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Sie hatten beschlossen, Astrids Schwangerschaft erst einmal geheimzuhalten, und über die letzten Vorbereitungen für Donnerstag kamen sie beide auch nicht dazu, sehr intensiv darüber nachzudenken. Nur manchmal tauschten sie einen besonderen Blick, aber das schien niemandem aufzufallen.

Am Dienstag erklärte Toppe der Familie, daß ihr Telefonanschluß ab heute für jedes Privatgespräch gesperrt war. Oliver tobte, denn für gewöhnlich telefonierte er täglich stundenlang mit Steffi, meistens schon bevor er zur Schule fuhr, dann noch einmal, wenn er von der Schule nach Hause kam, und am längsten, wenn sie sich gerade getroffen und ausgiebig verabschiedet hatten. Nachdem er eine Weile rumgebrüllt hatte, besann er sich und versuchte zu verhandeln: wenigstens eine halbe Stunde am Tag. Aber Toppe ließ sich auf nichts ein. Bei ihm würden ab jetzt alle Information eingehen, und er würde sie weiterleiten.

Abends lösten sie das letzte große Problem: Wie sollten sie sich im Haus Schmithausen verständigen? Das 2-Meter-Band kam nicht in Frage, denn auf dieser Funkfrequenz konnte sich Eulenspiegel, wenn er zur Polizei gehörte, jederzeit einklinken.

Karin hatte einen alten Kontakt aufgewärmt und über den WDR sechs Knopfmikrofone und die entsprechenden Knöpfe fürs Ohr besorgt. »Ich weiß nur nicht, wie man die Anlage bedient.«

»Dat übernehm’ ich«, bot Ackermann sofort an. »In so wat is’ mein Neffe firm. Der zeicht mir dat.«

Jetzt konnten sie nur noch warten.

Am Mittwoch riefen zwei Reporter von lokalen Käseblättchen bei Postma-Lowenstijn an. Sie wollten Vorabinterviews, ließen sich aber problemlos auf einen Termin nach der Veranstaltung vertrösten. Karin überprüfte die beiden trotzdem – sie waren sauber. Es klappte alles wie am Schnürchen.

Am Donnerstag um zwanzig vor zwölf meldete sich Lowenstijn wieder. »Gerade hat einer von dem Magazin für Eisenbahnfreunde aus Hannover angerufen. Ein Herr Frisch. Er will das Interview unbedingt heute abend um 18.30 Uhr, da er schon eine Stunde später einen anderen Termin am Bahnhof in Kranenburg hat. Ich habe zugestimmt. Um 18.30 Uhr im Biedermeierzimmer. Bist du wieder fit? Kannst du gehen?«

»Ganz gut schon wieder.«

Toppe leitete den Anruf sofort weiter, und schon zehn Minuten später rief Karin Hetzel zurück. Sie brauchte es nicht auszusprechen, er hörte es an ihrer Stimme, als sie sich meldete. »Er hat angebissen! Dieser abgezockte Kerl! Es gibt tatsächlich einen Redakteur Frisch bei dem Magazin – den muß er aus dem Impressum haben – aber der hatte noch nie von Kleve gehört, geschweige denn von Postma.«

Sie hatten ihn an der Angel. Wenn jetzt keiner einen Fehler machte.

Das erweiterte K 1 traf um 16.30 Uhr in Schmithausen ein, um 17 Uhr rückte Flintrop mit seiner Mannschaft an, wenig später die vier Gastgeber vom Heimat- und Verkehrsverein.

Daniel Baldwin würde um 18.25 Uhr ganz standesgemäß im Jaguar vorfahren.

Klaus van Gemmern war müde, und eigentlich hatte er längst Feierabend, aber er haßte es, wenn Dinge halbfertig liegenblieben. Also hatte er seinen Abschlußbericht zum Postraub in Nütterden noch diktiert und ging jetzt zum Schrank, um die Asservate herauszunehmen und wegzuschließen: den großen Beutel mit den drei Rollen Isolierband aus Tripps und Bäckers Wohnung und den kleineren mit dem dicken Knäuel Isoband, das sie in Nütterden nach dem Raub sichergestellt hatten.

Später konnte er nicht mehr sagen, was ihn veranlaßt hatte, die Tüten mit den Asservaten vom Attentat auf Geldek zu öffnen. Das gab’s doch nicht!

Dann betrachtete er Birkenhauers »Halsband« – genauso!

Das war doch niemals das gleiche Isoband wie beim Postraub!

Auf den ersten flüchtigen Blick vielleicht, aber wenn man es ins Licht hielt, sah man deutlich, daß der Braunton eine Spur heller, das Band sogar ein wenig schmaler war.

So unfähig konnte doch nicht einmal Rother sein!

Weil van Gemmern ein gründlicher Mensch war, begnügte er sich nicht mit dem Augenschein, sondern untersuchte verschiedene Proben unter dem Mikroskop. Das Resultat hätte eindeutiger nicht sein können. Er schüttelte den Kopf. Was war das für eine Sauerei?

Obwohl er die Ergebnisse schon kannte, überprüfte er noch einmal Rothers Berichte und die Analysen vom BKA: Alle bescheinigten, daß es sich bei dem Raub und bei den Attentaten um identisches Material gehandelt hatte.

Irgend jemand mußte die Proben hier im Labor ausgetauscht haben!

Wer? Und wie konnte das passieren? Die Labortür wurde immer sorgfältig verschlossen, wenn sie nicht da waren. Ob Rother es hin und wieder vergessen hatte? Er war abends ja oft der letzte gewesen, weil er so ehrgeizig darauf bedacht war, möglichst perfekt zu werden.

Van Gemmern wählte Rothers Privatnummer, erreichte aber nur dessen Frau. »Mein Mann ist in seinem Entwicklungslabor.«

»Dann geben Sie mir doch die Telefonnummer, bitte.«

»Tut mir sehr leid, aber er hat dort keinen Anschluß. Das würde ihn zu sehr von der Arbeit ablenken. Und sein Handy liegt hier. Das hat er wohl nicht mitgenommen.«

Dann mußte er eben zum Technologiezentrum fahren. Van Gemmern schloß das Labor ab und machte sich auf den Weg.

Um 18.15 Uhr nahmen Toppe und Lowenstijn ihre Positionen hinter den Vorhängen ein. Heinrichs ging hinauf in den großen Saal, Astrid postierte sich auf dem ersten Treppenabsatz, von wo aus sie beide Stockwerke im Blick hatte. Ackermann bediente die Mikrofonanlage von einem Holzverschlag unter der Treppe im Erdgeschoß aus. Von hier konnte er gleichzeitig den Eingang im Auge behalten. »Soundscheck«, hatten alle plötzlich seine Stimme im Ohr.

Im Technologiezentrum wurde um diese Zeit offenbar nicht mehr sehr intensiv gearbeitet. Nur hinter zwei Fenstern brannte Licht.

Van Gemmern ging auf das nächstgelegene zu und tickte mit dem Autoschlüssel gegen die Scheibe.

Nach ein paar Sekunden teilten sich die Lamellen der Jalousie, und ein Männergesicht erschien.

»Kripo«, rief van Gemmern. Das Gesicht verschwand. Wenig später kam der Mann nach draußen.

»Kripo? Habe ich das richtig verstanden?«

»Ja, van Gemmern. Eigentlich brauche ich nur eine Auskunft. Ich suche Dr. Rother. Wo hat der sein Labor?«

»Dr. Dr. Rother, meinen Sie wohl«, antwortete der Mann und grinste gemein. »Den habe ich seit Wochen hier nicht mehr gesehen. Leider! Wir warten nämlich darauf, daß der endlich seinen Krempel aus der Halle räumt.«

Um 18.28 Uhr hörten sie Ackermanns Stimme: »Daniel ist gerade vorgefahren.«

Dann kam Baldwin ins Biedermeierzimmer geschlendert, lässig beide Hände in den Hosentaschen. Langsam wanderte er an der Wand entlang und betrachtete die Gemälde. Kein einziges Mal sah er zu den Vorhängen hin. Er war wirklich gut. Das Bild, das zwischen den beiden Fenstern hing, schien ihn ganz besonders zu fesseln.

Da hörten sie Ackermann fassungslos keuchen. Dann sein heiseres: »Achtung!«

»Dieser tolle Doktor hat doch hier längst schon seine Kündigung gekriegt«, erklärte der Mann van Gemmern. »Was der nicht alles erzählt hat von verbesserter Lasertechnik und verschiedenen Oberflächen und Zusammenarbeit mit der DFG. Alles nur heiße Luft. Wollen Sie sich das angebliche Labor mal ansehen? Ich habe den Schlüssel.«

Van Gemmern staunte: In der Halle stand praktisch nichts; ein gekachelter Tisch mit einem steinalten Laser, eine Kabeltrommel. Alles war dick verstaubt, auch der Fußboden. Eine Trittstraße führte zu einem Kabuff rechts hinten. »Ist das sein Büro?«

»Wenn Sie es so nennen wollen. Sie können da ruhig rein. Habe ich keine Probleme mit. Der Kerl ist für mich sowieso gestorben.«

Auch im Büro gab es nicht viel zu sehen. Ein leerer Schreibtisch, zwei Regalbretter. Auf dem einen standen, sicher in vierzigfacher Ausführung, Rothers Dissertationen. Auf dem anderen ein paar Aktenordner. Van Gemmern nahm den ersten, der mit Korrespondenz gekennzeichnet war, heraus: Bettelbriefe an den Forschungsminister, an das Wirtschaftsministerium, an verschiedene Forschungsgesellschaften, blumige Beschreibungen seines »Projekts«, knappe Absagen, Formbriefe.

Der Mann redete immer noch ohne Punkt und Komma, aber van Gemmern hörte nur mit halbem Ohr hin. »Zuerst hat Rother mir ja noch leid getan. Der hat ja wirklich mal was auf dem Kasten gehabt. Zwanzig Jahre lang sein Lebenswerk aufgebaut, ein AKW, das nicht in Betrieb genommen wurde. Und dann durfte er das Ding auch noch über Jahre wieder abbauen. Der hat gut und gerne dreißig Jahre hart gearbeitet, sein ganzes Arbeitsleben – an … nichts. Wie gesagt, anfangs hat er mir noch leid getan, aber jetzt? Der ist total bekloppt, wenn Sie mich fragen.«

Van Gemmern schlug den nächsten Ordner auf: aufgeklebte Zeitungsartikel, sorgfältig in Prospekthüllen gepackt. Er blätterte müßig, bis er auf den großen Artikel über Helmut Toppe, den alten Hasen, stieß. Erst dann blätterte er zurück und fand sie alle: Birkenhauer, Geldek, Glöckner, Bergfeld – und wieder Toppe.

Er drückte dem verblüfften Mann den Ordner in die Hand und sprintete zu seinem Auto.

Lautlos betrat er den Raum.

Baldwin betrachtete das Gemälde zwischen den Fenstern.

Schritt für Schritt kam er näher. Als er die Hand mit dem weißen Lappen hob, schlug Toppe den Vorhang zur Seite.

»Guten Abend, Herr Rother.«

Da war kein Schrecken, nicht einmal Überraschung in seinem Gesicht. Bedächtig fuhr seine rechte Hand in den grauen Mantel, zog die Pistole hervor. Seine Augen waren ausdruckslos, als er anlegte. Er lächelte.

Toppe zog seine Waffe, aber da fiel schon der Schuß.

Rother sackte zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Sein Mantel war aufgeklappt. In beiden Innentaschen steckten rote Lackpumps.

Das Loch in seiner Brust war ungewöhnlich groß. Er atmete nicht.

Baldwin schüttelte bekümmert den Kopf, aber Wim Lowenstijn zuckte nur kurz mit den Schultern, schraubte den Schalldämpfer ab und steckte seine Waffe wieder ein.

Ackermann erschien in der Tür, dann Astrid.

Im Saal brandete Beifall auf. Der Vorsitzende hatte die Veranstaltung eröffnet.

Daniel Baldwin rückte seine Krawatte zurecht und knöpfte das Jackett zu. Dann stieg er über Rothers Körper hinweg und ging gemessenen Schrittes zur Tür und die Treppe hinauf.

Oben im Saal wurde es still, und jeder hörte ihn: »Meine liebe Freunde, verehrte Herrschaften. Ick weiß, meine Duits ist nickt perfekt, aber ick bin sicher, wir können entlang kommen …«