dem Handel mit dem Inkubus denn nicht herauskaufen?«, wisperte

Ella.

Gabriel schüttelte den Kopf. »Ich befürchte, das geht nicht. Der Inkubus ist kein Mensch, sondern ein Dämon. Ein Dämon, der sich von unseren Träumen ernährt. Sie sind alles, was für ihn von Bedeutung ist. Jede Nacht streckt er seine Krallen nach ihnen aus, versucht, sie zu ergreifen. Aber er kann nur um sie herumschleichen, als wären sie eine von diesen Schneekugeln. Er kann diese Kugel schütteln, alles durcheinanderwirbeln und sein Antlitz durch das Glas zeigen. Trotzdem steht er außerhalb des Traums, seine größte Sehnsucht kann er nicht allein befriedigen. Dazu braucht er einen Menschen, der ihn in einen Traum einlässt, der ihm diesen Traum sogar überlässt, um selbst aufWanderschaft gehen zu

können. Verstehst du? Dieser Dämon will nur eins von mir: einen Traum, und zwar einen außergewöhnlichen, einen, der komplex genug ist, dass er nicht unter der Last des Inkubus zerbricht. Wenn ich ihm das nicht geben kann, bin ich für ihn wertlos und damit tot.«

Sämtliches Leben wich aus Ellas Gesicht, und Gabriel hasste sich dafür. »Dann gib ihm doch einen Traum! Mach, dass der Inkubus zufrieden ist.«

»Unmöglich. Ich kann nicht einfach in den Traum eines anderen Menschen hineinspazieren und ihn mir nehmen. Das könnte ich mir niemals verzeihen.«

»Tu gefälligst nicht so scheinheilig, das hast du doch längst getan!«

Kimis Anklage zerriss die letzten Reste des Sommermorgens.

Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
titlepage.xhtml
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_000.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_001.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_002.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_003.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_004.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_005.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_006.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_007.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_008.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_009.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_010.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_011.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_012.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_013.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_014.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_015.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_016.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_017.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_018.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_019.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_020.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_021.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_022.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_023.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_024.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_025.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_026.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_027.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_028.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_029.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_030.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_031.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_032.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_033.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_034.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_035.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_036.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_037.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_038.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_039.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_040.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_041.html
Damonen-Reihe_Bd._4_Traumsplitt_split_042.html